Auf dem Weg zum Camembert-Faschismus?

Montpellier, Cours Gambetta

Warum gerade wir Deutschen Emmanuel Macron heute Abend einen möglichst deutlichen Wahlsieg wünschen sollten

Über Präsident Emmanuel Macron zu schimpfen, gehört in Frankreich zum guten Ton. Gewählt wird er trotzdem. Elitär sei er, Repräsentant der arroganten "Anywheres", einer globalen Machtelite in Wirtschaft, Medien und Politik, oder gar Ausdruck eines "Camembert-Faschismus", der Tyrannei der liberalen urbanen Mitte.

Aber wie gesagt: Gewählt wird Macron trotzdem. Und gerade wir Deutschen sollten Emmanuel Macron heute Abend allerdings einen möglichst deutlichen Sieg wünschen. Warum?

Deutsche Illusionen, französische Fakten

"Das erschöpfte Land"; "Das gespaltene Land", "Das geschwächte Frankreich", "auf der Strecke geblieben" - die Deutschen, vor allem die deutschen Medien, reden Frankreich schlecht. Man kann das alles nur glauben, wenn man der Hysterisierung des politischen Diskurses, die in Deutschland üblich ist, auf den Leim geht.

Aber nicht in jedem Land ist korrektes Polit-Sprech so dominant wie hierzulande, Emotion und scharfe, zugespitzte Formulierungen sind in Frankreich üblich. Man darf sie nur nicht für bare Münze nehmen.

Diese Rede vom "geschwächten", "erschöpften", "gespaltenen" Frankreich" begleitet die französisch-deutschen Beziehungen seit der Zeit des 1870/71er-Kriegs und Otto von Bismarck. Es ist die Wunschprojektion des deutschen Provinzialismus und einer zu spät gekommenen, nie zentral geeinten Nation, dass die Wiege der modernen Zivilisation und universalen Demokratie irgendwie "degeneriert" und "schwach", jedenfalls im Abstieg begriffen ist.

Tatsächlich hat die weit verbreitete deutsche Vorstellung, wonach Parteienstreit, Extremismus und die Spaltung der politischen Kulturen in rechts und links ein Zeichen der Schwäche sei, die Republik in Deutschland 1918 - 1933 zerstört, während aber die Dritte Französische Republik nach der Niederlage von 1870/71 trotz "Kommune", "Weimarer Verhältnissen" und "Volksfront" über 70 Jahre erstaunlich stabil geblieben ist.

Die Fakten sind kompliziert.

Das französische Bruttosozialprodukt (pro Kopf) liegt zwar deutlich unter dem der Schweiz und auch etwa 15 Prozent unter dem der Bundesrepublik, aber klar vor Großbritannien, Italien und Spanien.

Die Steuern, die durchschnittlich nur bei 27 Prozent des Lohns liegen, sind zugleich deutlich niedriger als die in Deutschland (38,9 Prozent), so dass die Franzosen insgesamt reicher sind als die Deutschen.

Frankreichs Wirtschaft steht trotz Corona besser da als bei Macrons Amtsantritt.

Die Arbeitslosenquote ist unter Macron deutlich zurückgegangen. Die Ausbildungszahlen aber auch. 40 Milliarden Euro fließen als EU-Fördermittel nach Frankreich. Nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs hat sich die französische Wirtschaft robust und besser entwickelt als die deutsche.

Natürlich gibt es auch Gegenargumente. Unter der durch die antirussische Sanktionspolitik der EU und den Ukraine-Krieg verschärften gegenwärtigen Inflation leiden die Franzosen wie alle Europäer. Das Problem hoher Lebenshaltungskosten und schwindender Kaufkraft ist für die Franzosen laut Umfragen das wichtigste Thema der Wahl. Die Themen Sicherheit und Gesundheit haben dagegen stark an Bedeutung verloren.

Was ist Frankreich?

Das französische Magazin Le Point stellt seine Sonderausgabe, die alle drei Monate erscheint, in den Wahlkampf-Monaten unter das Motto "Penser la France" ("Frankreich denken") und präsentiert dort das, was es die "Basistexte" oder "Fundamental Texte" ("Textes Fondamentaux") Frankreichs nennt.

Es sind Autoren, deren Namen hierzulande zumeist nur leere Blicke in den Gesichtern hervorrufen: Jules Michelet, Ernest Renan, Maurice Barrès, Jean Jaurés, und viele mehr - Autoren eines Landes, aber auch der Internationale des politischen Denkens, die von Frankreich ganz wesentlich mitgeprägt wird.

Das Bild Frankreichs, das hier skizziert wird, erstreckt sich von Julius Cäsar bis Aimé Césaire. Es verbindet das Frankreich der historischen Ursprünge, der Gallier und des Absolutismus mit dem "Frankreich der Freiheit", des Blau-Weiß-Rot, der Kommune von 1871 und "einer anderen Idee des Patriotismus". "Der Roman der Nation" setzt auf Integrieren und Assimilieren des Fremden und Neuen und wendet sich gegen einen falschen Multikulturalismus, der ausgrenzt, indem er das Land identitätspolitisch zu einem Setzkasten formatiert.

"Gibt es eine Krise der Identität?", fragt auch das Magazin. "Was ist Frankreich im Grunde genommen?" In den Beiträgen entsteht das Porträt eines Landes mit vielen Facetten: assimilierend, zentralisierend, kolonial, humanistisch, unabhängig, offen.

Der Antideutsche

Le Monde diplomatique ist seit langem die journalistische Bastion des Jean-Luc Mélenchon und seines Linksbündnis, "Nupes" genannt, das Macron bei den Wahlen dicht auf den Fersen ist. Beide speisen sich im Gegensatz zu den Rechtsextremen, den Vertretern der Abgehängten, Depravierten, aus den gleichen Milieus.

Mélenchon, der alte weiße Mann unter den Kandidaten, steht für die Welt von Vorgestern. Zugleich seien "Nupes" die politische Heimat der Jungwähler, so ist zumindest häufig zu lesen. Bei der Präsidentschaftswahl bekam allerdings Macron die meisten Stimmen der Jungwähler.

Aber ist Mélenchon wirklich der französische Bernie Sanders? Oder ist er – was kein Widerspruch sein muss – nur die linkspopulistische Variante zur rechtsextremen Welt, die in "Rückkehr nach Reims" von Didier Eribon beschrieben wird?

Le Monde diplomatique macht unverdrossen Wahlkampf für den Linkspopulisten: "Die Ablehnung der extremen Rechten war der einzige Grund, warum Millionen Linkswähler zähneknirschend für den Präsidenten stimmten, obwohl ihnen eher danach ist, gegen ihn auf die Straße zu gehen."

Und weiter, kontrafaktisch:

Mélenchon hat allerdings schon etliche Herausforderungen gemeistert. Zum einen holte die radikale, systemkritische Linke am 10. April 21,95 Prozent der abgegebenen Stimmen, während sie im übrigen Europa durch die linke Mitte an den Rand gedrängt wurde (Deutschland, Spanien, Portugal), sich dem Liberalismus gebeugt hat (Griechenland), gar nicht erst existiert (baltische Staaten, Osteuropa) oder vernichtend geschlagen wurde (Italien). Zum anderen brachte Mélenchon den Grünen (4,63 Prozent) und vor allem den auf der Linken lange dominanten Sozialisten (1,74 Prozent) eine demütigende Niederlage bei.

Le Monde diplomatique

Schon darüber könnte man jetzt diskutieren. Aber wozu das alles? "Letztendlich" so schrieb der Spiegel, "geht es bei Mélenchon immer um dasselbe: um den Bruch mit dem bestehenden System, das Ende des Kapitalismus in seiner jetzigen Form". Wunderbar. Aber wie will der einstige Mitterrand-Bewunderer mit seinem "Unbeugsamen Frankreich" (seine Partei heißt: "La France insoumise"), das eigentlich anstellen?

Was wenig erwähnt wird: Mélenchon ist auch ein Antideutscher im Wortsinn. Der Politologe Roland Cayrol spricht von einer "Obsession gegen Deutschland". Und der Spiegel zitiert:

Unvergessen ist ein Tweet Mélenchons aus dem Jahr 2014, in dem er Angela Merkel auf Deutsch aufforderte: "Maul zu, Frau Merkel. Frankreich ist frei." Kurz zuvor hatte die Kanzlerin Reformen im Nachbarland angemahnt. Im Jahr darauf veröffentlichte der Linke sein Buch "Der Hering von Bismarck: Das deutsche Gift", in dem er den Deutschen vorwarf, die DDR samt allen Fabriken "annektiert" zu haben. Vor wenigen Tagen wiederholte er diese Aussage beim Radiosender France Info. Die soziale Gewalt, die die Bundesrepublik gegenüber der DDR ausgeübt habe, sei unglaublich, erklärte er da. Zudem sei das Vorgehen verfassungswidrig gewesen. Für Frankreich wäre es noch heute besser, so sagte er, zwei Deutschlands und nicht eines zu haben. Die Verteidiger Deutschlands in Frankreich nannte er schon mal "Ausdünstungen der Kollaboration". Eine deutsche Europaabgeordnete bezeichnete er auf seinem Blog als "boche", das französische Schimpfwort für Deutsche.

Spiegel

Die Provinz gegen Paris

Angeblich gibt es zwei Frankreichs, das der Großstadt Paris und das der vergessenen vernachlässigten Provinz. Das Magazin Zadig widmete dem jetzt eine ganze Ausgabe. Würde man Paris aus Frankreich herausrechnen, läge das landesweite BIP pro Kopf über 15 Prozent niedriger. Hinzu kommt, dass das Gefälle zwischen Paris und den übrigen französischen Regionen bis Ausbruch der Pandemie immer größer geworden war.

Es ist der in allen modernen Gesellschaften dominierende Konflikt zwischen den "somewheres" und den "anywheres", der globalen Jetsetter und digitalen Arbeitern und denen, die in irgendeinem Kaff festsitzen und sich abgehängt fühlen – und dies mehr fühlen, als dass sie es tatsächlich sind, denn längst arbeiten diese Menschen im Homeoffice –, und sei es nur, um sich in ihrem Ressentiment gegen die Stadt Paris einig zu sein und sich im Dagegensein miteinander zu vernetzen.

Es gehen weniger um Fakten, so Zadig, sondern mehr um Gefühle. Und das Gefühl sage vielen Franzosen, die nicht in den wenigen großen Metropolen leben, dass Globalisierung und Europäische Union ihnen Stück für Stück die Seele ihres Landes rauben.

Ob eine EU-Verordnung über Käse, die das französische Nationalprodukt bedroht, oder ob es der Krieg gegen die Russen ist, den die Mehrheit der Franzosen allen öffentlichen Verlautbarungen zum Trotz nicht unterstützen möchte – aus dieser diffuse Gefühlslage speise sich der Wiederstand etwa der "Gelbwesten".

Sie sind eben keine linke oder rechte und schon gar keine links- oder rechtsextreme Bewegung, auch wenn von diesem Seiten immer wieder versucht wird, sie zu kapern, sondern eine Bewegung aus der Mitte der Gesellschaft. Wenn diese Gruppe den Rechtsextremismus Le Pens unterstützt oder den Linkspopulismus von Jean-Luc Mélenchon, dann sei dies aus der Not geboren, dass es keine Wahl-Alternativen gibt.

Macrons politische Bewegung ist dagegen eine der Stadt und der Urbanität. Wer Macron in fünf Jahren beerben möchte, der wird hier anknüpfen müssen.

Das französische Archipel

Wie definiert man Frankreich? Der französische Politikwissenschaftler Jérome Fourquet hat vor zwei Jahren ein Buch mit dem Titel veröffentlicht: "Das französische Archipel". Darin erklärt er, warum es "tausend Frankreichs" gibt, warum die französische Nation keineswegs eine starre, marmorne, unbewegliche ist, keine Entität, wie dies auch manche republikanischen Idealisten in den letzten 200 Jahren gern behauptet haben, sondern ein Mosaik, eine multiple und diverse Nation.

Fourquet meint das kritisch. Wie aber, wenn dies das französische Erfolgsgeheimnis wäre?

Was aber ist es, das Frankreich eint? Oder ist die Vorstellung des einigen Frankreichs eine Illusion, die mit dem König vor über 200 Jahren geköpft worden ist?

Der berühmte Aufsatz "Was ist eine Nation?" von Ernest Renan, der die Antwort gibt, das eine Nation "ein Plebiszit Tag für Tag" sei, weist auch hier die Richtung.

Frankreich ist eine dynamische, mobile Nation, eine Nation, die immer wieder aus neuen Auseinandersetzungen neu geboren wird: Der König gegen die Fronde, die Republikaner gegen die Monarchie, das Volk gegen die Privilegien, Paris gegen die Provinzen, die Vernunft gegen die Esoterik, die Laizität gegen den Gottesglauben, Französisch gegen andere Regionalsprachen – hieraus, aus diesen produktiven, lebendigen Konflikten, entsteht die Dynamik des Fortschritts.

Die Spaltung – wenn sie denn überhaupt existiert – ist also eine positive.

Gegen den US-Hegemon

Fazit: Wirtschaftlich, sicherheits- und außenpolitisch präsentiert sich Frankreich nicht schwach, sondern stärker als Deutschland. Die historische Kraft Frankreichs beruht immer auf der Dynamik, die seine, von Deutschland gern beklagte Rechts-Links-Spaltung bewirkt.

Die Bundesrepublik sollte von Frankreich Stärken lernen und hoffen, dass die französische Regierung heute ein klares Mandat bekommt, um weiter ihre Führungsrolle in Europa spielen zu können.

Denn dieses Europa hat es bitter nötig, sich nicht als Wurmfortsatz des US-Hegemons zu präsentieren, sondern stark und eigenständig dem US-amerikanischen Vormachtsstreben Paroli zu bieten und eine eigenständige Politik formulieren zu können. Auf Deutschland dürfen die Europäer hierbei nicht hoffen.