Armageddon und der apokalyptische "Holocaust"
Hinter der "pro-israelischen" Haltung evangelikaler Endzeitchristen in den USA verbirgt sich ein schlimmer Antijudaismus
Nicht nur in den „neokonservativen“ Denkfabriken der USA spricht man leichfertig, bisweilen begeistert vom dritten oder vierten Weltkrieg. Auch unter evangelikalen Endzeitchristen werden alle Vorboten eines neuen großen Krieges begrüßt. Erwartet wird in allernächster Zeit die letzte Schlacht, die dieser verdorbenen Welt ein Ende bereitet. Da ein „Israel in biblischen Grenzen“ Schauplatz des Endzeitkampfes zwischen Gut und Böse sein wird, gibt man sich „pro-israelisch“. Ob Israels Botschafter in den USA, Daniel Ayalon, bei seinen Begegnungen mit der Armageddon-Lobby wirklich weiß, welche Aussichten die christlichen Fundamentalisten für jene Juden bereit halten, die am Ende aller Tage den „wahren Messias Jesus Christus“ nicht anerkennen wollen?
Die psychotischen Wahnvorstellungen von Endzeitchristen spielen seit Jahrzehnten eine bedeutsame Rolle im politischen Leben und in der Massenkultur der USA.1 Über Bücher, Filme und Computerspiele werden zentrale Inhalte der apokalyptischen Theologie weltweit in Millionenauflagen exportiert.
Aktuell können einige Prediger von evangelikalen Kirchen ihre Freude über den Libanonkrieg nur mühselig verbergen: „Was zur Zeit mit Israel und seinen Nachbarn passiert, wurde doch schon in der Bibel prophezeit.“ (Pastorin Margaret Stratton) In diesen Kreisen glaubt man: Der große Widersacher, der „Anti-Christ“ bzw. Satan, wird sich als Friedensstifter für den Nahen Osten verkleiden und will die Erfüllung der Prophezeiungen über die letzte Entscheidungsschlacht sabotieren.
Ignoranz gegenüber dem christlichen Fundamentalismus ist gefährlich
Leider halten es in Europa nur wenige politisch Verantwortliche für notwendig, sich über die Vorstellungswelt der christlichen Apokalyptiker gründlich zu informieren. Das ist angesichts des großen Einflusses von US-Endzeitpropheten grob fahrlässig. Seit der Zeit des Reaganismus warnen vor allem lateinamerikanische Befreiungstheologen vor den gefährlichen Ideen vieler evangelikaler Massenverführer in den Vereinigten Staaten. Franz J. Hinkelammert schrieb über sie bereits 1989:
Je schlimmer, um so besser, das ist das fundamentalistische apokalyptische Denken. In unserer heutigen Welt ist der Fundamentalismus wohl die wichtigste Denkform, die der Zerstörung einen positiven Sinn abgewinnen kann. Je schlimmer es wird, um so besser, denn jede Katastrophe ist ein Zeichen der Zeit, das die Wiederkunft Christi ankündigt. Der Fundamentalismus ist daher auch wohl die einzige, viele Menschen bewegende Ideologie, die dem Atomkrieg einen Sinn abgewinnt. Als Atom-Armageddon wird er als Hoffnungszeichen in die Sicht der Zukunft aufgenommen. Wo alles zerstört wird, da wird alles gut.
Die Breitenwirkung von „christlichen“ Endzeitextremisten, die in den USA seit dem Erfolg der 1979 gegründeten „Moral Majority“ als politisches Sprachrohr fundamentalistischer Kreise fungieren, ist nicht zu unterschätzen. Ihre Geschichtsprophetie zielt auf eine „letzte Schlacht um Gottes Reich“ und benötigt zwingend die Weltverschwörung, wahlweise durch Kommunisten, säkulare Humanisten, Friedensaktivisten, „Perverse“ (besonders Homosexuelle), liberale Christen, Katholiken, UNO, Europa oder aktuell in erster Linie durch den Islam. Für die fundamentalistischen Christen2
sind die Vereinten Nationen die bevorzugte Wirkungsstätte des Antichristen, weil Offenbarung 17,12 lehrt, dass die Könige der Erde „ihre Macht und Gewalt dem Tier übertragen“. Der Papst, Kriegsgegner auch er, gilt als „Hure Babylons“, weil die nach Offenbarung 17,9 auf „sieben Bergen“ thront, wie Rom auf sieben Hügeln liegt. Dass die EU ihre Existenz den Römischen Verträgen verdankt, macht ganz Europa zum Werkzeug des Teufels.
Jesus als Rambo und das neue auserwählte Volk
Zu den evangelikalen Heilsstrategien auf dem Weg zum „Ende aller Tage“ gehören uneingeschränkter Kapitalismus, Militarismus – einschließlich Atomwaffengebrauch – und US-amerikanische Vormachtstellung bzw. Supernationalismus. Globaler Kulturdialog, Interreligiöse Begegnung, Weltökumene, Weltkirchenrat und internationale Rechtsordnung gelten den christlichen Apokalyptikern als Teufelswerk. Ihren angeblich wortwörtlichen Biblizismus verbinden sie mit Auslegungssystemen, die das Sozialethos und die Friedensweisung des christlichen Evangeliums willkürlich außer Kraft setzen. Die Bibel gerät, wie Meinrad Scherer-Emunds treffend formuliert, unter der Hand dieser „Propheten von heute“ zu einem „Munitionslager für Chauvinismus, Aufrüstung und Krieg“. Das Erlöserbild wird dem Rambo-Komplex angeglichen: „Der Mann [Jesus, Anm.], der auf dieser Erde lebte, war ein Mann mit Muskeln. [...] Christus war ein Macho!“ (Jerry Falwell) Nach Auskunft mancher Missionare war Jesus außerdem explizit ein Kapitalist.
Hinter einer instrumentellen Pro-Israel-Haltung verbergen viele Bibeltreue, dass für sie die USA längst die Rolle des auserwählten Volkes übernommen haben. Falwell und Reagan glaubten z.B.: „Keine andere Nation auf der ganzen Erde wurde so von Gott dem Allmächtigen gesegnet wie das Volk der Vereinigten Staaten.“ Dass in diesem Zusammenhang ausgerechnet die biblische „Apokalypse“ bzw. Offenbarung des Johannes oft angeführt wird, ist natürlich absurd. Diese Schrift ist ihrem Ursprung nach geradezu eine Kampfansage an jeden weltlichen Imperialismus. Sie reflektiert die Hassgefühle kleinasiatischer Christen gegen die Weltmacht Rom, die sich als Herrscher der ganzen Erde aufspielt. Ganz und gar unchristlich ersehnt man im letzten Buch der christlichen Bibel die göttliche Rache am Unterdrücker, dem römischen Imperium. Zumindest in der Ablehnung der zeitgenössischen Supermacht waren sich Juden und frühe Christen einig.
Der Kontext, in dem die Zukunftsfragen der menschlichen Zivilisation nun 2000 Jahre später von den rechten Christen in den USA betrachtet werden, ist die unausweichliche und willkommen geheißene Katastrophe. Dass Gott im Atomzeitalter das Monopol über das „Ende der Welt“ verloren hat und nunmehr der Mensch die Instrumente für eine jederzeit mögliche Totalvernichtung besitzt, gilt als gutes Zeichen. Immanuel Kant mochte – in völligem Einklang mit dem Jüngsten Gericht des Matthäus-Evangeliums (Verse 25,31-46) – die „letzten Dinge“ nur als Ernstfall der Gegenwart betrachten: Ist der Mensch fähig, im anderen Menschen und in der Menschheit seinesgleichen wieder zu erkennen?3 Solche Selbstbescheidung liegt der Exzentrik des US-Fundamentalismus völlig fern. Dieser verlangt vielmehr nach Art des Psychopathen in David Fincher’s Film „Seven“ (USA 1995) ohne Aufschub die Todesstrafe für so genannte Todsünden - und zwar als global verrichtete Exekution.
Exkurs: „Post-Millenaristen“ und „Prä-Millenaristen“
Die Anhänger der Visionen vom „tausendjährigen Reich“ nennt man „Millenaristen“, doch sie sind nach Meinrad Scherer-Emunds sehr genau zu unterscheiden. Der ursprüngliche – religiöse oder säkulare – „Millenarismus“ der US-amerikanischen Gründungsväter geht von einem Fortschritt der Zivilisation aus und bedenkt die Vereinigten Staaten im Licht göttlicher Vorsehung mit einer Sonderrolle für das Friedens-Millennium. Sie sind das verheißene Land, Friedensstifter und Freiheitsbringer für die ganze Welt. Kontext ist die Entdeckung der Geschichtsphilosophie im 18. Jahrhundert.
Die „Post-Millenaristen“ des 18. und 19. Jahrhunderts erwarteten entsprechend die Wiederkunft Christi auf der Grundlage einer fortschreitenden Christianisierung und Besserung der Welt. Sie fanden in US-Präsidenten wie Woodrow Wilson oder auch J. F. Kennedy willige Schüler. Auch das 1989 von Francis Fukuyama mit Zufriedenheit proklamierte „Ende der Geschichte“ steht – ganz im Gegensatz zu dem von Samuel P. Huntington 1993 beschworenen „Clash of Civilizations“ – in einer post-millenaristischen Tradition.
Diesen endzeitlichen Optimisten folgten jedoch die heute weitaus dominierenden Anhänger des „Prä-Millenarismus“. Sie nehmen – vor dem ersehnten Gottesreich – eine unweigerlich fortschreitende Verderbnis in der Gegenwart wahr. Es kommt zum „Knall“ in der Welt, und eben dies werten sie als Zeichen des baldigen Endgerichts. Für diese Ungeduldigen und Unduldsamen ist die Welt ein „untergehendes Schiff“. Im eigentlichen Sinn kann man nicht einmal von einem kultur- oder zivilisationsbezogenem Pessimismus sprechen, denn der heilsgewisse Gläubige hat Gott für schlechte Weltnachrichten regelrecht zu danken.
Die politische Brisanz dieses religiösen Fatalismus liegt auf der Hand. Ronald Reagans erster Innenminister James Watt glaubte das Jüngste Gericht nahe und lehnte deshalb zum Beispiel jede Art des Umweltschutzes ab. Ähnlich selbstgefällig pflegen viele Politiker in den USA heute ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Prognosen zum Klimawandel. Während die christliche Weltökumene die reale Möglichkeit einer Selbstvernichtung der Menschheit als Sünde betrachtet, zu der es nicht kommen darf und soll, können fundamentalistische US-Apokalyptiker das nukleare Zerstörungspotential oder andere globale Bedrohungen als Erfüllung einer Prophezeiung begrüßen und ausdrücklich von einer „moralischen Pflicht zum Einsatz von Atombomben“ sprechen.
An einem ernsthaften Spiel mit dem Feuer findet die Mehrheit aller Menschen wohl wenig Gefallen. Die fatalistische Apokalyptik des „Prä-Millenarismus“ hat sich jedoch in der Massenkultur längst breit gemacht, in „spirituellen“ Psychosen, Teufelsbeschwörungen und kriegerisch inszenierten Weltuntergängen. Gezeigt wird im Katastrophenkino keineswegs, mit welchen Strategien und Modellen die Menschheit vorbeugend einem drohenden Untergang entkommen könnte. Gezeigt werden vielmehr Post-Apokalypsen.
Die Katastrophe auf dem Globus gilt bereits als Faktum. Im Zeitreisemodus heißt es z.B. im Film „Twelve Monkeys“ (USA 1995) ausdrücklich: „Alles ist schon passiert!“ In der Tagline dazu wird verkündet: „Die Zukunft ist Geschichte.“ Militärische und technologische Potenzen für globales Unheil erfahren keine ernsthafte Kritik. Erst muss alles kaputt gehen und dann kann man im Kreis der Auserwählten vielleicht über einen Neuanfang nachsinnen. Die ordnende Mission inmitten der postnuklearen Wildnis wird in die Hände neuer Pioniere gelegt. Unter solchen Voraussetzungen gelingt es Hollywood immer wieder, mit Blockbustern die Neugierde auf eine schreckliche Zukunft zu bedienen, ohne dass wir darüber erschrecken müssten, was wir den heute noch nicht Geborenen antun.
Ronald Reagan als Theologe
Die radikalen Apokalyptiker sind nicht repräsentativ für das gesamte fundamentalistische Spektrum. Bei der Politisierung der vielfältigen fundamentalistischen Szene im Dienste der Republikaner bzw. der „Neokonservativen“ spielen sie jedoch eine zentrale Rolle. Die meisten Führer der christlichen Rechten bekennen sich zu Endzeitspekulationen vom Armageddon-Typ. Die Vorgeschichte hätte man schon vor zwei Jahrzehnten ernst nehmen sollen.
Präsident Ronald Reagan beglückte sein evangelikales Publikum 1983 in einer berühmt gewordenen Rede damit, die Sowjetunion als „Evil Empire“ (Reich des Bösen) zu identifizieren. Unter der Überschrift „Der Einfluss der Propheten“ berichtete die Frankfurter Rundschau am 31.10.1983 überdies:
US-Präsident Ronald Reagan hält es nach Darstellung eines Washingtoner Lobbyisten für durchaus möglich, dass sich die Welt gemäß der Offenbarung Johannis dem Jüngsten Gericht und der Entscheidungsschlacht von Armageddon zwischen Gut und Böse nähert. Thomas Dine, Geschäftsführer eines für gute Beziehungen zwischen den USA und Israel werbenden Komitees, sagte am Wochenende, dass der Präsident ihm am 18. Oktober erzählt habe, dass er, Reagan, am Abend zuvor mit den Eltern eines in Beirut ums Leben gekommenen US-Marineinfanteristen gesprochen hat. Der Präsident habe das Gespräch mit den Worten fortgesetzt: „Wie Sie wissen, gehe ich immer wieder auf Eure alten Propheten im Alten Testament und auf die Anzeichen zurück, die Armageddon ankündigen. Ich ertappe mich dabei, dass ich mich frage, ob wir die Generation sind, die erlebt, wie das auf uns zukommt. Ich weiß nicht, ob Sie in letzter Zeit eine dieser Prophezeiungen wahrgenommen haben. Aber glauben Sie mir, sie beschreiben ganz gewiss die Zeit, die wir jetzt erleben.
Heute sind mehr als die Hälfte der US-Amerikaner in einem wörtlichen (!) Sinn davon überzeugt, dass die Johannes-Offenbarung sich erfüllen wird. Seit mehr als zwei Jahrzehnten verbreiten die „elektronischen TV-Kirchen“ oder Bücher wie Hal Lindsey’s Bestseller „Late Great Planet Earth“ (1970) das endzeitliche Gedankengut der maßgeblichen Fanatiker. Etwa ein Viertel der US-Bevölkerung kauft apokalyptische Bücher dieser Art und mehr als jeder dritte denkt laut einer Time-Umfrage regelmäßig über das Ende der Welt nach. Säkulare und seit geraumer Zeit auch explizit „christliche“ Kampfspiele am Computer greifen die Entscheidungsschlacht zwischen Licht und Finsternis auf. Äußerst massenwirksam ist das bislang 14 Bände umfassende Romanwerk Left Behind (deutsch: „Finale“) über die letzten Jahre der Menschheit, das bereits eine Auflage von 40 Millionen (!) erreicht hat. Mittlerweile wird es auch in Form von Computerspielen umgesetzt: Materieller und spiritueller Krieg gegen den Antichrist. Geiko Müller-Fahrenholz stellt dieses literarische Politikum so vor (Publik-Forum, 27.6.2003):
Die Endzeit beginnt mit der >Entrückung< der Heiligen (nach 1. Thess. 4,17). Plötzlich sind Menschen fort. [...] Es sind die Erwählten, die Gott gnädigerweise zu sich >nach oben< entrückt hat, um sie den Schrecken der Endzeit zu entziehen. Tim LaHaye und Jerry Jenkins, die beiden Autoren dieses >Romans<, beschreiben die endzeitliche Auseinandersetzung als einen eskalierenden Krieg zwischen den Soldaten Christi, die überwiegend aus den „Vereinigten Nordamerikanischen Staaten“ [!] kommen, und dem Rest der Menschheit, die vom Antichrist [...] geführt werden. [...] Dass dieser „Weltenherrscher“ ein ehemaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen war, wirft ein bezeichnendes Licht auf die tiefe Verachtung, mit der diese Einrichtung in weiten Teilen des frommen Amerika bedacht wird! Ökologische Katastrophen gehören mit in das Szenario des Schreckens. Alles läuft auf die >Endlösung< in der Schlacht von Armageddon zu, wo mitten in Israel die Riesenheere der Welt in einem entsetzlichen Blutbad aufeinander treffen, bis Christus alle Feinde besiegen und das Tausendjährige Reich aufrichten wird.
How would you explain what is happening here within a religious framework?
It is self-defense [by Israel], which is cause for just war. Israel is the spear against what you would call the Islam-o-fascism that is threatening all of the free loving people of the western world. There is no question that Hizbullah is the proxy for the Iranians.
Is there a message from God that is being played out here? Do you put it in those terms?
The Jews are God's chosen people. Israel is a special nation that has a special place in God's heart. He will defend this nation. So Evangelical Christians stand with Israel. That is one of the reasons I am here. …
Do you worry that we could be on the verge of some of the apocalyptic visions that are portrayed in the scriptures?
There was a prophet Ezekiel in the time of the Bible who wrote that in the last days there would be an invasion of Israel by a coalition that would include Iran, Russia, Turkey and the Sudan and Libya. God himself is going to defeat that great army that had come against his people. That is a prophecy of one of the Jewish prophets that has yet to be fulfilled. It said that it would be in the later days when Israel has been brought from the nations of the earth and are living in peace in their land.
Are we on the verge of this apocalyptic vision?
Could be.
Pat Robertson, der fundamentalistische Fernsehprediger, in einem Interview am 9.8.2006 während seines Besuchs in Israel
Warum evangelikale „Christen für Israel sind“
In diesem Kontext kann man jetzt verstehen, dass einige Theologen der apokalyptischen Szene den „Anti-Christen“ unter Berufung auf das biblische Daniel-Buch (Vers 9,27) namentlich auch als Friedensstifter im Nahen Osten erwarten. Die Eskalation ist im Sinne des beschriebenen Fahrplans ja erwünscht und darf nicht aufgehalten werden. Ausdrücklich gilt es nach James Robison als Irrlehre, vor der Wiederkunft Christi Lehren vom Frieden zu verbreiten.
Die Menschen in Israel können aus solchen Ideen wohl kaum Zuversicht schöpfen. Doch vordergründig hören sich die Ideen der vermeintlichen Freunde aus dem Christentum eben ganz „pro-israelisch“ an. Pastor Fritz May nennt auf einer evangelikalen Website Wort des Kreuzes „25 Gründe, warum wir als Christen für Israel sind“, darunter wörtlich die folgenden:
- Weil das Land Israel, einschließlich der „Westbank“ (Samaria und Judäa), der Schauplatz der Welt- und Heilsgeschichte Gottes war, ist und sein wird.
- Weil bei der Wiederkunft Jesu Christi Israel als Ganzes zum lebendigen Glauben an Jesus Christus als seinen Messias kommen wird (Römer 11,25.26 u.a.).
- Weil Israel eine große Zukunft hat: im messianischen Reich Jesu Christi die geistliche und geistige Führung in der Welt zu übernehmen (Sacharja 8,20-23; Jessaja 2,2.3 u.a.).
- Weil wir den Zionismus (=Rückkehr der Juden und die Errichtung eines jüdischen Staates in Israel) bejahen, da er gottgewollt ist (Hesekiel 11,17 u.v.a.). Wir treten deshalb ein für Israels Existenz innerhalb gesicherter und biblisch verheißener Grenzen.
- Weil ganz Jerusalem Israels ewige Hauptstadt sein und bleiben muß und nie wieder geteilt werden darf, da nach Psalm 122,3.4 „Jerusalem als EINE Stadt gebaut ist, wohin die Stämme des Herrn hinaufziehen, den Namen des Herrn anzubeten“.
Der „Islam als Werkzeug des Teufels“
In der Theologie von Endzeitchristen gilt der Islam hingegen als „Werkzeug des Teufels“, das man mit Schmähungen überziehen darf und mit allen Mittel bekämpfen muss. Bereits 1999 hat die Islamwissenschaftlerin und Kurdologin Tanja Duncker dazu auch erschreckende deutschsprachige Zeugnisse aus evangelikalen Pamphleten gesichtet. Eine Verbundenheit der drei auf Abraham zurückgehenden Religionen gibt es diesen zufolge nicht. Die vielen muslimischen Migranten in Ländern der „abendländischen Kultur“ sind Teil einer bösen Strategie. Das „dämonische System des Islams“ gilt nach dem „Holocaust“ als der zweite große Versuch, Jerusalem den Juden zu entreißen und dadurch das heiß ersehnte endzeitliche Schauspiel im Heiligen Land zu vereiteln.
Friedensgespräche mit den Palästinensern oder andere Grenzen Israels als die „biblischen“ werden abgelehnt. Über Jerusalem kann nie und nimmer verhandelt werden. Man will ganz sicher wissen: „JESUS kommt nicht in palästinensisches, sondern in jüdisches Hoheitsgebiet zurück.“
Christus als großer Reinemacher und Zerstörer
In theologischer Hinsicht muss die Apokalyptik der Fundamentalisten besonders auch als Regression zu einem primitiven Dualismus bewertet werden. Die Sehn-Sucht nach Reinheit pervertiert in ein gefährliches Hygiene-Programm, mit dem – so referiert Petra Bahr – alles „Unreine“ ausgemerzt werden soll. Die Menschheit wird klar geschieden in Erlöste und Unerlöste, Wiedergeborene und Verdammte, Auserwählte und Verworfene. Dem entspricht eine „Verschwörungstheorie von kosmischen Ausmaßen“ (Scherer-Edmunds), der zufolge Gott und Satan, das absolut Gute und das absolut Böse, miteinander Krieg führen. Projizierte religiöse Bildaussagen, die man schon in den Alten Kirche allegorisch auslegte und die heute tiefenpsychologisch zu beleuchten wären, werden „wörtlich“ als Fahrplan der äußeren Geschichte verstanden.
Erwartet wird in diesem Zusammenhang die Ankunft Christi als die eines Kriegsfürsten, der auf der Erde unter den Verderbten ein nie da gewesenes Massenblutbad anrichten wird! In diesem Zusammenhang führt Scherer-Emunds unglaubliche Zitate über die tiefe Unzufriedenheit der Fundamentalisten mit dem ersten Kommen Christi an:
Bei seinem ersten Kommen auf dieser Erde wurde Jesus Christus in einem Stall geboren, relativ unbemerkt von der Welt [...] in einer Zeit relativen Friedens [...] Das zweite Kommen Christi wird keine ruhige Krippenszene sein. Es wird das dramatischste und erschütterndste Ereignis in der gesamten Geschichte des Universums sein. [...] Alle bösen Heerscharen werden vernichtet [...] Städte werden buchstäblich zusammenfallen, Inseln versinken und Berge verschwinden. [...] Und so werden die Herrscher und Armeen, die sich der Wiederkehr Christi widersetzen, in einem Massenblutbad vernichtet.
John F. und John E. Walvoord
Er kam als Lamm Gottes […] Wenn Jesus das zweite Mal wiederkommt, wird er als Löwe kommen […] Sein Kommen wird von einem gewaltsamen Gericht begleitet sein.
Hal Lindsey
Die Anschläge von New York und Washington am 11.9.2001 wurden von Fundamentalisten nicht nur als Strafe Gottes für Sittenverfall bewertet, sondern vor allem auch als Anzeichen dafür, dass diese Ereignisse nicht mehr fern liegen. Unter den wiedergeborenen Christen stimmten laut einer Umfrage des Endzeitpropheten Hal Lindsay über 70 Prozent dem Satz zu: „Ich glaube daran, dass wir derzeit die Anfänge jenes Krieges sehen, der zum Antichristen und zu Armageddon führt.“ Vorausgegangen war die apokalyptisch-dualistische Vergeltungs-Propaganda zwischen „Gut und Böse“ oder „Licht und Finsternis“ in den Reden von Präsident George W. Bush Junior. Am 14. September 2001 verkündete dieser in der National Cathedral in Washington die Mission der Vereinigten Staaten:
Aber unsere Verantwortung vor der Geschichte ist bereits klar: auf diese Anschläge reagieren und die Welt vom Übel zu befreien.
Als bekennender „Wiedergeborener“ deckte der Präsident schließlich gar eine „Axis of Evil“ (Achse des Bösen) aus Iran-Irak-Nordkorea auf, die zufällig auch mit „neokonservativen“ Strategiedokumenten korrelierte. Die gezielt ausgewählten Reizwörter fanden in den USA Beifall, weil das ihnen zugrunde liegende Weltbild für viele Zuhörer fraglos richtig und „wahr“ ist.
Ein „apokalyptischer Holocaust“, oder: Was die Endzeitchristen der USA verschweigen
Das gebetsmühlenartige Credo der Evangelikalen besteht aus einem Vers des Johannes-Evangeliums (3,18):
Wer an ihn [Jesus Christus] glaubt, wird nicht gerichtet; wer aber nicht glaubt, ist schon gerichtet, weil er nicht geglaubt hat an den Namen des eingeborenen Sohnes Gottes.
Bereits Kleinkinder lernen als „Wiedergeborene“ in evangelikalen Gemeinden der USA, dass der Heiland für ihre Sündigkeit am Kreuz verblutet ist und dass jeder, der dies nicht annimmt und mit seiner nicht Zunge bekennt, dem Verderben preisgegeben wird. Noch vor wenigen Tagen wollte am Rande einer Hiroshima-Gedenkveranstaltung ein evangelikaler Straßenmissionar mich nicht als Mitchristen anerkennen. Ich hatte auf seine Frage, was den Himmel öffnet, geantwortet: „Sehnsucht nach Güte.“ Die richtige und einzig mögliche Antwort wäre seiner Ansicht nach das Wortbekenntnis „Jesus Christus ist mein Erlöser“ gewesen.
Der Unterschied zur großkirchlichen Theologie, wie sie an evangelischen und katholischen Universitätsfakultäten betrieben wird, liegt zunächst im Umgang mit der Bibel. Eine wissenschaftliche, historisch-kritische oder symbolische Herangehensweise wird von Evangelikalen abgelehnt. Jüdische Lesarten gelten auch bei der Lektüre der hebräischen Bibel („Altes Testament“) als überholt. Im Gegensatz dazu vertraten während meines Studiums alle katholischen und evangelischen Professoren die folgende Auffassung: Wer als christlicher Theologe den Juden Jesus von Nazareth wirklich verstehen will, muss bei der jüdischen Theologie in die Schule gehen.
Nach offizieller Kirchenlehre dürfte heute z.B. kein Katholik behaupten, nur zum Christentum übergetretene Juden hätten einen gültigen Heilsweg und würden von Gott gerettet. Genau das ist bei den „pro-israelischen“ Evangelikalen ganz anders. Viele ihrer Vorgänger waren den Juden in keiner Weise wohl gesonnen, womit sie allerdings innerhalb der Christenheit kaum isoliert waren. Noch 1981 hat Baily Smith als Vorsitzender der Southern Baptist Convention erklärt: „Gott erhört nicht die Gebete eines Juden.“4
Im Rahmen der fundamentalistischen Geschichtstheologie ist der historische „Holocaust“ – als „Plan des Teufels“ – nur Teil eines großen, irgendwie notwendig ablaufenden Räderwerks. Die „Notzeit für Jakob“ war im Prophetenbuch des Jeremias (Vers 30,7) ja schon angekündigt. Zum Massenmord an sechs Millionen Juden während des deutschen Faschismus gibt es entsprechend viele zynische Kommentare von Millenaristen. Die Nazis sind z.B. nach einer Predigerauskunft einfach Werkzeuge Gottes gewesen: „Indem er das erhaltene Volk in das erhaltene Land zurücktreibt, hilft Hitler, der selbst nicht an die Bibel glaubt und das Wort Gottes verhöhnt, die herausragendste biblische Prophezeiung zu erfüllen.“5
Im Gegensatz zur großkirchlichen Weltökumene kennt die prämillenaristische Theologie keinen bleibenden eigenständigen „Wert“ des Judentums. Eine „Stärkung des Staates Israel“ ist ihr nur vorübergehend als Erfüllung des apokalyptischen Fahrplans von Bedeutung. Am Ende aller Tage werden nach ihrem System nur jene Juden, die sich zu Jesus Christus bekehren und dann selbst andere evangelisieren, gerettet werden. Die Zahl dieser Auserwählten, die „Israels Versagen [...] wieder gutmachen“, wird mitunter mit 144.000 beziffert. Der Rest kommt um bzw. wird der ewigen Verdammnis anheim gegeben. Direktor H. L. Willmington vom evangelikalen „Liberty Home Bible Institute“ hat auf der Basis eines Bibelverses einmal berechnet, dass im Rahmen des göttlichen „Heils“-Planes „in der zweiten Hälfte der [endzeitlichen] großen Drangsal zwei Drittel aller Juden, annähernd sechzehn Millionen, umgebracht werden.“6 Je nach Geschmack erwartet man zu diesem Zweck einen großen apokalyptischen Feuerofen oder ein blutiges Gemetzel.
Der „pro-israelischen“ Wandlung der christlichen Rechten ist also mitnichten eine „pro-judaische“ Wandlung gefolgt. Eine größere Kluft zwischen Judentum und Christentum als bei den endzeitlichen US-Evangelikalen gibt es trotz aller gegenteiligen Beteuerungen sonst wohl nirgendwo in der heutigen Christenheit. Doch auch alle, die außerhalb dieser religiösen Beziehungen stehen, sollten sich Sorge machen über den Heißhunger auf Endzeit in den USA.
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