"Ausstieg aus der gesamten moralischen Geschichte"
Seite 6: Wo bleibt die theologische Betrachtung?
- "Ausstieg aus der gesamten moralischen Geschichte"
- "Die anderen sind noch viel schlimmer"
- Schuld sind die "neuen Nazis"
- Schuld ist das letzte Konzil
- Die persönliche Verantwortung des Papstes
- Wo bleibt die theologische Betrachtung?
- Die ins Auge stechende Homophobie
- Die rätselhafte Vergötzung des Priesterzölibats
- Kultur des Stillschweigens und Wegsehens: Alle sind mitverantwortlich
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Im Papstschreiben nach Irland konzentriert sich die theologische Blickrichtung auf die Besudelung des Priesterstandes. An die Täter gerichtet, heißt es:
Die Priester unter Euch haben die Heiligkeit des Weihesakraments verletzt, in dem Christus sich selbst in uns und unseren Handlungen gegenwärtig macht.
Notwendig wäre aber gerade eine theologische Betrachtung mit Blick auf die Opfer! An dieser Stelle genügt es nicht, von "sündhaften und kriminellen Taten" oder Verbrechen zu sprechen und die Opfer zu erinnern an "Christus, der selbst ein Opfer von Ungerechtigkeit und Sünde war". Denn die vom Papst beklagte "schwere Sünde gegen schutzlose Kinder" trifft mitten ins Zentrum.
In meinem Buch "Die fromme Revolte" schreibe ich noch, dass Menschen, die ein Leben lang ihre kirchlichen Verwundungen im Autoritätskonflikt austragen müssen, den Aufbruch zur Kirchenreform nur verderben würden. Es ist etwas Wahres daran, aber das Missverständliche an dieser Formulierung überwiegt. Das ist mir inzwischen klar geworden. Ohne eine Theologie aus der Perspektive der Opfer von kirchlichen Strukturen und kirchlicher Kaltherzigkeit kann es die fromme Revolte gewiss nicht geben.
Die Gegenwart des Menschensohnes ist der Bibel zufolge eine Gegenwart im "Geringsten" seiner Geschwister. Ein Verständnis von Heiligkeit, in dem Frömmigkeit und Menschlichkeit als verschiedene Dinge gelten, kann sich nicht christlich nennen. Jesus predigt: "Hütet euch davor, einen von diesen Kleinen zu verachten! Denn ich sage euch: Ihre Engel im Himmel sehen stets das Angesicht meines himmlischen Vaters." (Matthäus 18,10)
In jedem liebes- und schutzbedürftigen Wesen begegnet uns Gott (für diesen Gottesdienst sollen alle Getauften priesterlich bereitet werden). Nur Götzen sind unverwundbar. Wenn Christen Kinder und Jugendliche nicht respektieren und bestärken, wenn sie Schwache ausnutzen, wenn sie Charismen mit "geistlicher Machtausübung" über Menschen verwechseln, wenn sie durch innere Kälte andere zum Erfrieren bringen, so geht es bei alldem um das Herz ihres Glaubens.
Die Engel der Kleinen und Bedürftigen sehen unentwegt das Angesicht Gottes. Man sollte erwarten, dass solch eine Sichtweise an erster Stelle zur Sprache kommt, wenn Christen zur sexualisierten Gewalt im Raum der Kirche Stellung beziehen. Es gibt derzeit Anzeichen dafür, dass eine Mehrheit der deutschen Bischofskonferenz das auch so sehen will und immer mehr lernt. In diesem Fall wird die Einrichtung einer von der Kirche vollständig unabhängigen Untersuchungskommission – nach dem Vorbild der Jesuiten – unweigerlich nachfolgen.
Die Folgen: Eine Kirche, die Kinder auf Abstand hält
Jesus, so wird in der christlichen Bibel erzählt, ließ sich durch eifrige Jünger nicht von der Begegnung mit Kindern abhalten. Er stellte ein Kind in die Mitte, um allen Umstehenden eine neue Weise der Existenz vor Augen zu führen. Die entsprechenden Darstellungen auf kitschigen Nazarener-Drucken gehörten in katholischen Haushalten lange zu den tröstlichsten Devotionalien.
Doch gegenwärtig, so dokumentiert die Zeitschrift Publik-Forum vom 26.2.2010, fühlen engagierte Priester, dass sie mit all ihren Mühen immer nur gegen eine vom Kirchensystem aufgebaute Wand fahren. Seelsorger, in deren Gemeinden herzliche Umarmungen vom Kind bis hin zum Greis selbstverständlich sind, stehen plötzlich unter Generalverdacht.
Im Einzelfall gibt es skurrile Reaktionen. So berichtet die "Schwabmüncher Allgemeine" vom 12.3.2010 im Lokalteil "Bobingen" über einen Pfarrer, er wolle "kein Kind mehr durch eine Umarmung trösten. Er werde bei Ausflügen mit Kommunionkindern keine kleine Hand mehr in die seine nehmen. Bei Gesprächen mit Jugendlichen halte er einen Abstand von einem Meter ein." So würde sich also eine Kirche aufgrund systembedingter Sexualverbrechen insgesamt von der Jesus-Praxis verabschieden?