Artenvielfalt oder Kunstprodukte?
Jeder Schädel, den Paläoanthropologen zu Tage bringen, verbreitert die Wurzel der Hominiden. Möglicherweise fälschlich, weil physiologische Varianten und der Abrieb in Millionen von Jahren Unterschiede künstlich vortäuschen
Niemand hat den Neandertaler lebend gesehen, und niemand weiß, ob Lucy vor 3,8 Millionen Jahren so aussah wie sie der Paläoanthropologe M.G.Leaky nachbildet.
Die phantasievollen Namen der Neuentdeckungen erhöhen die Zahl der menschlichen Spezies gegenwärtig auf 20 und mehr. Gegen den Trend zur Ausweitung wendet sich Tim White vom Department of Integrative Biology (University of California, Berkeley) in Science. Seine Kritik:
Wie kann man aus einem Bruchstück auf die Art schließen? Da wird ein Schädelstück aus dem Chad enthusiastisch als Gipfel eines Eisberges für die Artenvielfalt vor 5-7 Millionen Jahren ausgelobt, obwohl überhaupt nicht bewiesen werden kann, dass das Schädelbruchstück etwas Besonderes ist.
Sein Stein des Anstoßes ist der vorjährige Bericht von Brunet (vgl. Ein Gorillaweibchen oder der älteste Verwandte des Menschen) und Mitarbeitern in Nature und der Kommentar von B.A.Wood in demselben Heft. Die Bezeichnung "Bruchstück" bezieht sich auf den unvollständigen Schädel, oder, bei vielen anderen menschlichen Vorfahren, auf die Teile eines Kiefers, eines Jochbogens oder angedeutete Zähne. Spärliche Fragmente müssen dafür herhalten, ein ganzes Menschenbild vor unseren Augen entstehen zu lassen.
Die Sammlerleidenschaft, so sieht es Tim White, verdrängt reichlich bewiesene wissenschaftliche Erkenntnisse: die Schädel von Menschen und Menschenaffen sind keine idealen Serienprodukte, sondern bereits innerhalb einer Großfamilie sehr unterschiedlich. Noch vielgestaltiger sind bei 6 Milliarden Menschen auf unserem Planeten die Variationen, die auf die unterschiedlichen Lebensgewohnheiten, die Anpassung an die Umwelt, oder gar auf die Art der Nahrung zurückgeführt werden.
Niemand käme auf die Idee, die zunehmende Körperlänge, die sich bei den Europäern in den vergangenen Jahrhunderten in Nord und Süd sowie in Nordamerika unterschiedlich schnell durchgesetzt hat, als Beweis für mehrere neue Menschenrassen heranzuziehen.
Sind die Paläoanthropologen in ihrem Eifer zu fehlgeleiteten Anhängern der Darwinschen Evolutionstheorie geworden? Charles Darwin verstand die biologische Entwicklung als zähe Masse, in der für jede Spezies ein mächtiges Entwicklungspotential enthalten ist. Die Veränderungen schreiten Schritt für Schritt vorwärts, manchmal tastend, manchmal in eine Sackgasse führend, und anderswo forsch befreiend, um mit der Umwelt besser zurecht zu kommen.
In seiner Zeit blieb den Biologen vornehmlich das äußere Erscheinungsbild, nach dem die verwandtschaftlichen Beziehungen eingeordnet wurden. Seitdem hat die detaillierte Kenntnis um Physiologie und Biochemie funktionelle Wertmaßstäbe hinzugebracht. In unserer Zeit ist die Gentechnologie zum Maß der Dinge geworden. Die unterschiedlichen Sichtweisen schließen einander nicht aus, sondern sind wie verschiedene Brillen: das anfängliche von der Typologie ausgehende Bild wird auf Unstimmigkeiten untersucht und, falls notwendig, zurechtgerückt.
Die Suche nach den menschlichen Urahnen ist wie eine kriminalistische Aufgabe und birgt die Gefahr von Indizienbeweisen. Dazu kommt der Zahn der Zeit, der über 1-10 Millionen Jahre an den Knochen nagt. Bei der Rekonstruktion wird gerne vergessen, dass postmortale Deformierungen den Fund erheblich verändert haben können. Um ihre Bruchstücke zum dreidimensionalen Konstrukt zusammenzufügen, benutzen die Paläoanthropologen künstliches Füllmaterial, das die Fugen verkittet. Den Abrieb an den Bruchstücken können sie indes nicht abschätzen, weil sie den wahren Ausgangszustand nicht kennen.
Aus diesem Grund, so wettert Tim White, sei Kenyanthropus platyops, der flachgesichtige Mann aus Kenia, ein Kunstprodukt.
Wenn man mehr als 1000 Knochensplitter zusammenfügt, herrscht der Kitt vor und nicht das ursprüngliche Aussehen. Den Effekt durch die künstliche Matrix kann kein bildgebendes Verfahren wegretouschieren.
Was bietet Tim White als Alternative?
Die Abkehr vom typologischen Denken, das von analytischen Fehlern beherrscht wird. Statt dessen hin zur modernen Biologie mit dem Blick auf die Gemeinsamkeiten.
Die Untersuchungen über den gemeinsamen Stammbaum der modernen Menschen, bei dem sich die Hautfarbe der Umwelt angepasst hat (vgl. Wie lässt sich beweisen, dass alle Menschen gleich sind?), ist ein Beispiel für das biologische Denken. Immer noch kontrovers diskutiert wird die Überlegung, dass Neanderthaler und die aus Afrika eingewanderten Menschen zunächst nebeneinander gelebt und sich später vermischt haben (vgl. Sind wir mehr Neandertaler als wir glaubten?). Deshalb meint Tim White: "Weniger spitzfindige Theorie, sondern mehr Bezug zur Realität." Warum sollten sich unsere Ur-Urahnen soviel anders verhalten haben als die Menschen aus der Zeit der Völkerwanderungen?