Audiovisionen // Vor und nach dem Kino

Seite 4: Die Gegenwart der Zukunft // Hyperrealismus

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Noch nicht herausgeformt hat sich freilich ein Äquivalent zu den dominierenden A/V-Künsten der mechanischen und der industriellen Epoche, dem Drama und dem Spielfilm. Im – recht groben – Vergleich mit der Vor- und Frühgeschichte industrieller Audiovisionen ähnelt der aktuelle Stand allenfalls dem Ende des 19. Jahrhunderts. Wie damals, jedenfalls im Rückblick, wesentliche ästhetische Elemente der künftigen Spielfilmkunst bereits versammelt waren – in den Perspektiven des Panoramas, in den visuellen Effekten von Wagners Bayreuther Bühnenbetrieb, in den rudimentären Narrationen der chronofotografischen Clips und der Kurzstreifen von Edisons Kinetograph –, so lassen sich gegenwärtig wohl drei Elemente zukünftiger digitaler Audiovisionen ausmachen.

Auf der Suche nach einer digitalen Ästhetik

Die digitale Aufbesserung des 20 Jahre alten Blockbusters: Star Wars – The Phantom Menace. Bild: Fox

Erstens hat das Unterhaltungskino sich kontinuierlich digitale Mittel und Verfahren erobert. Technisch wie ästhetisch vorangetrieben wurde die Digitalisierung des Films dabei seit Mitte der 1970er Jahre vor allem durch George Lucas. Seine Firma Industrial Light & Magic (ILM) produzierte in den 1980er und 1990er Jahren mehr Meilensteine des (proto-) hyperrealistischen Kinos als alle Konkurrenten und bestimmte mit den eigenen Forschungsschwerpunkten den Verlauf der A/V-Digitalisierung. Seit den frühen neunziger Jahren hob Lucas die etablierten Strukturen industrieller Studioproduktion sukzessive zugunsten der individualisierten Praktiken digitaler Wissensarbeit auf. Die Kombination der Innovationen, zu denen es schließlich 1999 kam – von der Premiere des ersten gänzlich digital bearbeiteten Kinofilms Star Wars – The Phantom Menace über die Reihe erster öffentlicher digitaler Vorführungen bis zur Erprobung der ersten digitalen Filmkamera –, ließ die Jahrtausendwende zur Sattelperiode werden, auf die filmhistorisch die Geburt des digitalen Films datiert. Lucas wurde damit, wie Rob Sabin in der New York Times schrieb, „derjenige, der einem Vater des digitalen Kinos am nahesten kommt.“ Er selbst bemerkte im Jahr 2000 zur Zukunft von Zelluloid als materialem Träger audiovisueller Erzählungen:

Ich liebe Film, aber er ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Das Jahrhundert des Films ist vorbei. Wir leben jetzt in der digitalen Epoche ...

Zwar schuf George Lucas keine neue Kunst- und Erzählform, er modernisierte mit dem Übergang ins digitale Transmedium das tradierte filmische Erzählen aber so nachhaltig wie einst die Einführung des Tonfilms, der Übergang also von visueller Monomedialität zur audiovisuellen Intermedialität. Wie Wagner im Medium der Bühne Elemente industrieller Audiovisualität antizipierte, so Lucas im Medium des Films digitale Audiovisualität. Verschlossen blieb beiden jedoch jenes Moment, das den Kern der neuen Medien ausmachte: Wagners Bühnenspektakeln die Bewegung durch Raum und Zeit, wie sie erst der Film leisten konnte; Lucas’ Filmspektakeln der interaktive Umgang mit der Fiktion, wie er im digitalen Transmedium dank Flüssigkeit und Rückkanal technologisch gesetzt ist.

In dieser Hinsicht dürften zweitens die grafisch wie narrativ einfachen Video- und Computerspiele, die im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts aufkamen, jenen Part einnehmen, den die Chronofotografie im Prozess der medialen Industrialisierung spielte. Denn wenn auch ästhetisch inferior blieb, was vor dem Film an visueller Bewegung mittels fotografischer Apparaturen erzeugt wurde, so gelang doch medientechnisch die Herstellung des zentralen Effekts industrieller Audiovisualität, die Verräumlichung der Zeit und ihre Rekombination zum Lauf der Bilder. Ebenso realisieren digitale Spiele, wenn auch – noch – nicht in hyperrealistischer Bildqualität, mittels individualisierter Steuerung des audiovisuellen Geschehens und subjektiver Blickkontrolle eine mitspielerische Immersion und Echtzeit-Interaktivität bis hin zu virtueller Präsenz.

Hyperrealistische Synthespians: Final Fantasy (USA/Japan, 2001). Bild: Sony

Conditio sine qua non fiktionaler Partizipation sind freilich drittens Software-Darsteller, deren Handeln in der Produktion wie bei der Rezeption arbiträr manipulierbar bleibt. Die Bemühung, solch hyperrealistische Synthespians zu erschaffen, währt bereits zwei Jahrzehnte. Fotorealistische Präsenz von Stars in Verbindung mit ihrer medialen Existenz außerhalb der Fiktionen unterminiert die Wirkung hyperrealistischer Audiovisionen und steht auch deren interaktiver Steuerung entgegen. Adäquater „verkörpern“ virtuelle Helden die digitale Menschheit und ihre ästhetischen Sehnsüchte. Auf den Niedergang des Filmschauspielers deutet nicht nur seit Mitte der neunziger Jahre der Aufstieg virtueller Helden, die wie in Casper (1995), Toy Story (1995), Dragonheart (1996), Shrek (2001) oder gar Final Fantasy (2001) ganze Filme tragen. Deutlicher noch indiziert ihn die kuriose Konversion fotorealistischen Spiels in hyperrealistisches, etwa in Sin City (2005) oder A Scanner Darkly (2006).

Shrek. Bild: Universal

Ein Grund mag im Zerfall der industriellen Ordnung der Dinge und des Lebens liegen. Immer weniger erscheinen wir uns als gefestigtes bürgerliches Original, wie es der Theaterschauspieler auf der Bühne darstellt, oder als stets gleiche massenmenschliche Kopie, wie sie der Filmstar auf die Leinwand bringt, sondern eher als situativ wechselnde Varianten teils konkurrierender, teils komplementärer Lebensentwürfe. Dieser Beobachtung korreliert, dass der fantasmatische Profanraum, in dem aktuelle Wissensarbeiter ihre – multiplen – Identitäten erproben, sich nicht länger im Real-, sondern im Datenraum findet. Dort vollendet sich der Prozess entmaterialisierender Entortung, der mit dem Film begann: Wo auf der Bühne noch Menschen aus Fleisch und Blut stehen, zeigt das Kino Lichtbilder. Online streifen nun nach den Darstellern auch die Zuschauer, indem sie zu virtuellen Mitspielern werden, ihre Körperlichkeit zugunsten medialisierter Präsenz ab. Das ideale Publikum hyperrealistischer Helden stellen Avatare.

Quartäre Audiovisualität

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts schwindet so die kulturelle Dominanz des reproduzierenden Fotorealismus. Wenn nicht an seine Stelle, dann doch an seine Seite tritt hyperrealistische Audiovisualität. Bietet mechanische Audiovisualität eine nicht speicherbare Spiegelung und industrielle Audiovisualität eine gespeicherte Spiegelung, die nur zeigen kann, was sich vor einem Objektiv tatsächlich zutrug, so bringt das digitale Transmedium die Befähigung zu fiktiver Spiegelung, beliebiger Speicherung und Nachbesserung. Bilder und Töne, gleichwohl sie fotorealistisch anmuten, entstammen dem technischen Prinzip nach unabschließbarer und arbiträrer Filterung, Konstruktion und Manipulation. Erstrebt wird anstelle manueller Imitation oder maschineller Reproduktion nun virtuelle Konstruktion. Deren Resultat ist weder Original noch Kopie, sondern eine Variante, die sich wiederum nicht nur endlos kopieren, sondern ebenso endlos variieren lässt.

Digitale Audiovisualität, das ist ihre kategoriale Differenz, verschmilzt gestalterische Souveränität, wie sie handwerklicher Bildlichkeit eignet, mit den Qualitäten industrieller Reproduktion. Diese einzigartige Ermächtigung erscheint gleich der Durchsetzung des Fotorealismus als Nach- und Vorteil. Ersteren sieht man im Verlust indexikalischer Authentizität. Er macht das Abbildparadigma der industriellen Medien als historisches Intermezzo erkennbar. Denn im digitalen Transmedium stellt sich die Frage nach der Authentizität der Gehalte wieder wie zu vorindustriellen Zeiten: als etwas, das sich nicht an mediale Qualitäten, sondern an Autorenschaft bindet.

Als Vorteil dagegen tritt die Manipulierbarkeit hyperrealistischer Audiovisionen durch Produzierende wie Rezipierende hervor. Ihre Popularisierung, wie sie sich in OFF- und Online-Spielwelten ankündigt, beruht dabei auf dem qualifizierten Einsatz digitaler Medientechnik nicht nur – wie bei Film und Fernsehen – durch Produzenten und Distributoren, sondern zur Nutzung des Rückkanals auch auf Seiten der Rezipienten selbst. Damit bedeutet digitale Audiovisualität medienhistorisch die nächste Entwicklungsstufe – den Übergang von der tertiären zur quartären Audiovisualität.