Auf Epidemien folgen Unruhen und Aufstände
Italienische Politologen haben historische Epidemien untersucht und gehen davon aus, dass auch nach der Corona-Pandemie die politische Instabilität stark zunehmen wird
Auf Epidemien sind oft Unruhen gefolgt. Das behaupten Massimo Morelli, Politologie-Professor von der Universität Bocconi , und Roberto Censolo von der Universität Ferrara in einem Artikel, der in der Zeitschrift Peace Economics, Peace Science and Public Policy veröffentlicht wurde. Die großen Pestwellen der Vergangenheit hätten gezeigt, dass einige Jahre nach Epidemien soziale Spannungen, die vor und während der Epidemie entstanden sind, in Aufständen münden.
Die beiden Autoren prophezeihen aufgrund historischer Belege, dass soziale Unruhen zwar während des Anhaltens der Covid-19-Epidemie klein gehalten werden und die Regierungen sich konsolidieren können, aber dass die ungelösten Konflikte vor der Epidemie an Stärke zunehmen werden, zumal sie verstärkt werden durch soziale Ungleichgewichte während der Epidemie. Zu erwarten sei also eine "scharfe Zunahme an politischer Instabilität". Auf die unterschiedlichen Dimensionen der Epidemien - an den Pestwellen im Europa des 14. Jahrhunderts war ein Drittel bis zur Hälfte der Bevölkerung gestorben - und die konkreten wirtschaftlichen Folgen gehen sie allerdings nicht ein.
Nach dem Jahresbericht von Freedom House, einer amerikanischen, durch Regierungsgelder finanzierten Organisation, sind von den 20 virulenten Protestbewegungen im Dezember 2019 wie den Protesten in Hongkong, Fridays For Future, Gelbwesten oder Movimento delle sardine, gerade noch zwei oder drei aktiv, während sich durch die von den Regierungen verhängten Einschränkungen und deren soziale und wirtschaftliche Folgen ein latentes öffentliches Unzufriedenheitsgefühl ausbreitet. So sei das Auftauchen der "Virusverschwörung" und das Leugnen der Schwere von Covid-19 ein Symptom für "potentielle gefährliche Brüche in der Gesellschaft".
Erst einmal lösen sich durch die Verhaltenseinschränkungen während der Epidemie die sozialen Bande, was auch die Protestbewegungen schwächt. Dazu kommt ein Anstieg von Angst, Depression und Stress, was die herrschende Aggressivität erhöhen kann. Das könne man bereits bei den Unruhen in den USA feststellen, die mit den Aufständen im 14. Jahrhundert nach der Großen Pest in England vergleichbar seien, in der Epidemie auch durch harte, auch militärisch durchgesetzte Maßnahmen wie Quarantäne, Wegsperren der Kranken, Verbot von Umzügen Beschlagnahmung von Eigentum etc. Auch in Frankreich oder in Florenz brachen Unruhen nach der Phase einer sozialen Ruhe während der Pest aus.
Epidemien schwächen die Opposition und stärken die Macht
Eine der Ursachen sei die durch die Epidemie verschärfte soziale Kluft. So wurde im frühen 19. Jahrhundert, im beginnenden hygienischen Zeitalter, der "Schmutz der Armen" für die Epidemie ausgemacht, immer wurden Sündenböcke ausgemacht. Es sind die Fremden oder die Migranten, aber es gab auch wie jetzt immer die Vermutung einer Regierungsverschwörung. So schlug die Cholera in Neapel (1891-1896) vor allen in den Armenvierteln zu. Die Menschen hielten sie für ein Komplott der Mächtigen, um die Zahl der Armen zu reduzieren. Und wie das Trump mit dem "chinesischen Virus" macht, wird gerne der Ursprung - und die Schuld - in ein anderes Land verlegt.
Die Forschung sei allerdings schwierig, weil es zwar detaillierte Daten zu Epidemien gebe, aber nicht über Aufstände, Proteste und Revolten. Die Autoren haben sich 57 Epidemien zwischen der Großen Pest und der Spanischen Grippe angeschaut. Nur in vier Fällen habe es Aufstände gegeben, die erwiesenermaßen nichts mit der Epidemie zu tun hatten. Die Analyse von 5 Cholera-Epidemien habe ergeben, dass in den 10 Jahren vor dem Ausbruch der Epidemien 39 Aufstände stattfanden, in den ersten 10 Jahren danach aber 71. Das stärke die These, dass die Zeit einer Epidemie ähnlich wie der Hegelsche Maulwurf als Inkubator für darauf folgende Aufstände wirke.
Die Maßnahmen zur Bekämpfung von Epidemien wirken nach den beiden Autoren historisch auf drei Ebenen. Erstens würde der Zusammenhalt zwischen Bevölkerung und Institutionen geschwächt, zweitens wird oft die Ungleichheit verstärkt und drittens führe der "psychologische Schock" zu irrationalen Narrativen über Ursachen und Ausbreitung.
Die Verhaltenseinschränkungen zur Bekämpfung einer Epidemie, so die Autoren, können von Regierungen auch strategisch zur Erweiterung ihrer Macht verwendet werden, wie das etwa Orban und Trump mit ihrer Law-and-Order-Politik machen. Besonders in Ländern, in denen es ethnische und politische Bruchlinien gibt, schlage das um in Repression von Bevölkerungsgruppen: "Protestbewegungen sind nun Versammlungen, die eine unmittelbare Intervention rechtfertigen und die direkt durch persönliche Ansteckungsängste geschwächt werden …, während die Toleranz gegenüber persönlichem Tracking und der Überwachung steigt." Das schwäche die Opposition und stärke die Macht.
Zuletzt führen die Autoren jedoch einen seltsamen Schwenk aus, der ähnlich wie eine Warnung vor einer zweiten Welle ist, wenn nicht hart genug durchgegriffen wird. Der schwache König Louis Philippe habe während der 1831 in Paris wütenden Cholera-Epidemie die Aufständischen "nicht entschlossen unterdrückt". Das habe die revolutionären Bewegungen ermutigt, die 1848 "explodierten" und 1871 zur Pariser Kommune führten, und zu den "gewaltsamsten klassenbasierten Repressionen" geführt. Man fragt sich, was die beiden Autoren damit sagen wollen: Sollen Protestbewegungen in Epidemiezeiten schnell und hart unterdrückt und ausgeschaltet werden, um weitere Aufstände oder um später eine noch gewaltsamere Repression zu verhindern?
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