Architektur im Zeitalter des Wegwerfens: Warum wir umdenken müssen

Gebäude rinnen duech Sanduhr

Kehrtwende ist notwendig: Bestandserhaltung statt Neubau. Das Haus wieder als Objekt langer Lebensdauer begreifen.

Der Schriftsteller Erich Kästner prägte 1931 in seinem Roman Fabian den Sinnspruch: "Es gibt nichts Gutes, außer: man tut es". Da ist viel dran. Aber die Meinungen darüber, was gut sei, oder noch besser, gehen oft auseinander.

Beispielsweise bei der Frage der Haltbarkeit: Eine jahrzehntelang praktizierte Obsoleszenz von Produkten und eine weit verbreitete Wegwerfmentalität haben weltweit zu massiven Problemen geführt. Das Bauwesen macht dabei keine Ausnahme. Auch hier befördern fehlende Haltbarkeit und Reparaturfähigkeit letztlich Abriss und inflationären Neubau.

Lebensspanne und Architektur

Doch seinem Wesen nach ist Architektur ein Langfristprodukt. Die Generation ihrer Erbauer rechnet in der Regel damit, dass ihre Lebensspanne kleiner sein wird als jene der Bauwerke.

Allerdings hat man in den Zeiten des Wirtschaftsbooms der 1950-70er Jahre und unter Rückgriff auf die von der klassischen Moderne vorgedachten Positionen – der Übertragung der Prinzipien der Serienproduktion von den Industrieprodukten auf das Bauwesen – das Haus als Objekt langer Lebensdauer gewissermaßen schon aufgegeben.

Die Tatsache, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts unsere Bauten noch immer eine durchschnittliche Lebensdauer von 80 bis 100 Jahren besitzen, entspricht wahrscheinlich einem zähen, unbewussten kollektiven Festhalten an traditionellen Denkweisen gegen die Theoriebildung der Zeit.

Die Architektur hat daher mit zwei merkwürdig kontroversen Phänomenen zu rechnen: Zum einen dem Fortwirken traditioneller Leitbilder – wie ein Haus auszusehen hat etwa, oder was ein Wohnzimmer zu bieten haben soll. Zum anderen dem Umstand, dass viele Bauentscheidungen nicht von Sinnfälligkeit, Vernunft und langfristiger Wirtschaftlichkeit abhängen, sondern von Moden, Zeitgeschmack und immer noch: von Fortschrittshoffnungen.

Der Philosoph Odo Marquart führt in diesem Zusammenhang aus:

Je mehr aus Innovation Innovationsüberlastung wird, braucht es eine eigene und sozusagen zweite Anstrengung, um – nun nicht mehr als Renaissance, sondern immer stärker als Kompensation – die nötige Kontinuitätskultur zu leisten.

Darum wird gegenwärtig zwar mehr weggeworfen als je zuvor, aber es wird gegenwärtig auch mehr respektvoll aufbewahrt als je zuvor: das Zeitalter der Entsorgungsdeponien ist zugleich das Zeitalter der Verehrungsdeponien, der Museen, der konservatorischen Maßnahmen, der Hermeneutik als Altbausanierung im Reiche des Geistes, der Bewahrungskultur des historischen Sinns, der Erinnerung.

Beobachtungen in der DDR

Eigentlich sind die Auswirkungen einer Baupolitik, die sich konsequent von der Bestandserhaltung entfernte und auf den Ersatz durch Neubau zielte, in der untergegangenen DDR zu beobachten.

Wertvolle und reparaturfähige Altbaubestände waren nach 40 Jahren teilweise unrettbar zerstört; andererseits weisen auch viele der nicht sachgerecht und dauerhaft erstellten "Ersatzneubauten" heute schwer zu beseitigende Schäden auf – eine ökonomisch und ökologisch schwerwiegende Hypothek.

Die großen Herausforderungen liegen nun ohnedies nicht mehr in der vergleichsweise einfachen Sanierung der älteren, "gutmütigen" Bestände (etwa aus der Gründerzeit), sondern in der Reparatur und Ertüchtigung der großen Baumassen der Nachkriegszeit.

Verschiedene Studien zur Auswertung der Umweltbelastungen haben ja gezeigt, dass nicht die Vorkriegsbaubestände besonders auffällig oder problematisch sind, sondern vor allem das, was im Bauwirtschaftsboom hochgezogen wurde.

Trend zum Wegwerfprodukt

Es wirkt, als sei der Trend zum Wegwerfprodukt dem Bauwesen inhärent. Trotz der systembedingt langen Verweildauer der Materialien im Baubestand werden gegenwärtig die Zeitkonstanten der Lebenserwartung von Bauten und Anlagen tendenziell ständig kürzer.

Ursächlich dafür sind oft neue Architekturmoden und veränderte Wünsche nach Komfort und luxuriöser Ausstattung. Demgegenüber lenkt der Stadt- und Architekturhistoriker Vittorio M. Lampugnani den Blick auf bauliche Konstellationen, die Jahrhunderte und Jahrtausende fortbestanden haben, weil sie derart gut seien, dass sie kaum verbessert werden können:

Die Grundlösungen, die der Auslese des historischen Darwinismus widerstanden haben, sind nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Handwerks des Entwurfs im engeren Sinn die besten, weil sie leicht umzusetzen, weil sie widerstandsfähig sind und gut funktionieren. Sie sind auch die vertrautesten und daher die verständlichsten, und zwar weil sie ununterbrochen wiederholt worden sind.

Was für Bewertungen nötig ist

Allerdings: Im Bauwesen sind begründete Abwägungen für eine Politik langer Fristen und nachhaltiger Entwicklung nur möglich mit einer sehr gründlichen Kenntnis des sehr komplexen Gebäudebestands und der Dynamik seiner Entwicklung.

Bewertungen einzelner Objekte und ihrer Perspektiven sind nur sinnvoll im Bezugsrahmen des Baubestands: dieser Referenzrahmen erlaubt es, Nutzen und Gefahren neuer Projekte abzuwägen im Hinblick auf eine wünschenswerte Gesamtentwicklung.

Wie erschreckend lückenhaft und inkonsistent allerdings die vorhandenen Daten zum Gesamtbestand bisher sind, ist – gelinde gesagt – überraschend. Durch die föderale Struktur und die teilweise sehr unterschiedlichen Erfassungstraditionen (auch zwischen Ost und West) besitzen die statistischen Landes- und Bundesämter keine konsistenten Daten zum Alter, zur Nutzung und der Größe des vorhandenen Gebäudebestandes.

Politik der langen Fristen

Dessen ungeachtet: Nicht der kurzfristige Effekt oder der schnelle (Amortisations-)Zyklus sollten der Maßstab sein, vielmehr die Langfristigkeit als Leitbild formuliert werden. Eine Politik der langen Fristen würde konsequenterweise die Verknüpfung einer sehr eingeschränkten und intelligenten Neubaupolitik mit einem klugen Bestandsmanagement fordern.

Nur knapp über ein Prozent des vorhandenen Gebäudebestandes entsteht jährlich neu. Von dem Baubestand, der im Jahr 2045 genutzt werden kann, existieren gegenwärtig also schon rund 80 Prozent. Jede Politik eines umfassenden Stoffstrom- und Energiemanagements wird ihre entscheidenden Einflussgrößen daher in einem intelligenten Management des Bestandes suchen.

Die Optimierung von Neubaustrategien wird nicht ausreichend sein als Grundlage eines verantwortlichen Wirtschaftens – auch deshalb, weil wir mit Neubau- und Ersatzstrategien eben nur immer einen verschwindend kleinen Teilbereich beeinflussen können.

Option Erhalt muss geprüft werden

Ganz dezidiert sind beispielsweise Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal der Auffassung, dass auch bei Gebäuden, denen kaum jemand eine Träne nachweinen würde, die Option Erhalt geprüft werden muss. Ihr Pariser Architekturbüro liefert seit vielen Jahren Lehrstunden, wie aus sozialen Brennpunkten mit schäbigen Hochhäusern Vorzeigenachbarschaften mit begehrten Wohnungen werden.

Mit lichten Fassaden aus Wintergärten und dezenten Eingriffen in die Grundrisse und die Substanz verwandeln sie Schreckenssymbole des anonymen Wohnens in helle, luftige Residenzen. Beispiele, die mit überschaubaren Kosten und spürbaren sozialem Effekt Verbesserungen im Bestand zeigen.

Erfolgreiche Strategie

Ähnliche Strategien verfolgt das Kollektiv Assemble; in Liverpool bauten die Architekten eine dem Abriss geweihte Zeile von verfallenden Arbeiterhäusern so um, dass dort einer der schönsten neuen "Community Rooms" entstand.

Viele Häuser wurden mit flexibleren Grundrissen renoviert, eines der alten Häuser wurde komplett entkernt, bis es wie eine große Halle wirkte, und mit einem Glasdach überbaut, unter dem sich nun eine Art Dschungel befindet, in dem man Tische aufstellen und witterungsunabhängig gemeinsam im Grünen feiern kann. Die Einwohner haben nun das, was hier immer fehlte – einen öffentlichen Gemeinschaftsort.

Je länger wir erhalten, auf einen desto längeren Zeitraum von Nutzungsjahren verteilt sich die Umweltbelastung. Und das adressiert ganz spezifisch das Metier der Architektur: Als produktionstechnisches, aber auch als ästhetisches Leitbild suggerieren Perfektion und Präzision des Maschinenproduktes über ein bloßes Funktionieren hinaus den Zwang zum makellosen Neuigkeitswert, der jeden material-, nutzungs- oder witterungsbedingten Alterungsprozess als Beeinträchtigungen empfinden lässt. "Neuheit" und nicht "Erneuerung" ist der Inbegriff der Konsumkultur.

Allein, Gebäude gibt es überall – große und kleine, hässliche und schöne, ambitionierte und langweilige. Wir bewegen uns zwischen lauter Gebäuden und wohnen in ihnen, sind aber weitgehend passive Bewohnerinnen und Bewohner unserer Städte mit all ihren Türmen, Häusern, Freiflächen und Geschäften, zu deren Gestaltung wir nichts beigetragen haben.

Erhalten und Umbauen ist das Gebot der Zeit

Doch sind wir ihr bestes Publikum. Eigentümer, Kundinnen und Anwohner kommen und gehen, aber die Architektur bleibt bestehen. Sie spielt auch dann noch eine Rolle im Leben der Stadt und ihrer Bürger, wenn die ursprünglichen Akteure längst nicht mehr da sind. Doch ein Altern mit Würde, so diagnostizierte der Architekturkritiker Wolfgang Pehnt bereits Ende der 1970er Jahre, sei für Schöpfungen moderner Bauproduktion nicht mehr möglich.

Erhalten und Umbauen ist das Gebot der Zeit. Ob dies tatsächlich eine radikale Neuausrichtung der gesamten Architektur bedeutet, sei dahingestellt. Sollte man doch wissen, dass vieles weit weniger radikal und neu ist als man gemeinhin denkt. Fast alles wurde bereits früher gedacht oder getan, wenn auch (selbstverständlich) unter anderen historischen Bedingungen.

Geht man davon aus, dass Architektur nicht die Gesellschaft ändern kann, sondern nur einer sich ändernden Gesellschaft Kraft und Möglichkeiten geben kann, sich ihrer selbst zu vergewissern, hieße es erst einmal, nach einem tragfähigen Narrativ zu suchen und dafür dort hinzusehen, wo es sich wie verortet.

Dabei spielt longue durée eine zentrale Rolle. Denn der Paradigmenwechsel zurück zum Ideal der Langfristigkeit ist nicht nur im Gebrauchsgüterbereich notwendig, sondern auch aus einem ganzheitlichen Anspruch heraus. Für die Architektur hieße das durchaus weitere technische Innovation, aber eben auch ein Prüfen der Möglichkeiten, Aufwand zu vermeiden.

Vielleicht bedeutet diese Weichenstellung, dass wir das kulturelle und materielle Kapital der gebauten Geschichte als nicht reproduzierbare Ressource neu verstehen lernen.

Und dass es gelingt, die ökonomische und ökologische Vernunft einer möglichst langanhaltenden Nutzung des bereits Vorhandenen ernsthaft in praktisches Handeln umzusetzen. Oder anders ausgedrückt: Eigentümer, Kundinnen und Anwohner kommen und gehen, aber die Architektur bleibt bestehen.