Auto-Nomie

Seite 3: Das autonome Geschoss

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Heute beläuft sich die geschätzte Anzahl vorsätzlich mit Drohnen getöteter Menschen auf 5500 seit Einführung der Technologie. Auf einen mutmaßlichen Terroristen kommen 28 sicherlich unschuldige Zivilisten - das ist nicht nur ein hoher Kollateralschadenkoeffizient. Es ist sicherlich auch dasjenige Werkzeug, das in der Geschichte der Menschheit einzigartig dasteht hinsichtlich der physischen Entkopplung von Henker und Hingerichtetem, der Entkopplung von Schuld und Strafe.

Niemals zuvor ist unter prinzipiell funktionierenden rechtsstaatlichen Bedingungen das Urteil so weit im Vorfeld einer Schuldanalyse vollstreckt worden. Niemals zuvor wurde ein widerrechtlicher Vorgang dieser Art derart stabil im staatlichen Aktionsinstrumentarium verankert. Sicher, es gibt Vorläufer für die Tötung auf Verdacht, in historischen Ausnahmesituationen wie Revolution oder Krieg.

Aber es scheint nicht abwegig zu behaupten, dass die Digitalisierung, die das distanzierte Vollstrecken aus dem War Room ermöglicht, diese Strukturveränderung begünstigt. Die "Riesenchance", von den USA ergriffen, um Störfaktoren im politischen "Ökosystem" zu beseitigen und um von eigener Schuld abzulenken, ist eine fundamentale Verletzung des Menschenrechts. Die Methode der Zielermittlung und -verfolgung vereint Suchmaschinen, Datenbanken und die Akteure an den Computern in einem nur aus großer Ferne sauber scheinenden Prozess.

Die Politik der Listen

Jutta Weber konstatiert, die "disposition matrix", eine Tötungs-Datenbank, sei das Hauptwerkzeug, mit dem die US-Regierung ihren globalen "war on terror" führe und durch die gezielte Hinrichtungen mehr und mehr institutionalisiert werde. Die "Materialität der Datenbanken und die Algorithmen der themen- oder personenbezogenen Datenauswertung" sind einer "Technorationalität unterworfen, die auf Rekombination beruht", welche die "Produktion möglicher künftiger Ziele für einen Daten-basierten Tötungs-Apparat begünstigt, in dem menschliche und nicht-menschliche Entscheidungsprozesse intim miteinander verwoben sind".

Gezielte Tötungen haben bisher hauptsächlich stattgefunden in Afghanistan, im Irak und in Libyen. Außerhalb konventioneller Kriegsschauplätze werden Drohnen zum Töten in Pakistan, Jemen, Somalia und Syrien eingesetzt. Viele Wissenschaftler wie Weber befassen sich daher mit Strategien, sog. LAWS (lethal autonomous weapon systems) zu bannen. Ihr weltweit größter Zusammenschluss heißt ICRAC.

Durch das technische Prinzip, Datenbanken und Algorithmen für Weg- und Zielentscheidungen zu nutzen und dabei der menschlichen Entscheidung eine starke nicht-menschliche Komponente beizugesellen sowie durch vorsätzlich unentwirrbar gestaltete die Vermischung der Entscheidungsebenen und die daraus resultierende Preisgabe rechtlicher Fundamente und Persönlichkeitsschutzrechte sind autonome Fahrzeuge und "letale autonome Waffensysteme" strukturell enger miteinander verbunden, als auf den ersten Blick einleuchtet.

Ende September 2017 warnte die Stiftung Warentest vor "connected cars" und den Apps der Autohersteller: sie seien "Datenschnüffler". Wer die Apps einschalte, würde zum "gläsernern Nutzer". Durch E-Call, die Pflicht, ab 31. März 2018 alle Neuwagen mit einem Notrufsystem über eine Mobilfunk-Sim-Karte auszurüsten, sei dem Datenabfluss Tür und Tor geöffnet. Im Tesla beispielsweise verkündet schon die "Kundendatenschutzrichtlinie", dass Informationen "möglicherweise auch über Dritte, etwa öffentliche Datenbanken, Marketingfirmen, Werkstätten und soziale Medien wie Facebook bezogen werden." Auch die Onboard-Kamera wirkt mit beim Datensammeln und übermittelt bei Bedarf an Behörden oder Arbeitgeber.

Die Politik der Listen und ihrer Rasterung verändert grundlegend unsere bislang prinzipiell auf menschlicher Autonomie und dezentral operierender Individualität basierende Lebensführung. Sie setzt das zentral lenkbare Leben an ihre Stelle.

Die von Weber attestierte Opazität, der unentwirrbare Daten-Dschungel, der um uns wächst, verwischt die Grenzen zwischen verdächtigem und unverdächtigem Handeln. Man ist potentiell schuldig, von der Norm der Datenbank abweichendes Verhalten zu zeigen.

Es ist daher fraglich, ob der Einsatz von autonomen Geräten mit unseren ethischen Idealen und gesetzlichen Vorgaben zur Selbstbestimmung überhaupt kompatibel ist. Die technische Autonomie könnte uns leicht eine bedingungslose Militarisierung des Zivilen eintragen.

Evolutionslücke

In den 1980er Jahren, jener gefühlt schon fernen Zeit der infernalischen Massenkarambolagen mit mehr als 100, manchmal sogar bis zu 300 Fahrzeugen, hat ein fränkischer Autobahnmeister, ein wahrer Philosoph, der aus der jahrelangen Anschauung heraus zur theoretischen Verdichtung fortgeschritten war, einmal angemerkt, er fürchte, der Mensch sei noch nicht reif, vom "zweietagigen metabolischen System aufs Auto" umzusteigen.

Etage 1, das Pferd, müsse stets mitdenken, Mitentscheidungsgewalt besitzen, sonst würde im Oberstübchen, wo der lenkende Mensch schwitzt, zu viel falsch entschieden. Baut man dem Zentaur einen Ottomotor ein, rast er aus reiner Freude an der Hatz in sein Verderben. Das Pferd als Pilotsystem und eingebaute Sicherung für den hemmungslosen Hasardeur auf seinem Rücken.

Diese fatale Evolutionslücke hat das autonome Auto geschlossen. Seine Nutzer können ihre Aufmerksamkeit vom Steuern weg auf andere Dinge richten. Aber nicht ganz: Sie müssen einen Teil ihrer "Schnittstelle Gehirn" für die "freiwillige Telepathie" mit den Autoherstellern und ihren technischen Ausgeburten offen halten. Genau das forderte der mächtige Tesla-Eigner Elon Musk, die Lichtgestalt der künftigen Fortbewegung, im Juni 2017. Gebt euren Kopf frei. Die Konzerne brauchen ihn für die nächste Revolution der Fortbewegung!

Mutationsprozess

Dampf, Strom und Benzin - was auch immer uns in den vergangenen zwei Jahrhunderten angetrieben hat - jede neue Stufe der Motorisierung der Menschheit hat einen Mutationsprozess eingeleitet. Aus der historischen Perspektive betrachtet scheinen alle technischen Innovationen, die den Umstieg vom Pferd aufs Automobil markieren, alle sie begleitenden Veränderungen radikal, kaum kompatibel mit der bestehenden Gesellschaft.

Am 24. September 1921 eröffnete Hugo Stinnes die Automobilverkehrs- und Übungsstraße Avus in Berlin. Es war weltweit das erste Stück Autobahn. Wer hätte glauben mögen, dass es sich um die Keimzelle des größten globalen Bauwerks handelt, das kein Fußgänger jemals wieder ohne Lebensgefahr würde quer kreuzen können? Dass ihr Baustoff Sand in Kürze eine knappe Ressource würde? Dass ihre Nebenprodukte Lärm und Abgas das Leben künftiger Kulturen, ja sogar des gesamten Ökosystems wesentlich verändern würde?

Wer hätte gedacht, dass zur Jahrhundertfeier dieser epochalen Tat fast nur noch Elektroautos geräuschlos über den Berliner Stadtring gleiten, ein gutes Drittel davon ohne Fahrer? Und doch könnte es so kommen.

Ähnlich absurd mag es uns in hundert, zweihundert Jahren erscheinen, wenn wir auf das 21. Jahrhundert zurückblicken. Im Jahr 2017 scheint uns der Ruf nach Freigabe des zentralen Nervensystems, nach Gedankenübertragung im Dienst der fortschreitenden Automobilität noch gelinde gesagt vermessen. Vielleicht besonders deswegen, weil wir spüren, dass wir nicht mehr weit davon entfernt sind und sicher sein können, dass dann, wenn es so weit ist, über unsere Köpfe (hinweg) entschieden wird und wir nicht einmal ahnen, was die Auswirkungen sein könnten.

Kritische Zeitgenossenschaft ist immer dann ein guter Berater, wenn man sich gegen die Auflösung bestehender Verhältnisse stemmen will. Hat man sich erst einmal an die Veränderungen gewöhnt, neigt man dazu, die Kollateralschäden als hinnehmbar einzuschätzen und die Vorzüge der "neuen Freiheit" zu feiern.

Wie viel persönliche Energie wird frei, wenn man nicht mehr selber lenkend durch die Gegend fährt? Wofür setzt man sie ein? Das hört sich vielversprechend an - allerdings nur, wenn man nicht U-Bahn fährt und sieht, dass die Menschen, die gefahren werden, ihre Zeit vor kleinen leuchtenden Notizbüchern verbringen, in die sie offenbar große Teile ihrer Lebensenergie investieren. Die Ignoranz, die Naturzerstörung im aktuellen Ausmaß ermöglicht, ist in einem schizophren scheinenden Zirkelschluss erst möglich durch die Werkzeuge, die ihr Ergebnis sind.

Das Ende des Raums der menschlichen Gattung?

In seinem Text "Fahren Fahren Fahren"2 fragte der französische Philosoph Paul Virilio: "Worauf werden wir warten, wenn wir nicht mehr warten müssen anzukommen?"

Virilio ist der Philosoph des finalen Unfalls, ein Orwell-Schüler mit dem Hang zur Apokalypse. Seine Antwort lautet: "Das Ende der Welt wird unbestritten mit jener Generation von technischen Fahrzeugen kommen, die den Raum der menschlichen Gattung abschaffen und damit eine rigorose Verwaltung der Reisezeiten notwendig machen; dem Ministerium für Raumplanung wird das für Zeitplanung folgen." Heute, 40 Jahre nach dem Erscheinen des Textes, liest die Stelle sich wie eine Vorhersage Googlescher Daten-"Verwaltung" für autonome Autos.

Doch was bedeutet "den Raum der menschlichen Gattung abschaffen" jenseits der düster defätistischen Prophezeiung, die sich in ihrem biblisch-bombastischen Ton das Bestreiten verbietet und es dadurch geradezu herausfordert?

Sind wir nicht vor 100 Jahren schon gewarnt worden vor Haushalts- und Fabrikrobotern, die den menschlichen Arbeiter ersetzen, seinen Platz einnehmen? Sind wir nicht schon durch Jules Verne, Karel Capek und Isaac Asimov dafür sensibilisiert, dass wir längst nicht mehr lenken, wenn wir die Maschine steuern, sondern nur Teil ihres "Getriebes" sind, Erfüllungsgehilfen ihrer maschinellen Logik?

Trotzdem bleibt es eine zentrale Frage im Zeitalter des Kapitals, dem "Kapitalozän"3: chauffieren uns nicht immer noch Menschen, deren politischer oder sozialer Status fragil ist, kostengünstiger und ersetzen dadurch den Roboter? Pflücken nicht immer noch Wanderarbeiter aus den jeweilig östlicher oder südlicher gelegenen Gebieten billiger Gurken, stechen billiger den Spargel als die Pflück- und Stechroboter? Zugegeben, auf den großen Feldern sät und mäht der Roboter bereits und verschiebt damit die ländlichen Lohnarbeiter in das Elend städtischer Zeitarbeit, dieser neuen Sklaverei. Die Zeitplanung und ihr schlafloses 24/74 bedient längst die Schalthebel. Aber ein Ende der Welt ist dennoch nicht abzusehen.