Atemlose Ungeduld und Hinweggleiten über Abgründe

Bild: © Lupa Film, Hanno Lentz, DCM

Zwischen Sodom und Gomorrah: Im Schlund der "Weimarer Erfahrung" verfilmt Dominik Graf Erich Kästners "Fabian"

Eine Zeit bricht zusammen. Eine tausendjährige Kultur bricht zusammen. Es gibt keine Pfeiler und Stützen, keine Fundamente mehr, die nicht zersprengt worden wären ... Die Welt zeigte sich als ein blindes Über- und Gegeneinander entfesselter Kräfte ... Maschinen entstanden und traten anstelle der Individuen.

Hugo Ball, Schriftsteller, 1917

Ein fließender Übergang zieht uns hinein, nicht allein in den Film, sondern in eine ganze Epoche. Als zu Beginn die Kamera in eine Berliner U-Bahn-Station steigt und sich durch das Passantengedränge schiebt, sieht man Menschen, Kleidung, Gesten und Gesichter unserer Gegenwart. Wir selbst könnten da gerade stehen und auf einen der Wagen warten, die immer noch in dem gleichen Gelbton lackiert sind wie in den 1920-er Jahren.

Doch dann macht das Bild eine schnelle Drehung, unmerklich tragen mehr und mehr der Menschen Stehkrägen und Schiebermützen, die Männer Schnurrbärte und Hüte, die Frauen Pagenkopf und Jacketts. Das Bild schiebt hinein in die Zwanziger, die zwar keineswegs für alle "golden" waren, vielen aber so vorkamen, im Rückblick und wissend um die braunen Dreißiger.

Oben, als die Kamera und mit ihr unser Blick aus dem U-Bahn-Ausgang heraustritt, steht Fabian (Tom Schilling), eine Zigarette im Mundwinkel und wird dort von einem Bettler angesprochen, dessen Gesicht fürchterlich versehrt ist. Aus dem Loch, das mal ein Mund war, stammelt es: "Dieser Krieg, dieser verdammte Krieg."

Die Kriegskrüppel und Kriegszitterer - sie gehören zu den vielen Motiven, die im Kontrast zur "Cabaret"-Welt mit Federboa und Blauem-Engel-Flair ebenso die "Weimarer Erfahrung" ausmachen.

Es gibt so viel mehr: Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs war die zuvor nur futuristisch imaginierte Herrschaft der Maschinen tatsächlich ausgebrochen. Sie hatten den Krieg gewonnen. Es gab Flugzeuge und Panzer, plötzlich fühlten sich die Menschen dezentriert, in ein "Zeitalter der Massen" geworfen, in der der Einzelne nichts mehr zählte, das Individuum in tausend Atome zersplitterbar geworden schien und von der Übermacht der Technologie niedergewalzt. Filme wie Charlie Chaplins "Modern Times" und Fritz Langs "Metropolis" gaben dieser Erfahrung ihre Bilder. Die Antwort gaben die Variationen der Idee des "Neuen Menschen".

Diese Weimarer Erfahrung ist vor allem eine sinnliche, differenzierte, komplexe. Weimar war Drama und Tragödie, es war aber auch Komödie und Farce, es war insgesamt ein faszinierendes Laboratorium des Menschenmöglichen.

Atemlose Ungeduld und Hinweggleiten über Abgründe (11 Bilder)

Bild: © Lupa Film, Hanno Lentz, DCM

Weimar ist nach wie vor unverstanden

Weimar war optimistisch in dem Sinn, dass alles möglich, nichts festgefügt war, das man experimentierte: Mit sich, mit anderen, mit der Welt. Weimar war das Gegenteil zu allem Heute. Wir Heutigen leben in einem unglaublich fantasielosen, mutlosen, uninspirierten, feigen Zeitalter, das sich unglaublich viel auf seine Erfahrungen zugutehält, aber doch vor allem saturiert ist, sich in Sicherheit wiegen möchte, obwohl Angst und Unsicherheit mit Händen zu greifen sind.

Nur dass den Menschen heute die Rezepte dafür fehlen, mit ihrer Angst umzugehen. Durchzogen von einem Historismus, einer Vergangenheitsseligkeit, die nur mühsam die Abwesenheit jeder Zukunft tarnt.Die Vergangenheitsbesessenheit unserer eigenen Epoche verweist auf ihre Zukunftslosigkeit, darauf, dass wir uns die Zukunft nur als Katastrophe vorstellen können, als Untergang, mindestens "Untergang des Abendlandes". Und damit sind wir paradoxerweise nicht mehr ganz so weit weg von "Weimar". Nur dass seinerzeit dieser Untergang gerade stattgefunden hatte.

Weimar ist nach wie vor unverstanden. In seiner Bedeutung, in den Anregungen, die oft nicht aufgenommen wurden, die im Möglichkeitsreich verblieben, in den möglichen Geschichtsverläufen und nicht nur deutschen Zukünften, die in der Weimarer Republik angelegt sind.

Der kulturelle Reichtum der Weimarer Epoche lässt sich nicht in wenigen Schlagworten oder Kategorien wie Nationalismus und Utopie, Kritische Theorie und Seinsgeschichte etikettieren. Für das geistige Klima der Epoche war zum Beispiel keineswegs nur Berlin ausschlaggebend, sondern ebenso Hamburg und Frankfurt, Heidelberg und Dessau, München und sowieso Weimar, und bisschen war diese ersten deutsche Republik auch eingespannt zwischen den Polen New York, Moskau, Paris und Wien. Der Geist der Zwanzigerjahre mit ihren einzigartigen wissenschaftlichen und literarischen Leistungen war über ganz Deutschland verbreitet.

Die Weimarer Erfahrung und die der Zwanzigerjahre, der Roaring Twenties, ist bis heute nicht ganz ausgelotet. Wahrscheinlich sogar weniger, denn je. Auch Dominik Graf gibt in seinem Film nicht vor, das tun zu können. Er nähert sich ihr aber an.

"Bonn ist nicht Weimar." Und Berlin?

Graf ist nicht der Erste. Die letzte Faszinations-Welle begann mit dem Film "The Great Gatsby" (2013). Die ARD-Serie "Babylon Berlin" hat es seit 2017 auf vier Staffeln gebracht. Stefan Ruzowitzkys Film "Hinterland" reist in die österreichischen Zwanzigerjahre. Im Laufe des vergangenen Jahres scheint auch die Corona-Pandemie Parallelen zur Spanischen Grippe geradezu herauszufordern.

Woher dieses Interesse? Es ist nicht nur die frivole Lust daran, sich mit untergehenden Demokratien zu befassen, und die scheinbar offenkundige Parallelen zum heute festzustellen.

"Bonn ist nicht Weimar" - Über 40 Jahre lang, bis zum Ende der Bonner Republik galt diese Sentenz, fast wie ein Katechismus der Bundesrepublik; vielleicht sogar noch darüber hinaus, bis zur Umsetzung des Hauptstadtbeschlusses. Ob auch die Berliner Republik, die mit Gerhard Schröders Kanzlerschaft begann, "nicht Weimar" ist, das muss sich erst noch weisen.

Weimar ist immer noch das Menetekel der zweiten deutschen Republik. Es ist auch in diesem Sinn lebendige Vergangenheit nicht nur für Berlin.

Bei allen Unterschieden zur Gegenwart gibt es trotzdem Ähnlichkeiten. Sie liegen in einer zunehmenden Entfremdung des Menschen, in einer zunehmend desintegrierten Gesellschaft und im wachsenden Misstrauen gegen die parlamentarische Demokratie. Historische Situationen sind unwiederholbar, sie können vor allem nicht isoliert betrachtet werden von Vorgeschichten und Kontexten.

Die Anfänge von Weimar liegen schon in der Entwicklung des 18. und 19. Jahrhunderts. Aber aus diesen Wurzeln speisten sich auch die Gegner der Ersten Republik, die Konservative Revolution, die Militaristen, Antisemiten, Revanchisten und die Nationalbolschewisten. Aus diesem Gebräu schöpften schließlich die Nationalsozialisten den Rahm des politischen Gewinns.

Was kann man lernen von Weimar?

Was kann man lernen von Weimar? Vielleicht, dass intellektuelle und moralische Überlegenheit noch nicht vor der politischen Niederlage schützt.

Vielleicht auch, dass Demokratie nicht immer und notwendig die beste aller Staatsformen bedeutet, dass Zweifel an ihr gute Gründe haben können? Zumindest scheint die theoretische Idee, dass in der Demokratie der Wandel zum politischen Programm wird, in der Praxis von 39 Jahren mit nur drei Kanzlern und zuletzt einer 16-jährigen, nur kurz unterbrochenen Großen Koalition - nicht besonders plausibel.

Aus "Weimar" lässt sich aber lernen, dass das Moment der ständigen Selbstverbesserung, so sehr es, wie ihre Verteidiger argumentieren, einer liberalen politischen Ordnung auch eingeschrieben sein mag, kein Naturgesetz ist. Mehr zu versprechen, als man zu halten imstande ist, hat in der Weimarer Republik viele Bürger am System frustriert. Nichts mehr zu versprechen, und keine Zukunftsvorstellungen für die eigene Gegenwart zu entwickeln, nur ihre unendliche Fortschreibung, frustriert aber auch ungemein.

Es sind diese Erfahrungen und Überlegungen, vor deren Hintergrund Dominik Graf Erich Kästners Geschichte erzählt.

Der Roman Kästners war Ausdruck einer literarischen Tendenz, die sich mit fast provokatorischem Gestus gegen den Anfang der Zwanzigerjahre kurz tonangebenden Expressionismus richtete. Man gab dieser Richtung den Namen "Neue Sachlichkeit" - wie unter der Bezeichnung "Expressionismus" segelte auch unter dieser Flagge vieles und heterogenes.

Noch heute stechen anti-expressionistische Schlankheit und sarkastische Ironie hervor, noch heute liest man den Roman bei aller Sentimentalität und heimlichen Romantik als nüchterne, dabei persönliche Bestandsaufnahmen einer Krisensituation, die von illusionslose Hellsicht geprägt ist, aber gepaart mit früher Ohnmacht.

Vor allem ist "Fabian" nicht denkbar ohne den Hintergrund der Metropole Berlin und ihrer inneren Verfassung in den hektischen und verhängnisvollen letzten Jahren einer Weimarer Republik, die bereits ihrem Ende entgegentaumelte.