Megastrukturen: Vom utopischen Traum zum modernen Stadtbau
Megastrukturen faszinierten Architekten der 60er. Heute erleben visionäre Großprojekte ein Comeback. Doch können sie unsere Städte wirklich verbessern?
Mit einer Mischung aus Faszination und Befremden blicken wir heute auf die visionären Stadtentwürfe der Nachkriegsmoderne. Bei aller Unterschiedlichkeit in Konzeption und Formensprache erscheinen sie uns vom gleichen, ungebrochen optimistischen Geist getragen, der für das Jahrzehnt zwischen 1960 und 1970 so bezeichnend war: technologieaffin, fortschrittsgläubig und megaloman.
Megastrukturen der Nachkriegsmoderne: Faszination und Befremden
Und obwohl gerade einmal ein halbes Jahrhundert alt, muten die Collagen, Modelle und Zeichnungen von utopischer Architektur, Popkultur, künstlerischen Strategien und situationistischer Rebellion wie Relikte einer fernen Zeit an, die wir halb skeptisch, halb neidisch um ihre von Fragen nach Maßstäblichkeit, Nachhaltigkeit oder sogar Realisierbarkeit unbeschwerte Kreativität bestaunen.
Das modernistische Raumschiff des ICC in Berlin etwa, das technoide Aachener Klinikum oder das Centre Pompidou in Paris. Die Metastadt Wulfen, das seinerzeit medial gefeierte Projekt des Architekten Richard J. Dietrich, wurde bereits 1987 wieder abgerissen. Und dass aus der Brückenstadt, die der deutsche Raumpionier Eckhard Schulze-Fielitz 1963 über den Ärmelkanal bauen wollte, nichts geworden ist, muss man kaum bedauern.
Centre Pompidou und andere gebaute Megastrukturen
Doch nun sind sie wieder da, die gebauten Megastrukturen. Nicht nur Ørestad in Kopenhagens Süden, das etwa mit den Mountain Dwellings aufwartet: Im Wortsinne ein Wohnberg, der sich über eine Fläche von 33.000 Quadratmetern aufspannt, und dessen Apartments sich, von unten nach oben gegeneinander jeweils leicht zurückversetzt, geschossweise hoch stapeln.
In der Schweiz erfreut sich der Wohnblock einer neuen, ungeahnten Beliebtheit: Große und kompakte Volumina aus Beton, so massiv wie kantig, zu sehen etwa in Neu-Oerlikon im Norden Zürichs. Oder IJburg, jener neu entstehende Stadtteil im Osten von Amsterdam, der auf sieben künstlich aufgespülten Sandinseln alsbald 48.000 Menschen eine neue Heimat bietet – in typisch niederländischer Manier: Dicht an dicht, uniform und nur bedingt individuell.
Renaissance der Megastruktur: Mehr als nur Bauformen
Freilich beschränkt sich diese Renaissance nicht auf Bauformen; auch die zugrundeliegenden sozialen Ideen scheinen wieder zu keimen. Es wirkt, als seien sie wieder en vogue: Visionäre architektonische Konzepte, monumental durch schiere Größe, mit der sich die Gebäude von der Umgebung abheben, mit starken Strukturen und optisch suggerierter Erweiterbarkeit.
Und augenscheinlich bestrebt, einer (spät)modernen Gesellschaft adäquat Ausdruck zu verleihen. Dergleichen hatte Fumihiko Maki, führender Kopf der japanischen Metabolisten, bereits 1964 mit programmatischem Anspruch verkündet:
Die Megastruktur ist ein großes Raumtragwerk, das eine Stadt oder einen Teil einer Stadt beherbergt. Dies wird ermöglicht durch aktuelle Technologie. In diesem Sinne ist sie ein von Menschenhand geschaffener Teil der Landschaft. Sie ist wie der große Hügel, auf dem die italienischen Städte errichtet werden.
Dass die Baugeschichtsschreibung der 1950er- bis 1970er-Jahre neu gelesen werden muss, weil sie erneut Wirkung entfaltet, liegt eigentlich nahe: Weil sie der Debatte über den Wert utopischer Entwürfe für die künftige Architektur und Stadtentwicklung neue Nahrung könnte.
Denn damals wie heute emanzipiert sich eine Generation durch den dezidierten Willen zur ausdrucksstarken Form vom Erbe der Vergangenheit. Zwar müssen es ja nicht unbedingt maßstablose Wohnmaschinen inmitten historischer Stadtstrukturen sein, die Fortschrittsglauben und Aufbruchstimmung repräsentieren. Aber Technikbegeisterung, Mächtigkeit und Serienproduktion sind auch heute wieder entscheidende Motive.
Insbesondere das Konzept von Bigness hat sich offenkundig in vielen Köpfen festgesetzt: die Vorstellung, unter den Bedingungen moderner Stadtentwicklung könne nur das sehr große, komplexe Projekt genügend Kraft entwickeln, um Weichen zu stellen, neue räumliche Ordnungen zu etablieren und Orte zu markieren.
Bigness als Schlüsselkonzept moderner Stadtentwicklung
Geprägt wurde diese Vorstellung von Rem Koolhaas, dem nimmermüden Stichwortgeber und Theorielieferanten. Er hatte formuliert, allein Bigness verfüge über die Fähigkeit, das Problem zu lösen; sie sei der Bahnbrecher für ein Regime der Komplexität, das die geballte Intelligenz der Architektur und der ihr verwandten Disziplinen zu mobilisieren vermag. Und da dieser Eindruck heute so viel Überzeugungskraft entwickelt, lohnt der Blick zurück.
Der ungarischstämmige Franzose Yona Friedman ist dabei sicherlich einer der interessantesten und wichtigsten Architekturtheoretiker und –utopisten. Im Jahr 1958 veröffentlichte er das Manifest "L‘Architecture Mobile" und entwickelte zur selben Zeit sein Raumstadtkonzept "La Ville Spatiale".
Diese visionären Megastrukturen über bereits bestehenden Städten, in denen die Bewohner ihre räumliche und soziale Welt flexibel gestalten sollten, sind bis heute viel diskutierte Klassiker der städtebaulichen Avantgarde und beschäftigten nach wie vor (nicht nur) das Metier der Planer. Damit war Friedman seiner Zeit weit voraus; insbesondere in seiner Überzeugung, dass die Architektur nur einen Rahmen, eine Struktur vorgeben dürfe, die von den Bewohnern nach eigenen Vorstellungen ausgefüllt werden solle.
Ähnlich wie Constant, der zur gleichen Zeit, Mitte der 1950er-Jahre, die Grundzüge von New Babylon entwickelte, sah Friedman in der fortschreitenden Automatisierung der Arbeitswelt und dem damit einhergehenden Anstieg der Freizeit eine entscheidende gesellschaftliche Veränderung, der die traditionelle Stadtgestalt nicht mehr gerecht würde.
An Stelle der unbeweglichen und aufwendigen herkömmlichen Architektur sollten flexible Strukturen treten, in der die Bewohner mobil sein und mit Wandelementen machen können, was sie wollen. Friedman hatte nicht vor, die alten Städte und Plätze abzureißen wie die Brachialavantgardisten vor ihm, vielmehr war er bestrebt, sie in die Höhe verdichten: 12 Meter hohe Pylonen tragen in seinen Plänen ein Raster von 20 mal 24 Metern, das von zwölf Meter breiten Straßen durchzogen wird.
In diesen Parzellen sollte man Gras säen, Buden bauen, Plätze, Apartments, Läden, Theaterbühnen, Open-Air-Kinos errichten können – ein Versuch, die Stadt als soziales Konstrukt mobil zu machen.
Archigram: Pop-Art trifft auf Architektur
Nicht mehr ganz so eindeutig waren die Stadtutopien der 1960er- und 1970er-Jahre zu verstehen. Besonders die Gruppe Archigram war in erster Linie ein Pop-Art-Phänomen und erst danach ein Architekturbüro.
Ihre medial geschickt lancierten Vorschläge – wie Plug-In-City und Walking-City – kommentierten viel mehr den standardisierten Massenwohnungsbau, als dass sie Lebenswelten schaffen wollten. Die gigantischen stählernen Maschinen ihrer Zukunftsstädte bezogen ihren Reiz aus der poppigen Techno-Ästhetik; später griffen die Architekten Renzo Piano und Richard Rogers diesen Stil in abgemilderter Form auf, für ihren Entwurf des Centre Pompidou in Paris.
Gigantische Raumtragwerke, die Entfaltungsmöglichkeiten für eine freiere Gesellschaft bildeten, wurden zu einem viel diskutierten Thema. Günter Domening und Eilfried Huth aus Graz legten mit der Überbauung Ragnitz einen der radikalsten Entwürfe der Zeit vor.
Verwirklicht wurde unter anderem die Überbauung der Berliner Stadtautobahn an der Schlangenbader Straße, wobei der Gebäudekomplex von Georg Heinrichs so etwas wie den schleichenden Übergang von formaler Utopie in realen Bauwirtschaftsfunktionalismus markiert.
Metabolisten in Japan: Vorreiter bei der Umsetzung von Megastrukturen
Was freilich die tatkräftige Umsetzung anbelangt, waren wohl letztlich die japanischen Metabolisten das Maß der Dinge – exemplifiziert etwa an Kenzo Tanges Yamanashi Broadcasting Center in Kofu (1966), Kisho Kurokawas Nakagin-Capsule-Building (1972) oder Kiyonori Kikutakes Aquapolis in Osaka (1975).
Doch, je mehr Megastrukturen realisiert wurden, desto geringer war der Zuspruch. Einerseits faszinieren viele dieser Entwürfe, andererseits besitzen sie mitunter eine abschreckende Wirkung und fallen aus heutiger Sicht eher unter den Begriff Dystopie als Utopie.
Es sind also weniger die – oft gigantomanischen – Formen und Baustrukturen, aus denen man Lehren ziehen kann, sondern der Umstand, dass es mittels der Megastrukturen gelang, die Massen für Architektur zu begeistern: Entsprechende Ideen füllten Magazinstrecken und wurden im Fernsehen diskutiert. Wann ist das heute schon mal der Fall?
Der Denker und Schriftsteller Ludger Schwarte scheint recht zu haben mit seiner These, dass Architektur eigentlich nicht im Gebauten besteht, sondern in den mehr oder minder philosophischen Ideen, die das Gebaute erst hervorbringt. Ob man in solchen Gebäuden leben oder arbeiten, geboren werden oder sterben will, ist dann eine ganz andere Frage.
Architektur als Mittel gesellschaftlicher Transformation
Auch wenn es in der jüngeren Generation wieder vermehrt Planer gibt, die Architektur als Mittel der gesellschaftlichen Transformation begreifen, so fehlt für vergleichbar großmaßstäbliche, visionäre Planungen heute schlicht der utopische Überschwang.
Die Megastruktur hat ihre emanzipatorische Sprengkraft eingebüßt, und ihr Gigantismus ist längst in die Kritik geraten. In der Einleitung zum Sonderheft "Stadtplanung. Experimente und Utopien" der Schweizer Zeitschrift Bauen + Wohnen stellte der Herausgeber Jürgen Joedicke bereits 1967 fest:
Es fällt auf, welche Bedeutung der Technologie, dem Verkehr, der Mobilität, der Wohnung und der Verdichtung eingeräumt wird. Die Frage jedoch, wie der Mensch beschaffen sein muss, der in diesen Superstrukturen leben soll, ja ob der Mensch seiner ganzen Verantwortung nach überhaupt bereit ist, sich mit diesen Wohnformen zu identifizieren, wird nicht gestellt.
Wird der Mensch seine Vorstellungen und Wünsche, die sich über die Jahrtausende relativ konstant gehalten haben, aufgeben, um in dieser Welt zu leben oder kann auch sie ihnen Raum geben?
Zwar hat diese fundamentale Kritik an der visionären Großstruktur nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Aber die radikale Grundidee der Megastruktur – die Trennung zwischen tragendem Gerüst und flexiblen Plug-Ins, die sich sowohl auf städtebauliche Planungen wie auf einzelne Bauten anwenden lässt –, der darf man großes Potenzial zubilligen. Nicht zuletzt im Hinblick auf die rasant wachsenden informellen Siedlungen in den Megacities des Globalen Südens.