Aufarbeitung der Militär-Vergangenheit in Chile und Argentinien

Jahre nach der Rückkehr zur Demokratie starten die Regierungen beider Länder zeitgleich Initiativen zur Aufklärung und Ahndung von Menschenrechtsverletzungen

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Der argentinische Kongress hat am Dienstag mit einem historischen Parlamentsbeschluss die seit über 15 Jahren geltenden Amnestiegesetze für Verbrechen, die während der letzten Militärdiktatur (1976 -1983) begangen wurden, aufgehoben. Stimmt der Senat der Erklärung zu, könnten in den nächsten Jahren mehrere tausend argentinische Menschenrechtsverbrecher verurteilt werden. Etwa zeitgleich kündigte im Nachbarland Chile der dortige Präsident Ricardo Lagos eine raschere Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der chilenischen Militärherrschaft (1973 - 1990) an. In einer Fernsehansprache stellte Lagos ein Gesetzespaket vor, das unter anderem eine Erhöhung von Opfer-Renten und die Gründung eines nationalen Menschenrechtsinstituts vorsieht.

Im September ist es genau 30 Jahre her, dass eine Gruppe chilenischer Generäle unter der Führung von Agusto Pinochet den sozialistischen Präsidenten Salvador Allende stürzte und eine blutige Militärdiktatur installierte, die erst 1990 ein Ende fand. Deutlich kürzer, von 1976 bis 1983, dauerte die Schreckensherrschaft der Militärs im Nachbarland Argentinien. Kürzer, aber nicht weniger grausam regierten die argentinischen Generäle: Zwischen 9.000 und 30.000 Regimekritiker sollen in den Jahren des "schmutzigen Krieges" entführt, gefoltert und ermordet worden sein. In Chile schätzt man die Zahl der Ermordeten auf mindestens 3.000.

Bislang vollzog sich die Vergangenheitsbewältigung eher schleppend

Beide Länder sind seit einiger Zeit zur Demokratie zurückgekehrt, doch die bisherigen gewählten Regierungen taten sich schwer mit ihrem düsteren politischen Erbe. Die Bewältigung der jüngsten Vergangenheit kam in den vergangenen Jahren nur schleppend voran. In Argentinien wurde zwar kurz nach dem Ende der Diktatur eine offizielle Untersuchungskommission eingerichtet und ein Aufsehen erregender Prozess eingeleitet, in dem neun hochrangige Militärs zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden; das Gros der Folterer und Mörder wurde aber durch zwei Amnestiegesetze aus den Jahren 1986 und 1987 vor einer Strafverfolgung bewahrt. Die verurteilten Generäle kamen schon 1990 wieder frei - begnadigt vom damaligen Präsidenten Carlos Menem.

Auch in Chile gab 1991 einen offiziellen Bericht einer Untersuchungskommission, in dem Entführungen, Folter und Hinrichtungen unter der Militärherrschaft dokumentiert wurden. Zu ersten Prozessen kam es aber erst 1999 - ein Jahr nach der Festnahme Pinochets in London. Einer umfassenden Aufarbeitung der Verbrechen steht der Einfluss ehemaliger Mitglieder der Pinochet-Regierung entgegen, die noch heute politische Posten bekleiden.

Noch vor einem Jahr hatten wohl nicht einmal optimistische Vertreter der Opfergruppen damit gerechnet, dass das Thema Menschenrechte in einem der beiden Länder jemals auf einem der ersten Plätze der politischen Tagesordnung landen würde. Die Erinnerung an die dunkle Vergangenheit schien mehr und mehr durch Gegenwartsprobleme verdrängt zu werden, an erster Stelle durch Arbeitslosigkeit, Armut und Kriminalität. Doch seit einigen Monaten haben sowohl der chilenische Präsident Lagos als auch der neu gewählte argentinische Präsident Kirchner die Menschenrechte für sich entdeckt.

Nicht alle begrüßen die Aufhebung der Amnestie, deren Umsetzung noch fraglich ist

Nestor Kirchner, selbst Oppositioneller zur Zeit der argentinischen Militärdiktatur, setzt sich seit seiner Wahl im Mai mutig gegen alle Widerstände durch, vor denen seine Vorgänger noch kapitulierten. Deren Furcht vor einem erneuten Militärputsch teilt er offenbar nicht. So gestatte er vor wenigen Wochen die Auslieferung 46 argentinischer Militärs, denen in Spanien auf Betreiben des Richters Baltasar Garzon der Prozess gemacht werden soll. Das bestehende Auslieferungsverbot hob er dafür kurzerhand auf; die Beschuldigten sitzen nun in Argentinien in Untersuchungshaft oder stehen unter Hausarrest.

Auch die Parlamentsentscheidung vom vergangenen Dienstag, die Amnestie für Menschenrechtsverbrecher aufzuheben, ist auf seinen politische Initiative zurückzuführen. Auf seinen Druck hin stimmte die Mehrheit der Abgeordneten der peronistischen Partei, die Kirchner anführt, für den Antrag zur Abschaffung der Amnestie, den die Abgeordnete der Vereinigten Linken, Patricia Walsh, eingebracht hatte. Mit einer Einschränkung: Die von Walsh zusätzlich geforderte Aufhebung der Begnadigungen der bereits verurteilten Generäle wurde nicht zur Abstimmung gebracht.

Dass die Entscheidung von der politischen Klasse Argentiniens nicht einhellig begrüßt wird, zeigten tumultartige Szenen, die sich während der heftig geführten siebeneinhalbstündigen Debatte im Parlament abspielten. Insbesondere die Rede des Abgeordneten Ricordo Bussi, Sohn des wegen Menschenrechtsverletzungen in Untersuchungshaft sitzenden Ex-Generals Antonio Bussi, sorgte für Aufregung. Seine Ausfälle gegen die Angehörigen einiger Opfergruppen wurden vom Abgeordneten Fernando Melillo mit dem Zwischenruf "Hurensohn" quittiert. Insgesamt 51 der 230 Abgeordneten blieben der Abstimmung aus Protest fern.

Am kommenden Mittwoch muss der Gesetzesentwurf noch vom Senat gebilligt werden. Aufgrund der Zusammensetzung des Gremiums ist ein Erfolg bislang noch fraglich. Kirchner wird hier auch in der eigenen zersplitterten Partei noch einige Überzeugungsarbeit leisten müssen. Denn insbesondere der menemistische Flügel der Peronisten lehnt die Initiative ab.

Während in Argentinien der politische Stimmungsumschwung bezüglich der Menschenrechte vor allem auf die Person Kirchner zurückzuführen ist, ist in Chile wohl eher ein besonderes Datum dafür verantwortlich: Am 11. September jährt sich der Pinochet-Putsch zum dreißigsten Mal und die Medien greifen das Thema in zahlreichen Reportagen und Dokumentationen mit einer noch nicht gekannten Offenheit auf. Die Politiker müssen reagieren; und so treten inzwischen selbst Angehörige der Pinochet-Nachfolgepartei UDI für Entschädigungen der Opferfamilien ein.

Inwieweit die jüngste Gesetzesinitiative des Präsidenten Ricardo Lagos, in der er eine Kronzeugenregelung, umfassendere Entschädigungszahlungen und die Gründung eines Menschenrechtsinstituts verspricht, in geltendes Recht umgesetzt wird, ist noch ungewiss. Für manche Teile des Pakets ist die Zustimmung des Senats erforderlich. Doch schon jetzt gilt für den Vorstoß des chilenischen Präsidenten - ebenso wie für die Entscheidung des argentinischen Parlaments: Ein wichtiger Schritt hin zu einer offenen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit ist getan.