Arztbesuche für 800 Euro: Was ein Lobbyist auf Kosten gesetzlich Versicherter vorschlägt
Finanzexperte hat Vorgeschichte im Aufsichtsrat einer Versicherungsgruppe. Angeblich gehen die Menschen zu oft zum Arzt. Sind wir alle Hypochonder?
Wer den Namen Bernd Raffelhüschen nicht kennt, könnte folgende Sätze von ihm für einen satirischen Aufklärungsversuch über die Grausamkeit der neoliberalen Ideologie halten:
Gesundheit ist für Menschen etwas, das nichts kostet. Sie können zum Arzt gehen, ohne zu zahlen. Das muss sich ändern. Preisfühlbarkeit muss her.
Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen, Hochschullehrer und Lobbyist
Aber Raffelhüschen meint das ernst. Daran hat er im Gespräch mit der Bild keinen Zweifel gelassen. Als "ehrgeizigen Reformplan" bezeichnet das Blatt die aktuellen Vorschläge des Professors für Finanzwissenschaft an der Universität Freiburg, der seit vielen Jahren auch als Lobbyist der Versicherungswirtschaft in Erscheinung tritt.
Laut seinem "Reformplan" sollen Kassenpatienten in Zukunft die ersten 800 Euro für Arztbesuche selbst tragen – stationäre Operationen ausgenommen. Was darüber hinausgeht, soll von der Versicherung zu 50 Prozent erstattet werden, bis innerhalb eines Jahres 2.000 Euro zusammengekommen sind. Erst ab 2001 Euro soll alles von der Kasse übernommen, "denn das würde sonst zu teuer", meint Raffelhüschen gönnerhaft.
Zu teuer wird es aber gerade für vulnerable Gruppen wie chronisch Kranke, die nur in Teilzeit arbeiten können, sowie für einige Rentnerinnen und Rentner schon sehr viel früher. Die absehbare Folge einer solchen "Reform" wäre, dass gesetzlich Versicherte, die nicht überdurchschnittlich verdienen, bei Krankheitssymptomen Arztbesuche länger aufschieben – auch auf die Gefahr hin, das lebensgefährliche Krankheiten zu spät erkannt werden.
Männer gehen schon jetzt oft zu spät zum Arzt
Vor allem Männer, die dazu erzogen sind, nicht "wehleidig" zu sein, gehen aber schon jetzt häufig zu spät zum Arzt. Dass sie im Durchschnitt fünf Jahre früher sterben als Frauen, führen Gesundheitsexperten und Psychologen teilweise genau darauf zurück.
Für Frauen ist es selbstverständlich, mindestens einmal im Jahr zum Frauenarzt zu gehen – für Männer gibt es nichts Vergleichbares. Ab 35 Jahren gehen Routineuntersuchungen beim Allgemeinmediziner los, aber da waren viele von ihnen seit 20 Jahren in keiner Praxis mehr. Sie dann für einen regelmäßigen Besuch zu gewinnen, ist schwierig.
Matthias Stiehler, Mitherausgeber des Männergesundheitsberichts und psychologischer Berater.
Nun sind aber auch die jährlichen Besuche der Frauen in gynäkologischen Praxen keine Übertreibung, sondern werden unter anderem zur Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs ausdrücklich empfohlen – bei hormoneller Verhütung oder Spirale empfehlen Fachleute sogar halbjährliche Untersuchungen.
Bei anderen Fachärzten haben es gesetzlich Versicherte ohnehin schwer – Wartezeiten von einem Monat liegen im Durchschnitt, es können aber auch zwei oder drei Monate werden. Wenn im Ernstfall trotzdem Zweitmeinungen eingeholt werden, geht es oft um sehr folgenreiche Entscheidungen im Fall planbarer Operationen. In solchen Fällen haben gesetzlich Versicherte bisher auch ein Recht darauf, eine ärztliche Zweitmeinung einzuholen.
Raffelhüschen, der weder Gesundheitsexperte noch Psychologe ist, geht aber davon aus, dass zahlreiche Menschen mehr oder weniger aus Langeweile viel zu oft bei ihrem Hausarzt vorbeischauen und will das vermeintliche Hobby für die unteren Einkommensklassen unbezahlbar machen: "Viele Menschen gehen wegen eines Hustens oder Schnupfens viermal zum Arzt. Das geht nicht. Da müssen wir gegensteuern."
Wiederholte Arztbesuche nach schneller Abfertigung
Tatsächlich gehen Deutsche im Durchschnitt öfter zum Arzt als Menschen in europäischen Nachbarländern – das ist seit Jahren bekannt. Zugleich nehmen sich Ärzte in anderen europäischen Ländern wie Schweden aber deutlich mehr Zeit für ihre Patienten.
Logisch ist, dass bei schneller Abfertigung auch leichter etwas übersehen wird und die Betroffenen wenig später wiederkommen. Deshalb sind sie noch lange keine Hypochonder. In einer ARD-Dokumentation zu diesem Thema wird unter anderem eine Frau vorgestellt, deren Gallensteine jahrelang nicht diagnostiziert wurden. Bis kurz vor dem Leberversagen. Es sei knapp gewesen und Glück, dass seine Kinder "noch eine Mama haben", sagt ihr Partner.
"Wir", sagt Raffelhüschen, könnten "uns das System nicht mehr leisten". Sein Szenario: "Wir steuern auf 35 Prozent Beitragssatz zu, wenn sich nichts ändert." Nur darf sich aus seiner Sicht natürlich nichts daran ändern, dass es eine Beitragsbemessungsgrenze gibt, durch die Besserverdienende prozentual weniger zahlen als Normal- und Geringverdienende. Würde diese Deckelung abgeschafft und alle Einkommensarten berücksichtigt, müssten die Beitragssätze nicht steigen..
Wenn Lobbyisten als "Experten" vorgestellt werden
Raffelhüschen zielt aber darauf ab, dass Menschen, die knapp bei Kasse sind, eine Zusatzversicherung abschließen, um im Krankheitsfall nicht plötzlich 800 Euro auftreiben zu müssen
Er selbst saß längere Zeit im Aufsichtsrat der ERGO-Versicherungsgruppe und ist Botschafter der unternehmerfinanzierten "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft". Bereits 2009 kritisierte Marvin Oppong in der taz, dass ein solcher Lobbyist beispielsweise in einem Interview mit Bayern 2 als "Rentenexperte" vorgestellt werde. Die Bild hat ihn nun als "Deutschlands führenden Finanzexperten" vorgestellt.
Geringverdienende soll zwar laut Raffelhüchen der Staat mit Zuschüssen unterstützen – die Frage ist aber, ob sie auch alle den bürokratischen Hürden bei der Antragstellung gewachsen wären. Letzteres ist zweifelhaft, weil gerade im Niedriglohnbereich viele Menschen mit nicht perfekten Deutschkenntnissen beschäftigt sind – und Formulare in Amtsdeutsch überfordern teilweise selbst diejenigen, deren Muttersprache Deutsch ist.
Dass nicht alle Betroffenen von ihren Rechten Gebrauch machen, dürfte bei Sparkonzepten wie diesem bewusst einkalkuliert sein.
Hinzu kommen Vorschläge, die Menschen wegen ihres Stoffwechsels diskriminieren oder Überwachungsmechanismen voraussetzen: Auch Raucher sollen nämlich an möglichen Folgekosten extra beteiligt werden; Übergewichtige müssten ebenfalls mit höherer Selbstbeteiligung bei Arztkosten rechnen – aber nicht jeder Sport schützt vor zusätzlichen Kosten, denn auch die Folgen von "Risikosportarten" müssten komplett selbst bezahlt werden.
Die Zahl der Kliniken soll dann auch um 30 bis 40 Prozent sinken. Denkbar wäre das: Schließlich könnte, sobald die anderen Vorschläge aufgegriffen werden, manches gebrochene Bein eher notbehelfsmäßig zu Hause geschient werden – und manche Diagnose bis zum Tod im heimischen Bett ausbleiben.
Nur die Starken und Finanzstarken sollen demnach überleben. Sozialdarwinismus wurde auch im Faschismus großgeschrieben.