Atomkraft hat immer Vorrang

Meiler für die nächsten 100 Jahre: Frankreich rüstet in aller Ruhe für Atomkraft im 21. Jahrhundert

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Während sich die Deutschen erbittert um einige Jahre Laufzeitverlängerung streiten, rüstet Frankreich in aller Ruhe für die Atomkraft im 21. Jahrhundert - an einen Ausstieg denkt dort niemand ernsthaft. Demonstriert wird Frankreich gegen die Rentenreform - gegen Atomkraft sind Streiks und Demos allerdings noch undenkbar.

Der Spruch „Atomkraft – nein Danke“ bringt in Deutschland jedes Jahr zehntausende Menschen auf die Straße. Beliebter hat sich die Bundesregierung mit der Aufhebung des Atomkonsens nicht gemacht, schließlich lehnen immer noch rund 70 Prozent der Deutschen Laufzeitverlängerungen ab. Neue AKW zu bauen, trauen sich in Deutschland nicht einmal mehr die glühendsten Befürworter.

Kernkraftwerk Cruas an der Rhône

Während sich hierzulande Atomgegner an Gleise ketten, Straßen besetzen und den Bundestag umzingeln, knipsen die Franzosen ihr Licht an und aus, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben: An den landesweit 58 Atomkraftwerken stört sich kaum jemand. „Die französische Atomkraft hatte von Anfang an nichts mit Demokratie zu tun“, meint Jean Pierre Minne vom Netzwerk Sortir du nucléaire. Es sind allein die mittlerweile privaten Energieversorger, allen voran die Électricité de France (EDF), und die staatlichen Sicherheitsbehörden, die darüber nachdenken, wie lange die Meiler noch laufen sollen.

Anders als in Deutschland, wo die „Haltbarkeit“ der AKW auf 30 Jahre datiert wurde, werden in Frankreich alle 10 Jahre weitere Genehmigungen vergeben. In beiden Ländern stellt sich aber nach 30 Jahren Atomkraft die Frage, wie es grundsätzlich weiter gehen soll – in Frankreich jedoch ohne großes öffentliches Tamtam. Die staatliche Autorité de Sûreté nucléaire (ASN) prüft derzeit jedes einzelne AKW in Frankreich darauf, wie lange es noch Strom liefern kann. Das dauert. 2016 soll die Prüfung abgeschlossen sein.

Bei der EDF rechnet man intern mit Laufzeiten von 60 bis zu 100 Jahren

Als erstes nahm sich die Behörde das AKW im elsässischen Fessenheim vor. In ein paar Monaten wird EDF dann eine Genehmigung für die nächsten Jahre zugeteilt. Allerdings – wie die Behörde betont – mit Auflagen für den Austausch alter Druckwasserbehälter und höheren Sicherheitsstandards. Die Behörde nennt noch keine Zahlen, geht aber maximal von 10 Jahren Laufzeitverlängerung bis zur nächsten Generalrevision aus.

Bei der EDF rechnet man intern mit Laufzeiten von 60 bis zu 100 Jahren. „Das kann die EDF gerne schätzen“, meint ASN-Sprecherin Evangelia Petit, „aber wir bestimmen, wie lange die privaten Betreiber ihre Reaktoren am Netz lassen dürfen“. Von einem generellen Ausstieg ist aber weder beim Staat noch bei den Betreibern die Rede.

Kühlturm des AKW Belleville von Neuvy-sur-Loire aus fotografiert. Bild: Peter Ossenberg

Auch an der neuen Generation des französischen Atomparks wird schon geforscht: Gleich an zwei Standorten in der Normandie – in Flamanville und Penly – werden Europäische Druckwasserreaktoren (EPR) gebaut. Laut der staatlichen Behörde zur Sicherheitsforschung (L'Institut de Radioprotection et de Sûreté Nucléaire, IRSN) soll dies der Test für die neue Generation von Atomkraftwerken werden. Der Entwickler, das Konsortium Areva NP (Nuclear Power), verspricht hohe Sicherheitsstandards und ein zehnmal geringeres Unfallrisiko. Doch das EPR-Projekt hat einen Haken: Die Baukosten für ein AKW beziffern sich mittlerweile schon auf astronomische fünf Milliarden Euro.

Erneuerbarer Strom in Frankreich bleibt zwangsweise in einer Nische

Angesichts dieser Pläne fragen sich Umweltschützer, wozu dann in Frankreich überhaupt noch von Erneuerbaren Energien die Rede ist, wenn sich an der Energieversorgung eigentlich nichts ändern soll. „Erneuerbarer Strom in Frankreich bleibt zwangsweise in einer Nische. Ein 'Weiter so' in der Atomkraft und der Ausbau der Erneuerbaren ist technisch schlicht unmöglich“, erklärt Yannick Rousselet von Greenpeace France:

Wenn Frankreich den angestrebten Anteil der Erneuerbaren Energien wirklich in sein Versorgungsnetz integrieren will, müssen die ältesten Atomkraftwerke sofort abgeschaltet werden.

Was jetzt geschehe, sei ein Systemkonflikt: Atomenergie sei im Gegensatz zu Wind- oder Sonnenenergie schwer regulierbar und könne nicht beliebig hoch und runtergefahren werden. So komme es, dass die Einspeisung von erneuerbaren Strom ins Versorgungsnetz derzeit regelmäßig geblockt wird, da es sonst zur Überlastung kommt.

Es werden ständig Windanlagen vom Netz gekommen, Atomkraft hat immer Vorrang.

Yannick Rousselet

Derzeit gibt es in Frankreich auch keine Bestrebungen das Netz für die neuen Anbieter auszubauen – im Gegensatz zu Deutschland, wo in mehreren Studien der Deutschen Energieagentur (Dena) schon die Kosten für einen Netzausbau berechnet wurden. Deshalb warnen Umweltschützer auch, dass Frankreichs Politik – ebenso wie Deutschland – jetzt vor der Entscheidung steht, wie es die nächsten Jahrzehnte weiter gehen soll: Entweder würden Abstriche bei der Atomenergie gemacht oder die Energiewende hinzu einer ökologischen Stromversorgung müsse aufgegeben werden.

Mehr Strom!

Frankreichs Energieversorger halten sich allerdings für sehr klimafreundlich, Erneuerbare spielen nur eine Statistenrolle: Ihr Rezept gegen den Klimawandel ist schlicht, mehr Strom zu produzieren. Statt Energie zu sparen und auf Wind und Sonne zu setzen, will die französische Politik zusammen mit den großen Stromversorgern ihren „sauberen Atomstrom“ an den Mann bringen – unendliche Strommengen in allen Lebenslagen von der Heizung bis zum Transport.

Kühltürme des AKW Cruas mit einem 155m hohem Fresco, das im Auftrag von EDF zum Thema "Ökologie" entstand

Bestes Beispiel: Der neue Hype um die Elektroautos in Frankreich. Auf der Pariser Automesse darf man von der EDF gesponserte Elektroautos Probe fahren und der Pariser Bürgermeister Bertrand Delanoë will in seiner Stadt ein Car-Sharing einführen und 3000 Elektroautos in 700 Stationen bereitstellen. Das alles läuft in Frankreich unter dem Siegel der Klimafreundlichkeit.

Im Energiekonzept hat die Bundesregierung kürzlich darüber entschieden, wie lange die 17 AKW in Deutschland noch laufen dürfen. Im Gegensatz zu Frankreich ist jedoch allein die Laufzeitverlängerung schon ein Politikum. Maximal versucht die Politik hierzulande die Atomkraft als „Brückentechnologie“ zu verkaufen. Auch wenn das Kippen des Atomkonsens für die deutsche Anti-Atombewegung ein Skandal und ein Einknicken vor der Atomlobby war – in Frankreich können Atomgegner von so einer Öffentlichkeit nur träumen.

Frankreich wiegt sich in Sicherheit

Wie unterschiedlich die Sensibilitäten beider Länder sind, zeigt ein Vorfall, in dem derzeit von der ASN geprüften elsässischen AKW Fessenheim: Dort kam es erst im August zu einer Panne, bei der eine kleine Menge radioaktiven Gases entwich. Während in Frankreich darum kein großes Aufsehen gemacht wurde und die ASN weder Presse noch Politik von dem Vorfall informierte, erregte das auf deutscher Seite Entrüstung: Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) und die Medien empörten sich über das Verschweigen der Panne.

Nach offiziellen Angaben gab es in Frankreich schon seit über zwanzig Jahren keine Unfälle mehr über Kategorie 2, gemessen an der internationalen Sicherheitsskala von 0 – 7. Ab Kategorie 3 wird ein Störfall als „ernst“ kategorisiert. Auch der Vorfall in Fessenheim und die Pannenserie bei dem südfranzösischen AKW Tricastin 2008, bei dem rund 100 Menschen mit radioaktiven Partikeln kontaminiert wurden (siehe Tricastin: "Nicht irgendein Zwischenfall"), fallen erstaunlicherweise maximal unter 0 bzw. eins.

Doch auch in Frankreich regt sich Kritik am Sicherheitsmanagement der staatlichen Behörden. „Bei uns sind die Wege der Bürokratie lang und verschlungen“, meint Jean Pierre Minne vom Reseau Sortir du nucléaire. Das Netzwerk vereint gut 200 lokale Gruppen, die vor allem gegen den Transport von Uran und Atommüll mobil machen. Minne und seine Mitstreiter gehen aber auch schon mal selbst los und messen mit Geigerzählern die Radioaktivität in der Nähe von AKWs oder alten Uranminen. Von denen sind die meisten heute in Vergessenheit geraten.

Ich habe mehr als einmal erhöhte Werte gemessen. Solche Informationen geben wir weiter, aber das ändert wenig.

Jean Pierre Minne

Sortir du Nucléaire bezweifelt nicht die Darstellung der staatlichen Behörden, wie Minne betont, aber an vielen Stellen werde einfach nicht gemessen und grundsätzlich würde keine Verbindung zwischen den Werten und ihren Folgen für Mensch und Umwelt hergestellt: „Die Gefahren der Atomkraft werden in Frankreich grundsätzlich banalisiert.“

So würden die Weinbauern um das Pannen-AKW Tricastin erst jetzt zwei Jahre nach dem letzten Vorfall realisieren, dass ihre Weinmarken durch den Namen Tricastin und nicht untersuchte Nebeneffekte Schaden nehmen.

Die französische Energiepolitik funktioniert nach dem Motto: Schlafen sie ruhig, wir regeln das schon für Sie – und das funktionierte bis jetzt hervorragend.

Die Hoffnung, dass die Franzosen, doch noch einmal aufwachen und sich für eine alternative Energieversorgung stark machen, hat Minne noch nicht aufgegeben. Derzeit seien die Leute jedoch eher um ihre Renten besorgt. Einen landesweiten Streik gegen Atomkraft wird es wohl in absehbarer Zeit nicht geben.