Auf dem Weg in die Spaltung
Nach der einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo gehen die serbischen Proteste weiter. In den kommenden Monaten droht die territoriale Zersplitterung des Kosovo - Präzedenzfall für andere Regionen?
Die Stadtreinigung hat die Autowracks abtransportiert. Handwerker reparieren die eingeschlagenen Schaufensterscheiben in den Fußgängerzonen. Und selbst das ausgebrannte Botschaftsgebäude der USA in der Knez Milos Straße wird schon wieder renoviert. Die sichtbaren Folgen der tagelangen Randale in der Belgrader Innenstadt werden schnell übertüncht. Aber Normalität ist keineswegs eingekehrt.
Der vorläufige Höhepunkt der serbischen Proteste gegen die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo war die von der Regierung organisierte Großdemonstration am 21. Februar. Etwa 300.000 Menschen zogen vom Parlament zur Kathedrale des Heiligen Sava. Mehrere tausend Jugendliche griffen anschließend ein Dutzend Botschaftsgebäude westlicher Staaten an und plünderten etwa 90 Geschäfte, meist Filialen westlicher Firmen. Ein serbischer Flüchtlingsjunge, der 1999 aus Pristina vertrieben wurde, verbrannte in der US-Botschaft.
Aber auch wenn es seither nicht mehr zu einer solchen Eskalation der Gewalt gekommen ist, reißen die Demonstrationen nicht ab. Am Dienstag gingen in Banja Luka, der Hauptstadt des serbischen Teils von Bosnien-Herzegowina, über 10.000 Bürger auf die Straße. Nur starke Polizeikräfte konnten einen weiteren Sturm auf das US-Konsulat verhindern. Täglich demonstrieren Schüler, Studenten und Bürger in Kosovka Mitrovica, der größten serbischen Siedlung im Kosovo. Am vergangenen Montag versuchten etwa 150 Veteranen der serbischen Armee bei Mutivode einen Grenzpunkt zu Kosovo zu überschreiten. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen mit dem Kosovo Police Service (KPS). Zwar wurde nicht geschossen, aber die Luft war voll von Tränengas, Flaschen und Steinen.
Stimmungswechsel in Serbien
Es ist dabei nicht so sehr der Ausbruch der Gewalt, sondern das Verhalten von Politik und Öffentlichkeit, das den Stimmungswechsel unter der serbischen Bevölkerung anzeigt. Viele Bürger verurteilen zwar die Plünderungen, halten den Sturm auf die Botschaften im Grunde aber für eine „gelungene Aktion“, wie in den Belgrader Cafes bei schönstem Frühjahrswetter kaum verhohlen diskutiert wird.
Selbst hochrangige Regierungspolitiker zeigen Sympathien für die Randale. Velimir Ilic, Minister für Kapitalinvestitionen, kommentierte die Angriffe auf westliche Einrichtungen: „Sie zerschlagen unseren Staat, und wir ihnen ein paar Fensterscheiben. Das ist auch Demokratie.“ Auch Andreja Mladenovic, der smarte Sprecher der Regierungspartei Demokratischer Partei Serbiens (DSS) von Premierminister Vojislav Kostunica, erklärte zu den Ausschreitungen: „Jeder normale Mensch weiß, dass der Grund dafür die unerhörte Gewalt ist, die die Weltmächte gegenüber Serbien ausüben.“
Auch der national-konservative Premierminister Vojislav Kostunica hat seine Kosovo-Rhetorik noch einmal verschärft. In drastischen Appellen warnt er die USA und den Westen vor mittelfristigen Folgen des unilateralen Vorgehens im Kosovo. „Eine Fortführung dieser Politik der Gewalt wird die Krise vertiefen. Sie untergräbt die Grundlage der Weltordnung und bedroht Frieden und Stabilität auf dem Balkan.“
Volle Unterstützung bekommt Belgrad dabei aus Moskau. Das russische Außenministerium warnt vor der „Zerstörung der Weltordnung“ und nennt das Vorgehen der USA und wichtiger EU-Staaten „zynisch“. Demonstrativ besuchte Dmitri Medwedew, der Präsidentschaftskandidat des Kremls und wahrscheinlicher Putin-Nachfolger, am vergangenen Montag die serbische Hauptstadt, wo er überschwänglich empfangen wurde.
Präzedenzfall Kosovo und mögliche Folgen
Der serbische Protest gegen die Abspaltung Kosovos wird getragen von nationalistischen und patriotischen Gefühlen. Das Kosovo gilt mit seinen mittelalterlichen orthodoxen Klöstern in der nationalen Mythologie als das Herzstück serbischer Identität und Staatlichkeit. Angesichts der demographischen Tatsache, dass 90 Prozent der Bevölkerung des Kosovo Albaner sind, scheint die Obession mit der Geschichte allerdings anachronistisch.
Dennoch hat die serbische und russische Position ein gutes Argument auf ihrer Seite, das in der westlichen Öffentlichkeit bisher nur unzureichend verstanden wird. Denn die unilaterale Unabhängigkeitserklärung der Kosovo-Albaner vom 17. Februar verstößt ohne Frage gegen das geltende Völkerrecht. Sowohl in der UN-Charta als auch in der Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) von 1975 wird ausdrücklich die „territoriale Unversehrtheit“ von souveränen Staaten geschützt. Diese wird auch nicht durch das „Selbstbestimmungsrecht“, welches ebenfalls von der UN anerkannt wird, aufgehoben. Denn Grenzveränderungen sind im geltenden Völkerrecht nur durch Verhandlungen möglich. Ansonsten geht es um Krieg.
Die Anerkennung der unilateralen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo durch die führenden westlichen Länder schafft nun einen Präzedenzfall. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wird das Territorium eines souveränen Staates gegen den Willen von dessen Regierung zersplittert. Die machpolitische Grundlage dafür ist die Nato-Intervention im Kosovo im Frühjahr 1999, die ebenfalls nicht vom UN-Sicherheitsrat legitimiert war.
Der Fall Kosovo ist dabei nicht mit dem Zerfall der Sowjetunion, der Tschechoslowakei oder Jugoslawiens am Beginn der 1990er Jahre vergleichbar. Damals wurden immer nur bestehende Republiken einer Föderation getrennt, ohne aber die Grenzen zwischen den Republiken zu verändern. Und selbst wenn sich die albanische Mehrheit das wünschte, besaß Kosovo in Jugoslawien niemals den Status einer föderalen Republik. Auch nach dem Nato-Bombardement im Frühjahr 1999 wurde Kosovo in der formal noch immer gültigen Resolution 1244 der UN-Sicherheitsrates als integraler Bestandteil Serbiens definiert. Wie auf der Website der Nato nachzulesen ist, wird dabei die „Souveränität und territoriale Integrität der Bundesrepublik Jugoslawiens“, deren Rechtsnachfolger Serbien ist, ausdrücklich unter Berufung auf die Helsinki Schlussakte geschützt. Kosovo soll demnach lediglich eine „substanzielle Autonomie“ genießen.
Mit der jetzt erfolgten unilateralen Herauslösung Kosovos aus Serbien stellt der Westen damit nicht nur das Nato-Bombardement von 1999 in ein anderes Licht. Dieses wurde damals als der Versuch der Beendigung „ethnischer Säuberungen“ moralisch zu legitimieren versucht. Das Vorgehen der vergangenen Wochen ist vielmehr ein Erfolgsversprechen für militante ethno-separatische Bewegungen mit der Forderung nach Neuaufteilung von Staatsterritorium weltweit. Es reißt potentiell alle bestehenden Grenzen nieder. Kein Wunder also, dass bisher keine Regierung eines Staates mit virulenter Minderheitenproblematik das neue Kosovo anerkannt hat, während Sezessionsbewegungen im Baskenland, Abchasien, Süd-Ossetien oder die tamilische Bewegung auf Sri Lanka wesentlich verbesserte Ausgangsbedingungen für die Realisierung ihrer Ziele sehen. Selbst der britische Osteuropa-Kenner Timothy Garton Ash, ein prominenter Befürworter der westlichen Balkanpolitik, bezeichnet Kosovo als „Präzedenzfall“.
Die Hoffnungen mancher Unabhängigkeitsbewegungen könnten aber bald enttäuscht werden. Denn wie es in der internationalen Politik üblich ist, scheint auch in Zukunft eben nicht gleiches Recht für alle zu gelten. Es scheint eher zur Herausbildung eines flexiblen Umgangs mit dem „Prinzip der territorialen Souveränität“ und dem „Recht auf Selbstbestimmung“ zu kommen. Entscheidend werden in letzter Konsequenz militärische Machtverhältnisse sein.
Man muss kein Prophet sein, um zu prognostizieren: Ob „Selbstbestimmung“ oder „Souveränität“, das eine wie das andere wird jeweils dann maßgeblich sein, wenn es den dominanten westlichen Interessen dient. Manchmal wird die territoriale Souveränität eines Staates erhalten werden, auch wenn er ethnische Minderheiten auf seinem Gebiet brutal unterdrückt wie seit Jahrzehnten das türkische Militär die Kurden. Manchmal wird dagegen der Kosovo-Präzendenfall gelten. Als nächstes vielleicht in der Region Dafur im Sudan. Das zweierlei Maß ist allerdings ein Rezept für Gewalt und Chaos. Militante Separatisten könnten gerade in der Eskalation der Gewalt den Schlüssel zum Erfolg sehen. Das militärische Rezept der UCK, die noch 1998 auch vom US-Außenministerium als „terroristisch“ bezeichnet wurde, könnte so zum Vorbild werden.
Ansätze von Doppelherrschaft im Kosovo
Im Kosovo selbst herrscht seit der unilateralen Unabhängigkeitserklärung eine merkwürdige Situation der Unklarheit. Die kosovo-albanische Regierung von Ministerpräsident Hashim Thaci pocht darauf, dass ganz Kosovo in Zukunft aus Prishtina regiert wird. Er kündigt an, in den mehrheitlich von Serben bewohnten Landkreisen keine „Parallelinstitutionen“ zu dulden. Ganz anders dagegen die serbische Regierung. Sie verstärkt ihre materiellen Anstrengungen in den serbischen Gebieten Institutionen zu bilden, die aus Belgrad und nicht aus Pristina finanziert und kontrolliert werden. Es zeichnet sich eine Form der Doppelherrschaft ab.
Ganz deutlich wird dies im serbischen Nordteil von Kosovska Mitrovica. Dort protestieren derzeit beispielsweise ehemalige serbische Angestellte der Justizorgane vor den Gerichtsgebäuden. Sie haben nach dem NATO-Bombardement im Frühjahr 1999 ihre Arbeitsplätze verloren und sind durch Personal der UN-Verwaltung UNMIK ersetzt worden. Jetzt fordern die serbischen Richter, Staatsanwälte und Verwaltungsangestellten die Rückkehr an ihre früheren Arbeitsplätze. Sie wollen außerdem, dass das Gericht in Nord-Mitrovica unter die Aufsicht des Justizministeriums in Belgrad gestellt wird. „Kosovo ist Serbien“ steht auf ihren Transparenten. In Zvecan und Leposavic, den beiden anderen großen serbischen Landkreisen in Nord-Kosovo, wurde dieser Schritt bereits vollzogen. Wie die Presse berichtet, erscheinen UNMIK-Angestellte bei den Gerichten dort nicht mehr zur Arbeit.
Ähnliche Entwicklungen betreffen die Polizeiorgane. Nach Berichten von Balkan Insight verlassen serbische Beamte des bisher von UNMIK kontrollierten Kosovo Police Service (KPS) ihre Arbeitsplätze. „Wie kann ich das Gesetz im Auftrag eines illegalen Regimes schützen“, wird der KPS-Polizist Dragan Nedeljkovic zitiert. „Jahrelang habe ich die Menschen in Kosovo nicht als Serben oder Albaner, sondern als Bürger betrachtet. Aber diese Unabhängigkeitserklärung ist eine Provokation, die mich dazu zwingt, eine Seite zu beziehen.“ Gleichzeitig erkennen Belgrad und die Kosovo-Serben die neue „Rechtsstaatmission“ der Europäischen Union (EULEX) nicht an. Nach Angriffen auf das EULEX-Büro in Nord-Mitrovica zog sich diese vorerst aus allen serbischen Landkreisen zurück.
Die Distanz und das Misstrauen zwischen Serben und Albaner im Kosovo hat eine lange Geschichte. Spätestens seit dem Ende des Nato-Bombardements leben die Bewohner der serbischen Enlaven und die albanische Mehrheit sozial und territorial weitgehend von einander segregiert. Bisher allerdings akzeptierte Belgrad und die Kosovo-Serben mit der Resolution 1244 vom Juni 1999 die vom UN-Sicherheitsrat aufgestellten Rechtsgrundlage für das Verwaltungsregime der UNMIK auch in ihren Landkreisen. Diese gemeinsame Klammer zwischen serbischen Enklaven und den albanischen Selbstverwaltungsinstitutionen in Pristina bricht nach der einseitigen Unabhängigkeitserklärung nun zusammen. Mit unabsehbaren, aber potentiell gefährlichen Folgen.
Denn im Mai sollen nach Absichtserklärungen aus Belgrad in den serbischen Landkreisen des Kosovo zeitgleich mit den Kommunalwahlen in Serbien neue Gemeindeverwaltungen bestimmt werden. Kosovo wäre dann institutionell und territorial praktisch gespalten. Diese Entwicklung wird allerdings auf den erbitterten Widerstand kosovo-albanischer Nationalisten stoßen. Auch Nato-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer und EU-Außenpolitik Chef Javier Solana haben eine Spaltung ausgeschlossen. Ob sie aber die KFOR-Truppen in Gang setzen, um die Wahlen in den serbischen Landkreisen mit Gewalt zu verhindern, muss als fraglich gelten. Manche Beobachter wie der serbische Kosovo-Experte Dusan Janjic halten eine Entwicklung wie in Zypern möglich, wo internationale Truppen den Status quo eines gespaltenen Territoriums schon seit Jahrzehnten aufrechterhalten, ohne ihn de jure anzuerkennen.
Die Entwicklung eines „eingefrorenen Konfliktes“ könnte allerdings sogar im Kalkül mancher westlicher Diplomaten liegen. Der deutsche Kosovo-Unterhändler Wolfgang Ischinger hat die Idee der ethnischen Spaltung des Kosovo schon im vergangenen September als ein Kompromissvorschlag in die Diskussion gebracht. Er signalisierte damit, dass sie eine akzeptale Möglichheit darstellt. Würde sie tatsächlich realisiert, wäre das offizielle Kriegsziel der NATO von 1999 indes komplett in das Gegenteil verkehrt worden. Statt einer „multikulturellen Gesellschaft“ wäre im Kosovo unter internationalem Krisenmanagement die vollständige und dauerhafte ethnische Segregation nicht nur räumlich und sozial, sondern auch institutionell durchgesetzt worden.
Die Welt als ein Flickenteppich ethnischer Stammesgebiete? Zumindest für wirtschaftlich und institutionell instabile multiethnische Gebiete und Gesellschaften geht vom Kosovo ein bedrohliches Signal aus.