Auf der Suche nach dem Volksheim
Schwedens Sozialdemokraten in Orientierungsschwierigkeiten
Schwedens Sozialdemokraten wollen und müssen nach vorn. Seit November haben sie sich einen offiziellen Zweittitel verordnet: "framtidspartiet" - die Zukunftspartei. Mit diesem Schlagwort soll die Partei aus ihrer Mutlosigkeit und in den Wahlkampf finden, der für die Parlamentswahlen im Frühherbst 2014 nun so langsam anläuft.
Zwei Reichtagswahlen hintereinander haben die Sozialdemokraten schon verloren. Eine Schmach für eine Partei, die wie keine andere die Geschicke des Landes geprägt hat und von 1932 bis 1975 durchregieren konnte.
Der Gewerkschaftler Stefan Löfven, seit Januar 2012 Parteichef, soll mit dem größten Relaunch der letzten zwanzig Jahre die schwedische Volkspartei wieder auf die Spur bringen. Neu im Parteiprogamm erscheint beim ersten Blick das Besinnen auf die "eigene Kraft", der Schwede als Selfmade-Mensch - eine Anpassung an die regierenden konservativ-liberalen Moderaten.
Im (verlorenen) Wahlkampf 2006, erlebt aus eigener Anschauung, galten noch andere Akzente. "Alle sollen mit" (alla ska med) war damals der Slogan unter Parteichef und Premier Göran Persson. In der Halle des Stockholmer Zentralbahnhofs formten riesige Styropor-Buchstaben den Spruch, um die Lettern hatten die Wahlkämpfer sozialdemokratisch-korrekt Kinder, Frauen, Alte, Menschen mit Migrationshintergrund und Behinderte drapiert.
Persson, die sozialdemokratische Dampfwalze, lief vor dieser Kulisse und vor den Bahnhofspassanten nochmals zur Hochform aus, er malte das Schreckgespenst eines neoliberalen Schwedens an die Wand: "Niemand ist so stark, dass er nicht mal eine helfende Hand braucht", warnte er immer wieder.
Das eher ältere Publikum applaudierte brav, junge Mitglieder der bürgerlichen "Allianz für Schweden" standen am Rande der Persson-Show; mit frechen Sprüchen auf den T-Shirts und siegessicherem Grinsen im Gesicht.
Frederik Reinfeldt (Jahrgang 1965), der sich in seiner Partei einst tatsächlich als neoliberaler Rebell gebärdet hatte, vermied im Vorfeld der Wahl solche Postulate, die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit war Hauptthema. Den Wohlfahrtsstaat, der damals schon reichlich entblättert war, in Schweden spricht man eher von einer "Wohlfahrtsgesellschaft", versprach er nicht anzutasten.
Mit seiner Mitte-Rechts-Koalition aus vier Parteien setzte der studierte Ökonom dann vier mal hintereinander die Steuern herunter, in den Umfragen sackte er zwar zeitweise stark ab, wurde letztendlich doch als erster konservativer Ministerpräsident Schwedens zum zweiten Mal gewählt.
Die Sozialdemokraten, in Schweden einfach nur "S" genannt, konnten nicht mehr überzeugen. Mit Mona Sahlin wurde erstmals eine Frau an die Spitze gewählt, die jedoch durch eine Korruptionsaffäre in den 1990er Jahren schon ein Manko hatte. Die ursprüngliche Hoffnungsträgerin Anna Lindh, damals Außenministerin, wurde 2003 von einem Psychopathen in einem Kaufhaus erstochen.
Sahlins Multikulti-Kurs in Allianz mit Grünen und Linken verprellte die sozialdemokratischen Wähler auf dem Land. Die Richtungsstreitigkeiten unter den Bündnispartnern während des Wahlkampfs bescherte der Partei 2010 mit 30,7 Prozent dann das schlechteste Ergebnis seit langer Zeit.
Die Nachfolge, der schnauzbärtige Håkan Juholt, welcher die traditionelleren Wähler außerhalb der Stockholmer Elite ansprechen sollte, stolperte über finanzielle Unregelmäßigkeiten und innerparteiliche Zwistigkeiten.
Seit Januar 2012 ruht der Erwartungsdruck auf dem nett wie farblos wirkenden Stefan Löfven, der seit 2005 zum Parteikader gehört.
Doch auch hier scheint eine klare Linie zu fehlen - im Herbst wurde davon gesprochen, die Steuern zu erhöhen, dann sollten sie wieder gesenkt werden. Und jetzt kam die Idee mit der "Zukunftspartei" auf.
War die Partei in den neunziger Jahren mit Gleichberechtigungsgesetzen und Frauenquoten am Start, so soll es diesmal eine Jugendquote sein: 25 Prozent der Kandidaten werden unter 35 Jahre alt sein. Eine Reaktion auf die hohe Arbeitslosigkeit unter den jungen Schweden (über 22 Prozent) und eine Maßnahme gegen das Image, die Sozialdemokraten seien gestrig.
Zudem ist von einem größeren Kompetenzmix unter den Kandidaten die Rede und etwas diffus von einer Position in der Mitte der Gesellschaft.
Der Traum vom "Volksheim"
Typische Wahlansagen. Doch hinter diesen Ankündigungen steht ein großes, unausgesprochenes Versprechen - "das Volksheim" (Folkhemmet) und seine Erhaltung, der große Common Sense der schwedischen Gesellschaft. Während man in Deutschland das schwedische Modell mit einem "Wohlfahrtsstaat" plus hohen Steuern assoziiert, greift die Volksheim-Idee weiter und geht auch historisch weiter zurück.
Ursprünglich war "das Volksheim" ein Ausdruck, der durch den rechten Staatswisenschaftler Rudolf Kjellén während des Ersten Weltkrieg geprägt wurde. Der sozialdemokratische Parteischef Per Albin Hansson entlieh ihn 1928 während einer Reichtstagsrede. Angeblich war ihm der ursprünglich geplante Begriff "Mitbürgerheim" nicht griffig genug.
Das Fundament des Heims ist Gemeinsamkeit und Einverständnis. Im guten Heim gibt es keine Privilegierten oder Benachteiligte, keine Hätschelkinder und keine Stiefkinder. Dort sieht nicht der eine auf den anderen herab, dort versucht keiner, sich auf Kosten des anderen Vorteile zu verschaffen und der Starke unterdrückt nicht den Schwachen und plündert ihn aus. Im guten Heim herrschen Gleichheit, Fürsorglichkeit, Zusammenarbeit und Hilfsbereitschaft.
Folkhemmet
Mit der Einführung des "Volksheimes" nahm Hansson seiner Partei die klassenkämpferische Schärfe und gab der sozialistischen Utopie einen nationalen Rahmen - "Klasse" wurde in zukünftigen Reden durch "Volk" ersetzt, "Sozialismus" durch "Demokratie".
Ein Appell an ein verträglicheres Schweden: Seit dem so genannten Großstreik von 1909 litt das Land unter Arbeitskämpfen, die teils bürgerkriegsähnliche Züge annahmen. Auf der einen Seite stand der einflussreiche Gewerkschaftsbund LO, (Landsorganisationen i Sverige), der eng mit den Sozialdemokraten verbunden war, auf der anderen Seite die Unternehmervertretung SAF (Svenska Arbetsgivarföreningen). Nach gewaltsamen Ausschreitungen gegen Streikende kurz vor der Wahl 1932 setzten mehr als 40 Prozent der Wähler die Hoffnung auf die Sozialdemokraten unter Hansson.
Ab 1935 begannen unter Hanssons Druck erste Gespräche, im Jahre 1938 wurde im Abkommen von Saltsjöbaden ein Zusammenspiel zwischen Gewerkschaften und Unternehmervertreter im Konfliktfall geregelt - Verhandlungsinstanzen und -regeln wurden etabliert sowie ein Kündigungsschutz. Beide Seiten verpflichteten sich, keine "gesellschaftsgefährdende" Konflikte mehr auszutragen.
Die Streiks hörten damit zwar nicht auf, doch wurden die Auseinandersetzungen weniger gewaltsam ausgetragen. Es gab nun den gemeinsamen Nenner, das Volksheim.
Per Albin Hansson und ab 1946 sein Nachfolger Tage Erlander führten Schritt für Schritt soziale Verbesserungen ein wie Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, Kindergeld. Doch noch in den 50er und 60er Jahren hatte Schweden ein niedrigeres Steueraufkommen als der Schnitt der OECD-Staaten. Erst Anfang der 1970er Jahre begann unter Olof Palme der massive Ausbau des öffentlichen Sektors und wurden die bekannten hohen Steuern eingeführt, die heute mit Schweden assoziiert werden.
Ausgrenzung als Folge der "Volksheim"-Ideologie begünstigt rechte Parteien
Doch Schwedens soziale Großzügigkeit kannte auch Grenzen - nämlich dann, wenn der Volksheim-Gedanke verletzt wurde.
Während ein Mörder in den 70er und 80er Jahren in seiner Haftzeit auf Therapien und ein gut sortiertes Freizeitangebot bauen konnte, so galt dies nicht für den Landesverräter, der Informationen an die Sowjetunion lieferte. Den dieser hatte sich ganz bewußt außerhalb des nationalen Common Sense gestellt, wohingegen der Gewaltverbrecher immer noch ein Kind des gemeinsamen Heims war, wenn auch ein fehlgeleitetes. Die Haftbedingungen der Spione wurden von der "Säkerhetspolisen", dem schwedischen Verfassungsschutz, verantwortet, der auf Isolationsfolter setzte. Auch nach Zusammenbrüchen wurde oft keine psychologische Hilfe gewährt. Ausländer, die ja ebenfalls nicht Teil des Volksheimes waren, klagten über die harten Bunker-Zustände hinter den schwedischen Gardinen und die Schikanen durch Wärter.
Dass nun die rechten Schwedendemokraten, die zumindest klar neonazistische Ursprünge haben, in den letzen Jahren traditionell sozialdemokratische Wähler abwerben konnten, hängt auch mit diesem ausgrenzenden Charakter der Volksheim-Idee zusammen.
In den Migrantionsbrennpunkten wie in Malmö Rosengård sehen sie den alten Gemeinsinn aufgekündigt und versprechen, das alte Schweden wieder zurück zu holen, als Ausländer noch keinen Bonus hatten. Im Jahre 2010 schafften sie es mit 5,7 Prozent in den Reichstag, nach Umfragen liegen sie mittlerweile bei 7,9 Prozent.
Konservative und Sozialdemokraten sind einander nähergerückt
Auch der derzeitige Regierungschef Fredrik Reinfeldt von der Moderaten Sammlungspartei beansprucht die Volksheimidee für seine Politik. Er hat aus seinen Fehlern Anfang der 90er Jahre gelernt, als er radikal neoliberale Schriften verfasste und seine Landsleute durch die Wohlfahrt "mental gehandikappt und indoktriniert" sah. Von Carl Bildt, dem damaligen Parteichef der Moderaten und Ministerpräsident, wurde er darum erst einmal ins Abseits gedrängt.
Heute hat der Ökonom seine Partei sehr an die Sozialdemokraten angenähert, nennt sie sogar "die neue Arbeiterpartei", wenn er auch durch Kürzungen der Sozialleistungen den Wohlfahrtsstaat weiter demontiert. Vor Weihnachten wurden jedoch publikumswirksam staatliche Ausgaben für das Schulsystem erhöht.
Eine klare Zäsur traute sich die Regierung Reinfeldt mit der Abschaffung der Wehrpflicht im Jahr 2010, die im Jahre 1901 eingeführt wurde. Die Sozialdemokraten befürchten nun eine Abspaltung der entstehenden Berufsarmee von der Gesellschaft und würden den Prozess gern rückgängig machen, um die "Volksverankerung" zu erhalten. Doch haben die schwedischen Streitkräfte weiterhin einen speziellen Charakter - für alle Mitbürger ab 18 gilt eine verpflichtende Online-Musterung, im Krisenfall können auch Frauen zwangsrekrutiert werden.
Die Rüstungsindustrie hingegen ist von Reinfeldts Weniger-Staat-Politik nicht betroffen.. Im Jahr 2010 verkaufte das Königreich Waffensysteme an 63 Länder, für insgesamt 1,6 Milliarden Euro, ein Exportanstieg von 350 Prozent in zehn Jahren. Hier weiß Frederik Reinfeldt auch Stefan Löfven hinter sich, der sich bereits einen Ruf als "Waffenlobbyist" erarbeitet hat. Das Parlament segnete darum im Dezember mit großer Mehrheit den Verkauf von Gripen-Flugzeugen an die Schweiz ab. Das Kampflugzeug Gripen E befindet sich noch in der Entwicklung, die anstehenden Kosten könnten vom schwedischen Steuerzahler getragen werden. Im Ringen um die Wählergunst nähern sich die Sozialdemokraten den marktnahen Moderaten an, nicht nur mit der Idee des Selfmade-Schweden. Der Gewerkschaftler Lövfen warb um die Gunst der Unternehmen, indem er versprach, der Staat werde Krankeitskosten bei Angestellten teilübernehmen.
Aber auch die unklare PR-Sprache sollen sich die Roten den Moderaten abgeschaut haben. Das Nachrichtenmagazin Fokus kritisiert zumindest, dass nicht wirklich deutlich wird, was die Zukunftsidee nun eigentlich so beinhaltet.
Dass sich beide Parteien programmatisch immer weniger unterscheiden, ist schlecht für die demokratische Kultur des Landes, entspricht aber dem Volksheimgedanken vom "Gleichklang" in der Gesellschaft. Wären da nicht die hohen Arbeitslosenzahlen bei der Jugend...
Zur Weihnachtszeit versuchte Löfven noch einen Schlenker zu den Wählern der Schwedendemokraten: Es könne nicht angehen, das hochausgebildete Schweden Taxi fahren, während die Regierung weiter ausländische Fachkräfte ins Land lasse.
Die schwedische Öffentlichkeit scheint derzeit wenig auf die Zukunftsvisionen der Partei mit der roten Rose zu bauen. Vielmehr bewegt deren Vergangenheit:
Ein neuer Dokumentarfilm über Olof Palme (es gibt bereits einige) wurde über Weihnachten der meistgesehene Fernsehprogrammpunkt des Jahres.
"Eine anständige Gesellschaft zu schaffen, das ist meine politische Ambition", wird dort der sozialdemokratische Ministerpräsident zitiert, der 1986 ermordet wurde.
Dieser Pathos ist Reinfeldt wie Löfven fremd, an der Baustelle Volksheim werden sie sich dennoch weiter abmühen müssen.