Auf dem Weg in die Tyrannei?

Seite 5: Imperiale Präsidentschaft

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Betrachtet man die bisherige Vorgehensweise der Bush-Administration, so sollte klar werden, warum die oben geschilderten Ereignisse so nachdenklich stimmen. Der US-Präsident, der Vizepräsident, deren Berater und anscheinend auch das Justizministerium erachten den Präsidenten als - zumindest in Kriegszeiten - den Teilgewalten des Staates übergeordnet.

Die sogenannte Unitary Executive Theory besagt, dass der Präsident als Vorsitzender der Exekutive in Krisenzeiten in die Befugnisse der anderen Teilgewalten eingreifen, sie sogar überstimmen kann, was bemerkenswerterweise nirgendwo in der US-Verfassung erwähnt wird, da es vom verfassungsgebenden Konvent auch nie so vorgesehen war.

Gleichzeitig ist Vizepräsident Cheney, wie auch Präsident Bush, der Meinung, nicht den üblichen Kontrollmechanismen innerhalb der exekutiven Teilgewalt zu unterliegen, sondern sozusagen außerhalb oder eher über der Regierung zu stehen.

All das reflektiert eine Tendenz zum Ausbau exekutiver Machtbefugnisse, die seit Beginn des 20.Jahrhunderts, von Präsident Theodore Roosevelt über Woodrow Wilson und Franklin D. Roosevelt bis hin zu Richard Nixon, Ronald Reagan, Bill Clinton und schlussendlich George W. Bush, zu beobachten ist. Diese Tendenz bewegte den Historiker Arthur M. Schlesinger Jr. zur These, es handele sich bei der amerikanischen Präsidentschaft inzwischen um eine „imperiale Präsidentschaft“. 9

Er begründet diese These unter anderem damit, dass sich eine Präsidentschaft, die sich Machbefugnisse aneignet, welche außerhalb jener liegen, die ihr gemäß der Verfassung zustehen, zur imperialen Präsidentschaft wandelt. Hinzu kommt der stetig wachsende Kreis von Beratern, Assistenten und anderem Personal sowie Gremien wie bspw. der National Security Council, die quasi zur Formierung einer „Regierung in der Regierung“ führten.

Machtzuwachs

Skandale wie Watergate waren ein weiteres Zeichen für eine außer Kontrolle geratene Präsidentschaft – eine logische Folge der strukturellen Defizite der „imperialen Präsidentschaft“.

Zwar endete jener Skandal mit dem Rücktritt Präsident Nixons, aber im Endeffekt wurden Konsequenzen hinsichtlich dieser Problematik lediglich in Bezug auf den Einsatz von Geheimdiensten wie der CIA und der NSA gezogen. Selbst diese Konsequenzen sind anlässlich der Terroranschläge des 11.09.01 seitens des Weißen Hauses wieder rückgängig gemacht worden.

Betrachtet man die Entwicklung der Vereinigten Staaten, so ist erkennbar, dass die Akkumulation imperialer Macht im Amt des Präsidenten mit dem Aufstieg der Vereinigten Staaten zur Welt- und Supermacht korreliert. Nach der dauerhaften Etablierung des, von Präsident Eisenhower argwöhnisch betrachteten, militärisch-industriellen Komplexes während des Zweiten Weltkrieges setzte der Prozess der selbstverschuldeten Entmachtung des Kongresses hinsichtlich der Kriegsbefugnisse ein – was wiederum zu einem Machtzuwachs für das Präsidentenamt führte.

Alarmierende Untätigkeit der Kongress-Mehrheit

Die Rolle der Legislative in diesem Prozess darf keinesfalls unterbewertet werden, schließlich hätte der Kongress diese Entwicklung theoretisch jederzeit aufhalten können, allein - die notwendigen Mehrheiten fehlten.

Das gegen Präsident Clinton 1998 eingeleitete Amtsenthebungsverfahren zeigt, dass der Kongress letztendlich immer mehr zum Instrument parteipolitisch motivierter Machtspiele verkommen ist.

Die aktuelle Ablehnung des Habeas Corpus Restoration Act im Senat, eines Gesetzesentwurfes, der die teilweise Außerkraftsetzung dieses - laut EU-Menschenrechtskonvention - Menschenrechtes rückgängig machen soll, zeigt ein weiteres Mal die alarmierende Untätigkeit der Kongress-Mehrheit - ebenso wie die Tatsache, dass US-Präsidenten immer häufiger in vom Kongress verabschiedete Gesetze mittels sogenannter Signing Statements eingreifen.

Demagogen und Kassandrarufe

Und so zeichnet sich eine Entwicklung ab, die, von der verfassungsmäßig fragwürdigen Konzentration außenpolitischer Macht im Amte des Präsidenten bis hin zur ebenso fragwürdigen, extra-legalen Interpretation innenpolitischer Befugnisse, eine logische Kette von Ereignissen bildet.

Diese scheint den Skeptikern auf dem verfassungsgebenden Konvent von Philadelphia 1787 Recht zu geben: Die Präsidentschaft ist in gewisser Weise der „Fötus der Monarchie“. Die Teilung der Staatsgewalten sollte die Entwicklung dieser „Kreatur“ eigentlich verhindern, hat dies letztendlich aber nicht geschafft.

Es bleibt zu hoffen, dass der rasante, kaum noch verhüllte Marsch der Vereinigten Staaten hin zur autoritären Überwachungsgesellschaft die nötigen Gegenkräfte erzeugt, um „das Pendel“ noch einmal in die entgegen gesetzte Richtung zu treiben; dass die amerikanische Zivilgesellschaft letztendlich stark genug ist, um diesen Prozess der Aushöhlung der pluralistischen Demokratie irgendwie aufzuhalten. Ansonsten steht zu befürchten, dass dieses, in vielerlei Hinsicht so großartige, Land den Weg geht, den vor ihm schon viele andere Nationen gegangen sind – den Weg in die Tyrannei.

In vollem Bewusstsein dieser Möglichkeit versuchen die Anhänger eines repressiven, autoritären Amerikas ihre Medienmacht für eine öffentliche Anpreisung diktatorischer Herrschaftsprinzipien zu nutzen. Harvey C. Mansfield, seines Zeichens Professor der Politikwissenschaft an der Universität von Harvard, veröffentlichte vor kurzem im Kommentarteil des Wall Street Journal seinen Artikel "The Case for the Strong Executive". Der zweite Teil seiner Überschrift lautet:

Unter bestimmten Bedingungen muss sich der Rechtsstaat dem Bedarf nach Tatkraft beugen.

Der gesamte Artikel bejaht die angebliche Notwendigkeit für eine „one-man rule“, eine Diktatur. Mansfield beschreibt die strong executive, sprich die Diktatur und die rule of law, also den Rechtstaat, zutreffenderweise als gegensätzlich zueinander. Allerdings lässt er auch keinen Zweifel daran, wem er im Zweifelsfall den Vorzug gibt:

[…] die Rechtsstaatlichkeit hat zwei Defekte, von denen jeder die Notwendigkeit einer Ein-Mann-Herrschaft nahe legt […] Die beste Quelle für Tatkraft erweist sich als dieselbe wie die beste Quelle für Vernunft, – ein Mann. Ein Mann oder, um Machiavellis Ausdruck zu zitieren, uno solo wird die größte Quelle von Tatkraft sein, wenn er es als notwenig betrachtet, die eigene Herrschaft zu erhalten. Solch eine Person wird den größten Anreiz verspüren, wachsam zu sein und sowohl grausam, als auch gnädig zu sein, im richtigen Zusammenhang und im richtigen Verhältnis. Wir reden über Machiavellis Fürsten, den Mann, den er, anscheinend in nachlässigen Momenten, einen Tyrann nannte (...)

Ein Politikwissenschaftler wird wissen, dass die Gründungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika aus vollster Berechnung heraus auf die „Effizienz“ und „Tatkraft“ eines Diktators verzichteten und stattdessen die komplizierte Gewaltenteilung wählten: um eben dem unvermeidlichen Missbrauch der Staatsmacht vorzubeugen.

„Strong people don’t need strong leaders“

Man darf also davon ausgehen, dass er ganz genau weiß, wonach er da ruft. Lebte Ella Baker noch, eine schwarze Aktivistin der US-Bürgerrechtsbewegung in den 60er Jahren, würde sie ihm wahrscheinlich mit dem Satz antworten, der ihr Credo war und das ihrer Organisation wurde: „Strong people don’t need strong leaders.“

Der Ruf nach einem starken Führer ist nichts Neues in der Geschichte der Menschheit – ebenso wie die Folgen einer solchen Herrschaft. Die Tatsache, dass ein Mitglied des amerikanischen intellektuellen Establishments öffentlich - und ohne damit einen Aufschrei der Entrüstung auszulösen - solche Aussagen tätigt, bedient wieder einmal die bekannte These, wonach der Mensch nichts aus der Geschichte lernt.

Wie formulierte es John Adams? „A Government of laws, not of men.“ Anscheinend kann Prof. Mansfield von der traditionsreichen Harvard University nicht mehr viel mit den Idealen der Gründer der Vereinigten Staaten anfangen. Da trifft es sich gut, dass die Voraussetzungen für eine tyrannische Herrschaft, um bei Machiavelli zu bleiben, seit dem Amtsantritt George W. Bushs und Richard Cheneys konsolidiert wurden.

Auch dafür hatte Adams eine Bemerkung übrig:

Bedenkt, Demokratie hält niemals lange an. Bald schwindet sie dahin, erschöpft sich und bringt sich schließlich selbst um. Es gibt keine Demokratie, die nicht irgendwann Selbstmord verübt.