Do-it-yourself-Architektur: Wie wir unsere Städte zurückerobern können

Zimmermannhammer balanciert Haus

Do-it-yourself-Architektur als Antwort auf hohe Mieten und Verdrängung in unseren Städten. Doch wie geht "Stadt selbst machen"?

Der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger hat einmal postuliert, jeder Städtebewohner wisse, dass die Architektur, im Gegensatz zur Poesie, eine terroristische Kunst sei.

Das mag überzeichnet erscheinen, hat aber einen wahren Kern: Das Gebaute umgibt den Einzelnen ständig; Architektur ist unentrinnbar, sozialisiert seit jeher und bleibt dabei zumeist unbewusst.

Spezialisierung und das große Ganze

Über Jahrzehnte hinweg wurde unser System der gebauten Umwelt professionalisiert und spezialisiert. Bevorzugt arbeitet man mit Plänen, die jeweils nur einzelne Aspekte – die des Verkehrs etwa, der Wirtschaftsentwicklung oder des Wohnens – isoliert behandeln und optimieren.

Dieses Denken in Teilsystemen ist nun zwar durchaus im Sinne einer naturwissenschaftlichen Vorgehensweise. Aber es tendiert dazu, sich immer weiter auszudifferenzieren und zu verselbstständigen. Und das große Ganze aus dem Blick zu verlieren.

Neue Initiativen und Aneignung der Stadt

Kein Wunder, dass das Pendel nun in die andere Richtung ausschwingt. Statt die Entwicklung von Architektur und Urbanismus der Verwaltung und der Ökonomie allein zu überlassen, versuchen vielerlei Akteure, sich die Stadt anzueignen.

Eine do-it-yourself-Mentalität tritt an die Stelle des bloßen Konsums von Stadtgesellschaft und Stadtraum. Selbst Architekten und Planer zeigen plötzlich Bereitschaft, einen Gutteil ihrer Aufmerksamkeit dem Unbeständigen und Unbestimmten in den Städten zu widmen.

Mal bewundernd, mal verunsichert, zeigen sie auf die Lücken und Brüche, die eine spontane und informelle urbane Aneignung ermöglichen. Dahinter steht mitunter affirmative Absicht: Denn angesichts von Krisen und Geldknappheit wirkt es nötiger denn je, Planungen zu entwickeln, die sich von der normalen Logik der Stadtentwicklung abwenden und die bisher üblichen stadtplanerischen Drehbücher zu Immobilien, Baukrediten, Arbeitskräften im Bauwesen und Wohnungsbau neu definieren.

Der Monopoly-Effekt und die Verdrängung

Nun hat ja die übliche Logik des Urbanismus durchaus etwas mit Monopoly zu tun: Wer von den Würfeln auf die Schlossallee getrieben wird, der hat schon fast verloren. Denn auf dem mit einem Hotel bebauten Feld ist die Miete fast unerschwinglich.

Hohe Mieten sind allerdings nicht nur beim legendären Brettspiel entscheidend. Angesichts fehlender Wohnungen ist in vielen deutschen Großstädten ein knallharter Verdrängungswettbewerb im Gang. Ob München, Hamburg, Stuttgart, Frankfurt oder Berlin – nicht nur in Deutschland greift der Monopoly-Effekt immer stärker um sich. Mit gravierenden Folgen für den Charakter der Städte.

Wer heute durch die Zentren der europäischen Metropolen flaniert, der begegnet dort dem immergleichen internationalen Stimmengewirr, den immer gleichen Reisegruppen aus aller Welt. Die Touristisierung der City ist globaler Wirtschaftsmotor und Verdrängungsfaktor in einem.

Innenstädte gleichen großflächigen Freiluftmuseen

Zahlreiche Innenstädte gleichen großflächigen Freiluftmuseen, sind beliebte Ganzjahresdestinationen. Ausstellungen werden besichtigt, Denkmale fotografiert, Geschichte wird in XXL-Bechern konsumiert, Partys werden gefeiert.

Auf die unterschiedlich zahlungskräftigen Gäste sind nicht nur die zahllosen Hotels und Hostels ausgerichtet, sondern auch die übrige private und städtische Infrastruktur. Gleichzeitig verbergen sich in den teuren Stadthäusern hinter namenlosen Klingelschildern immer öfter schicke Zweitwohnungen, die die längste Zeit des Jahres leer stehen.

Wenn Stadt wirklich die räumliche Organisation des gemeinschaftlichen Zusammenlebens auf Dauer ist und nicht bloß ein Schaueffekt für eine Stippvisite bietet, dann lohnt es sich, über die Zukunft von Stadt und ihrer Organisation neu nachzudenken.

"Park Fiction"

Beispielsweise über die Möglichkeit, die Entwicklung der Stadt selbst in die Hand zu nehmen. Diesem Gedanken folgend hat etwa eine Initiative Mitte der 1990er-Jahre in Hamburg St. Pauli/Altona das Konzept einer kollektiven Wunschproduktion bzw. eines parallelen Planungsprozesses entwickelt.

Das Ziel des Projekts, später "Park Fiction" genannt, bestand darin, zu verhindern, dass das letzte Grundstück mit freiem Blick auf Elbe und Hafen verkauft und mit Apartmentblöcken zugebaut würde. Christoph Schäfer, einer der Initiatoren, hat in einem Interview gesagt:

Unsere Idee ist, dass Stadtkonsumenten zu Stadtproduzenten werden, und da sind Mittel und Werkzeuge zu entwickeln, wie man das umsetzen kann.

Das Ganze gewann besonders in der Kunstwelt Aufmerksamkeit, was nicht zuletzt mit der Präsentation auf der Documenta 11 zusammenhing.

Do-It-Yourself-Architektur und der emanzipatorische Anspruch

Doch wie geht "Stadt selbst machen"? Sind do-it-yourself-Stadträume besser als Stadträume, die unter der Regie von Stadtverwaltungen entstehen? Welche Rolle können dabei Künstler einnehmen? Und wie verhält sich der emanzipatorische Anspruch des Selbermachens zu den Zumutungen einer Stadtpolitik, die immer dann das Selbermachen entdeckt, wenn gerade Krise ist?

Muss man nicht sehen, dass Selbermachen nicht notwendigerweise progressiv oder innovativ ist? Siedlerbewegungen, Genossenschaften oder selbst organisierte Gemeinschaften waren doch in der Vergangenheit oft genug strukturkonservativ, mündeten in erstarrte Verhältnisse oder wandten sich ganz von der Stadt ab, wenn ihre von Idealen bestimmten Lebensentwürfe allzu sehr mit der Komplexität des großstädtischen Lebens kollidierten.

Die Theorie des beschränkten Raumes

In ihrem 2015 erschienenen Buch mit dem suggestiven Titel Wir selber bauen unsere Stadt folgen Markus Kutter und Lucius Burckhardt zunächst einer Theorie des beschränkten Raumes.

Wenn nicht jeder Mensch an jedem Ort etwas errichten könne, weil eben andere schon zuvorkamen, dann sei darauf zu achten, welche Nebenfolgen eine bestimmte Bebauung und räumliche Anordnung zeitigen wird. Nur der erste Bauherr einer Siedlung habe die Freiheit, die Pfade der Abhängigkeit zukünftigen Bauens zu legen.

Das fängt bei den Rohrleitungen an und hört bei der Farbe des Daches auf. Auf begrenztem Raum ist Planen also notwendig, um ungewünschte Nebenfolgen vorwegzunehmen und die Pfadabhängigkeit von den antizipierten Wirkungen ausgehend zu bahnen.

Damit ist in aller Kürze urbanistische Planung von der Planwirtschaft unterschieden als diejenige Planung, die nicht das Leben selber organisieren, sondern nur seine optimalen Bedingungen schaffen möchte.

Markus Kutter und Lucius Burckhardt

Doch wie weit ist es damit heute her?

Walter Segal und der Selbstbau in London

Um das zu ermessen, muss man hier unbedingt an den 1985 verstorbenen Walter Segal erinnern. Denn der 1907 in einer Berliner Künstlerfamilie geborene Architekt war ein Visionär der do-it-yourself-Architektur.

Er verstand sich als unbedingter Individualist, der den großen Bewegungen stets misstraute, und sein Modernismus war ein zutiefst sozialer. Seine eigentliche Bestimmung sollte er in England finden, dort nahm die Idee einer konstruktiven Methode zum Selbstbau Gestalt an: radikale Simplifizierung von Entwurf und Prozess, Arbeiten in Gemeinschaft, Ausführung durch fähige Laien.

Im Londoner Bezirk Lewisham verwirklichte er zwischen 1979 und 1987 seine berühmtesten Werke, die Selbstbausiedlungen Walters Way und Segal Close. Dabei reduzierte er das Haus gewissermaßen auf den Wesenskern, den seine Bewohner mithilfe eines einzigen Zimmermanns oder ganz selbst bauen könnten.

Die ein- oder zweigeschossigen Gebilde in Holzbauweise brauchten kein Fundament, weil ihr Fachwerkrahmen auf Stelzen ruht und damit weitgehend unabhängig vom Gelände ist. Der Rahmen basiert auf den Standardmaßen handelsüblicher Paneele und Materialien, wie sie in jedem Baumarkt verfügbar waren.

Daraus ergibt sich das charakteristische grid, das innen wie außen sichtbar bleibt und an japanische Teehäuser erinnert. Dazwischen arbeitete Segal mit Faserzement, Einfachverglasung und Gipskarton.

Weil die verschraubten Wände keine Lasten tragen, lassen sich Grundrisse beliebig anpassen und ebenso leicht erweitern, und tatsächlich blieb kein einziges der Häuser unverändert, weil der stückweise Aus- und Umbau zum Konzept gehörte.

Das Sensationelle an diesem Architekten ist, dass er keinerlei Interesse an der Bewahrung der von ihm geschaffenen Form hatte; ihm ging nicht nur um erschwingliches Wohnen, sondern um die Selbstermächtigung von interessierten Laien in (damals) neuartigen Baugemeinschaften.

Zeitlich parallel zu Segal, doch ohne inhaltliche Querverbindung, lancierte der italienische Designer Enzo Mari sein legendäres Projekt "Autoprogettazione", was übersetzt soviel wie "selber machen" bedeutet.

Gegen die Erstattung der Portokosten konnte man von ihm eine Anleitung zum Eigenbau einfacher Möbel erhalten. Das sind Einrichtungsgegenstände, die nur mit Hilfe von Hammer und Nägeln aus rohen Holzbrettern zu fertigen sind. Auf diese Weise wollte der Gestalter das Bewusstsein für die Dinge schärfen.

Einmal sagte er sinngemäß: Was nicht wenigstens einhundert Jahre hält, taugt nichts. Und was man im Zweifel nicht selbst machen kann, ist nichts. Dieses Denken – dingfreundlich, menschenfreundlich – fand in jüngerer Zeit seine Entsprechung in der von Van Bo Le-Mentzel initiierten Tinyhouse-University in Berlin.

Und es gibt auch andere Abzweigungen. Mit dem partizipatorischen Reformprojekt "Die Baupiloten" ist etwa die Architektin Susanne Hofmann in Berlin angetreten, um spartanische Flure und genormte Pausenhöfe von Schulen und Kindergärten radikal neu zu denken.

Ihr Geschäftsmodell ist so einfach wie erfolgreich: Mit dem gegebenen Etat für eine Umbaumaßnahme so zu haushalten, dass etwas übrig bleibt für unorthodoxe Verschönerungen.

Mikro-Utopien als Raum für Alternativen

Beispiele wie sind beredt insofern, als sie veranschaulichen, dass Architektur weder ein bruchloses Anknüpfen an die Tradition ist noch das Ergebnis der Umstände ihrer Entstehung. Vielmehr offenbart sie sich als eine Praxis, die sich erst im Umgang mit Störungen erweist und bewährt.

Nun ist man gut beraten, solche Projekte in ihrer unmittelbaren Wirkung nicht zu überhöhen. Dennoch kann man sie mit Fug und Recht als "Mikro-Utopien" bezeichnen, weil sie Defizite und Alternativen zur üblichen Praxis formulieren, ohne zu behaupten, diese schon als eine endgültige einfordern zu müssen.

Sie sind wichtig, weil sie keine technische Problemlösung versprechen, sondern die politische Aushandlung einfordern und praktizieren. Sie verknüpfen Raumgestaltung, soziale Fragen und politisches Anliegen und machen so deutlich, dass wir Stadt nicht verbessern, wenn wir in ihr keinen Raum für die anschaulichen und konkreten Alternativen bieten.