Autoritäre Wissenschaft und das Recht auf Placebo-Medizin

Seite 3: Recht auf Placebo-Medizin

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Ist eine Linderung von Leiden, die subjektiv erfahren wird, weniger real als eine, die der wissenschaftlichen Methodik entspricht? Schließlich suchen Patienten medizinische Hilfe, weil sie sich selbst für krank halten und nicht, weil sie bei sich einen wissenschaftlichen Maßstab von Krankheit anwenden. Tatsächlich erfährt die Erforschung des Placebo-Effekts nach langer Vernachlässigung durch Wissenschaftler seit etwa zehn Jahren wieder mehr Aufmerksamkeit. Dabei konnten Verbesserungen des Wohlbefindens durch Placebo-Behandlungen oder den Kontext mit zahlreichen Körpersystemen in Zusammenhang gebracht werden. Beispielsweise können diese Maßnahmen bei chronischen Schmerzpatienten die körpereigenen Opioide sowie den Neurotransmitter Dopamin aktivieren. In einigen Fällen wirken die Alternativen sogar auf denselben biologischen Wegen wie die anerkannten Medikamente. Besonders bei chronischen Erkrankungen wie Schmerzen oder Reizdarmsyndrom liegen überzeugende positive Befunde für Placebo-Behandlungen vor.12

Umgekehrt finden sich auch in der wissenschaftlich anerkannten biomedizinischen klinischen Praxis rituelle Komponenten, die einen Placebo-Effekt begünstigen können. Das geht aus einem Vergleich mit den Heilungsritualen der Navajo-Indianer sowie der traditionellen chinesischen Akupunktur durch Ted Kaptchuk von der Harvard Medical School hervor, einem der zentralen Experten auf dem Gebiet des Placebo-Effekts.13 So betrachtet könnte man Placebo-Effekte sogar wissenschaftlich als den spezifischen Effekt von Heilungsritualen verstehen. Wichtig ist hierbei, dass diese auch von den individuellen Bedürfnissen und Erwartungen des Patienten abhängen.

Vielleicht handelt es sich dann bei alternativen und komplementären Verfahren aus wissenschaftlicher Sicht nur um eine Form von Placebo-Medizin. Darum muss sie aber im Einzelfall nicht schlechter sein. Den von Vertretern der wissenschaftlichen Medizin häufig geäußerten Befürchtungen, Patienten könnten dadurch auf die beste schulmedizinische Therapie verzichten, widersprechen die Zahlen aus Befragungen. Nur etwa 3 bis 4% der Menschen setzen primär auf die Alternativen.14 Anstatt aus wissenschaftlicher Sicht Hunderte Millionen oder sogar Milliarden von Menschen für irrational zu erklären, kann man ihre freie Entscheidung dafür, was ihnen am besten hilft, würdigen.

So verteidigen die Public Health Forscher Kirsten Hansen und Klemens Kappel von der Universität Kopenhagen die Entscheidung für alternative und komplementäre Medizin als wertebasierten Lifestyle.15 Zwar sind sie gegen die staatliche Finanzierung dieser Methoden ohne einen wissenschaftlichen Effizienznachweis, doch könnten im Gesundheitssystem auch andere Abwägungen eine Rolle spielen. Womöglich sprechen für manche alternative Behandlungen im Gegensatz zu ergebnislosen Patientenkarrieren bei teuren Fachärzten sogar deutliche Kostenargumente.

Ein ethisches Dilemma?

Allerdings ist die Verschreibung eines Placebos aus ethischer Sicht nicht unproblematisch. Der Heilkundler kann den Patienten über die Wirksamkeit eines Medikaments nicht einfach anlügen, denn damit verletzt er dessen Recht auf Selbstbestimmung, das eine angemessene Aufklärung voraussetzt. Hier können die jüngeren Untersuchungen zum Placebo-Effekt helfen, wenn manche Patienten mit ähnlichen Beschwerden davon profitieren konnten. Ferner kann beispielsweise ein Arzt, der selbst von der Wirksamkeit der chinesischen Akupunktur überzeugt ist, aus seiner Sicht den Patienten ehrlich aufklären. Das gilt selbst dann, wenn es in der Wirksamkeit zwischen chinesischer und Scheinakupunktur keinen Unterschied gibt; und wahrscheinlich ist ein vom Verfahren überzeugter Arzt sogar ein besserer Heiler.

Das häufig beschworene Risiko, ernsthaft erkrankte Menschen könnten auf wissenschaftlich wirksame Therapien verzichten, schlägt nicht durch: Nur ein kleiner Teil der Patienten, die alternative und komplementäre Verfahren anwenden, verzichtet überwiegend auf Schulmedizin. Außerdem können Hausärzte, die sich ihrerseits für die Alternativen öffnen, eine schützende Torwächterfunktion wahrnehmen und müssen umgekehrt anerkannte Heilpraktiker medizinische Grundkenntnisse in einer amtsärztlichen Prüfung nachweisen. Statt wissenschaftlicher Einseitigkeit herrscht dann pluralistische Vielfalt in der Medizin. Dieses Modell entspricht nicht nur einer offenen Gesellschaft, die Patienten können damit auch einen Teil der an die wissenschaftliche Methode verlorenen Macht für sich zurückerobern.