Auto-Nomie

Seite 4: Regime der Maschinen

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Mit einer umfassenden Autonomisierung von Privat- und Güterverkehr rückt ein NATO-Projekt der mittleren 70er Jahre wieder in den Blick: das der satellitenbasierten universellen Planung aller Güter- und Personenbewegungen, an dem mehrere Generationen US-amerikanischer Präsidenten mitgearbeitet haben. Ronald Reagan projizierte es in den Weltraum, Bill Clinton wollte es nutzen, um die Feinde Amerikas rund um den Erdball innerhalb von 5 Minuten zu finden und zu neutralisieren, Barack Obama hat das 3F-Programm ("find, fix, finish") perfektioniert. All der Aufwand an Fahrzeugen, Logistik und Steuerungstechnik - laut Virilio einzig und allein, "um jede menschliche Bewegung auf der Erde in Frage zu stellen." Das Regime der Drohnen, von den USA als einzig effizienter Schutz der westlichen Gesellschaften propagiert, illustriert diesen Gedanken eindrücklich.

Der Kommunismus hat die Bewegungsfreiheit in Frage gestellt, weil er meinte, er wisse besser als seine Bürger, was ihnen nütze. Um sich dagegen zu positionieren, hat das Industriekapital den Bürgern der westlichen Hemisphäre suggeriert, gut sei allein, was ihnen persönlich am meisten Vorteil verschaffe. Am nützlichsten sei die Anschaffung aufwändiger extrem teurer Fortbewegungsmittel.

Der neoliberale Finanzkapitalismus, das zum autoritär-militärischen, postdemokratischen Staat und seinen autonomen Fahrzeugen gehörende Wirtschaftssystem, vertritt die Auffassung, dass die Bewegung besser kontrolliert werden müsse.

Denn wer sich frei bewegt, ist schwer beherrschbar, und damit kaum den allgegenwärtigen Umsatz-Interessen unterzuordnen. Im autonomen Fahrzeug, diesem Internetzugang mit algorithmisch erzeugter Bewegung, ist der Mensch in einer einzigen Stellung festgenagelt. Jede Bewegung der primär dafür geschaffenen Glieder ist stilllegt. Das Vehikel zwingt den Menschen zum andauernden Niedersitzen und versorgt ihn dort, am Ort des "rasenden Stillstandes", mit einer visuellen Repräsentation von Wirklichkeit, einer vermeintlich bunteren als der echten Welt.

Nicht mehr die Glieder ersetzt das Fahrzeug - es ist keine Prothese -, sondern gleich die ganze Welt, die in ihrer rohen, ursprünglichen Form zu viele Variablen, zu viel Unwägbarkeiten, zu viel nicht vermarktungsgerechte Auswahl bietet, zu viel dem Zufall überlässt, der wirtschaftlich "nichts einbringt".

Das absurde höchste Ideal dieser festgenagelten Stellung: ein Gehirn ohne Körper, das "Visionen shoppt", dem gegen Abbuchung eines bestimmten Betrages von Firmen präparierte und von der Regierung lizensierte Umwelteindrücke wie vordem Drogen eingespielt werden - bis zur "totalen"5 Zufriedenheit.

Autonomes Fahren ist ein Eliteprojekt

Das Projekt scheint Ideologie-frei, denn es hat das System der Überzeugungen durch das erheblich einträglichere Prinzip der Effizienz ersetzt. Durch die dem autonomen Fahren immanente technische Kapazität der digitalen Zonierung, der Einteilung der Welt in erlaubte und verbotene Zonen, ist das Projekt autonomes Fahren dem Wesen nach ein Elite-Projekt, das anders als noch Rudyard Kipling ("Verkehr ist Zivilisation") es ahnen konnte, die Welt durch Verkehr in Eingelassene und Ausgeschlossene unterteilt: eine neue Barbarei, wenn denn Zivilisation bedeutet, dass Menschen gleich behandelt werden unbeachtlich ihrer Herkunft und ihrer Einkünfte.

Dies betrifft natürlich die Ausübung der persönlichen Autonomie, nicht die Akzeleration der Körper, die wie oben gezeigt, gegenstands-, weil folgenlos ist, nichts Entscheidendes mehr ausdrückt. Insofern zeigt das autonome Fahren in seiner Ambivalenz zwischen sich bewegen und bewegt werden das Wesen der Macht als Herrschaft über und nähere Bestimmung von Freiheit, nach Belieben zu kommen und zu gehen.

Faschismus des Glücks

Der Erfolg des Automobils erklärte sich ursprünglich durch eine demokratische Komponente ("Freie Fahrt für freie Bürger") und durch einen "Verstärker"-Effekt. Marinetti verklärt dies als "metallische(n) Traum vom menschlichen Körper in vollkommener Stärke".

Was fügt nun der autonome Wagen hinzu? Die absolute Positivität, sozusagen einen Faschismus des Glücks. In der Zustimmungsgesellschaft ist alles zu bejahen, nichts zu entscheiden: alles ist von vornherein klar, weil voraussag- und nachrechenbar.

Wenn die These stimmt, dass Fahrzeug-Typen die Geschichte der auf ihre Erfindung folgenden Eroberungen, Unterwerfungen, Ausbeutungen vorzeichnen, dann lässt sich für den autonomen Wagen folgendes Bild entwerfen: Der territoriale Körper wird zusammen mit dem animalischen Körper gegenstandslos. Der Vektor, der den Kontinent, die Fläche penetriert, löst sich auf, wird ersetzt durch eine Segmentierung, Zerschneidung oder künstliche Verknappung, zumindest restriktive Verwaltung der Zeit, die neue Währung. Ort, Körper, Anwesenheit verschwinden. An ihre Stelle treten (Daten-)Flüsse, (Kapital-)Ströme, immaterielle Repräsentationen vordem vitaler sozialer Gefüge.

Nicht von ungefähr tritt das autonome Auto im Hollywood des 21. Jahrhunderts zuerst als rollendes Gefängnis in Erscheinung (Minority Report) oder als mobiler Börsenmaklerplatz (Cronenbergs Cosmopolis). Das Gefährt dient nicht länger dem Reisen. Es ist das Werkzeug, mit dem Zugang ermöglicht wird - zu neuen, permanent offenen Märkten. Das autonome Auto dient der Steigerung von Umsatz.

Nicht zufällig stellt die RAND Corp diese These gleich an den Anfang ihres 2016 erschienenen, über 200 Seiten langen "autonomous vehicle technology"-Report: "AVs have enormous potential to allow for more productive use of time ... and ... may also alter models of vehicle ownership and patterns of land use, and may create new markets and economic opportunities." Die Fortbewegung ist damit auf lange Sicht betrachtet nicht mehr notwendig.

Die maschinenlesbare Landschaft

Auf dem Weg dahin sehen wir schon heute, zu welcher konkreten, künftigen Gestalt hin das autonome Fahren die Landschaft verändert.

RAND zeigt in dem Kapitel "land use", wie sich in Windeseile unsere Städte verändern werden: keine parkenden Wagen auf Seitenstreifen, alle Fahrzeuge immer in Bewegung, Parkhäuser verschwinden ganz oder werden in "Satellitenstädte" verbannt. So werden 31% der Fläche frei, die bislang dem Abstellen nicht genutzter Fahrzeuge in Großstädten gewidmet sind. Auch wir selbst verschwinden in eine rurale "Verstreutheit": "Just as the rise of the automobile led to the emergence of suburbs and exurbs, so the introduction of AVs could lead to more dispersed and low-density patterns of land use surrounding metropolitan regions."

Mechanisierung und Computerisierung hat noch viel weiter gehende Auswirkungen. Schauen wir uns an, wie schnell sich derzeit Landschaft verändert in Abhängigkeit von politischen Entscheidungen.

Durch die massive Ausschüttung von Fördergeldern nach Quadratmeter-Schlüsseln betätigen sich derzeit Landwirte in verheerender Weise. Das kommt so: die Subventionen werden gezahlt auf der Basis der Flächen, die jeweils aktuell von einer Drohne eingemessen werden. Der Zeitpunkt der Messflüge orientiert sich nicht an natürlichen Zyklen wie Jahreszeiten oder Brutperioden von Vögeln. Geflogen wird, wenn der Haushalt dafür frei geschaltet, das Budget vorhanden ist.

Der Landwirt weiß, wann die Drohne kommt. Er schnallt den großen Asthäckseler an den Traktor und rasiert den Randstreifen seiner Felder kahl, denn die Drohne bewertet nur sichtbar bestellten Boden als zuschussfähig. Vom Laub der Bäume überdeckte Flächen werden nicht eingerechnet. Für ein paar Euro mehr - und dies, obwohl vielleicht derselbe "Bauer" von der Naturbehörde Geld aus dem sog. Randstreifenprogramm, eine Förderung für die Anlage von Schutz- und Schon-Flächen am Rande der kommerziell genutzten Aussaat erhält - putzt er sämtliche Rückzugsgebiete für Insekten, Vögel und Nagetiere weg. Er bereitet die Landschaft "lesegerecht" zu für die mechanischen Augen der autonom fliegenden Vermessungsapparatur. Politik stellt dafür die Weichen.

Wenn nun dieselbe Politik die Anschaffung und Verbreitung autonomer Maschinen fördert, weil "Innovationen" (und später die Beseitigung der Schäden, die sie angerichtet haben) eine gigantische Einnahmequelle sind, werden Alleebäume fallen - den Versicherungen sind sie schon lange ein Dorn im Auge -, Hecken ausgerissen, weil bei der Abstandsmessung Fahrzeuge hinter ihnen verschwinden könnten. Die gesamte Landschaft wird zugerichtet für die toten Augen der neuen Gottesmaschinen und ihrer stählernen Schwadrone.

Was bleibt, ist eine kahle unwirtliche Umgebung, von Staub und Sturm bestimmt, der die schmutzigen Reste unserer Zivilisation aufwirbelt, leere Plastiktüten, die allfälligen Papierverpackungen abgegessener Fastfoodpakete und zerknüllte Coffee-to-go-Becher, die schon jetzt beginnen, das Bild der Landstraße beherrschen. Wir werden es "Klimawandel" nennen und mit den Achseln zucken: "Wir können es nicht verhindern."

Das Verschwinden der Umgebung

Wir werden die Welt ohnehin bald nicht mehr sehen (müssen). Noch die Mannschaft der Apollo 16 forderte von den NASA-Ingenieuren den Einbau eines Fensters. Sie wollten nicht in einer rundum blickdichten Kapsel sitzen. Technisch war es überflüssig, denn sie wurden geflogen und konnten mit ihren Instrumenten "sehen". Es bedeutet sogar eine Schwachstelle in Sachen Dichtheit der Kabine. Obwohl das Bullauge im All so nützlich ist wie ein Kropf, wollten die Männer der Mission nicht "in einem Sarg fliegen".

Auch der autonome Wagen bräuchte keine Fenster. Sein Frontlicht hätte einzig den Zweck, dem von den Sensoren erkannten Passanten einen Zebrastreifen auf die Strasse zu projizieren, um zu signalisieren: du hast Vorfahrt. Er würde sich wie ein "windowless fuselage", die "blinde" Fahrgast-Röhre künftiger Jets, ganz ohne Scheiben orientieren können. Im gucklochlosen Flugzeugrumpf erzeugen gerundete OLED-Folienschirme den Eindruck einer Glasaußenhaut. Die auf ihnen sichtbare "Realität" kann beliebig "geschönt" sein: Der Müll der Fast-Food-Ketten fliegt einfach raus aus der Darstellung.

Die Außenorientierung beruht komplett auf eingespielter "Information": die Alleebäume, wenn wir sie denn unbedingt haben wollen, können digital wieder eingepflanzt werden, während wir durch die leere Landschaft flitzen. Alles ist verarbeitet, gefiltert, ausgewertet. Die "relevanten" Daten sind zur besseren Verständlichkeit überhöht, graphisch verdeutlicht. So klar wie auf dem Bildschirm hat die Umgebung noch nie zu dir gesprochen. Sie sagt: du brauchst meinen Anblick nicht mehr.

Autonomiegefühle

Warum aber, wenn seit 150 Jahren von Jules Verne über Jewgeni Samjatin bis zu Paul Scheerbart, mithin die witzigsten und weitsichtigsten Autoren des 19. & 20. Jahrhunderts, wenn sie alle von autonomen (Flug-)Taxis (sprich: Google-Auto-Drohnen) fabulieren, warum fahren sie dann immer noch nicht? Wo genau sitzt das Akzeptanz-Problem im Menschen? Worin besteht das Image-Defizit der Autodrohnen?

In einer Frage sind sich Kritiker und Befürworter des autonomen Fahrzeugs einig: seine flächendeckende, die individuelle Mobilität und den Güterverkehr revolutionierende Einführung stellt kein technisches, sondern in erster Linie ein gesellschaftliches Problem dar.

Wie leben Menschen, die ein autonomes Fahrzeug als Entmündigung, ja als Kastration empfinden? Um das letzte Stichwort aufzugreifen: dem Roboter fehlen einfach die Eier. Selber fahren ist aufregend wie Sex ohne Kondom, das hat schon der für allfällige Tagesthemen zuständige Fernsehphilosoph Peter Sloterdijk vor vielen Jahren diagnostiziert, als er das Auto zum "rollenden Uterus" erklärte und am Schaltknüppel phallische, am Gaspedal anale Komponenten entdeckte: "…das Überholen, bei dem der andere, der langsamere, fast wie beim Stuhlgang, zum abgestoßenen Exkrement gemacht wird". Jenseits solch freudianischen Wortspektakels bleibt mit Sloterdijk festzuhalten, dass "Selbstbeweglichkeit (mit) Autonomiegefühlen verbunden ist".