Autoritäre Wissenschaft und das Recht auf Placebo-Medizin

Seite 2: Was Ärzte und Patienten wollen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Mit dem Erfolg der wissenschaftlichen Methode in der Medizin ging ein Machtverlust für die Patienten einher. Konnten sie früher frei über die Kompetenz der Ärzte entscheiden, stehen dafür heute die Fachgremien von Ärzten und Wissenschaftlern im Zentrum.2 Im Gegensatz zu der pragmatischen Regel, dass recht hat, wer heilt, gilt die Erkenntnismethode in der wissenschaftlichen Medizin als ausschlaggebend. In einer klassischen Arbeit fasste dies der Medizintheoretiker Mark Sullivan von der University of Washington in Seattle wie folgt zusammen3:

Wo ursprünglich die Heilung die Methode validierte, wird die Methode die Heilung validieren. Die Gültigkeit dieser Methode zur Identifikation effektiver Therapien wird weniger eine praktische Frage über die Produktion von Gesundheit und mehr eine Erkenntnisfrage über die Wahrheit der Methode.

Weil sie ihrem Anspruch nach die einzige Wahrheit über den kranken Körper produzieren kann, wird die wissenschaftliche Medizin tatsächlich alternativlos. Allerdings ließ sich dieser Alleingeltungsanspruch in der Praxis nie durchsetzen. Als beispielsweise 1975 die Homöopathie in Deutschland per Gesetz eingeschränkt werden sollte, sprangen ihr 500 Ärzte im Deutschen Ärzteblatt zur Seite. Per Unterschrift bezeugten sie, dass die Homöopathie bei ihnen selbst gewirkt habe.4 Einer Überblicksarbeit aus dem Jahr 1998 zufolge, in der 25 Befragungen zusammengefasst sind, glaubten 51% der Ärzte an die Wirksamkeit von Akupunktur, 53% an die von Chiropraktik, 26% an die von Homöopathie und 13% an die von Kräutermedizin.5 Bis heute haben Ärztekammern homöopathische und naturheilkundliche Verfahren in ihre Weiterbildungsordnungen aufgenommen. Inzwischen lehren sogar einige deutsche Universitäten die alternativen Verfahren an ihren medizinischen Fakultäten.

Auch auf Seite der Patienten erfreuen sich alternative und komplementäre Verfahren großer Beliebtheit. Mehrere groß angelegte und viel zitierte Studien aus den 1990er Jahren deuten auf eine schon lange bestehende große Nachfrage. Gemäß einer repräsentativen Befragung von mehr als 3.000 Personen in den USA stieg die medizinische Verwendung von beispielsweise Kräutermedizin, Homöopathie oder Energieheilung von 34% im Jahr 1990 auf 42% im Jahr 1997.6 Am häufigsten hatten diese Patienten chronische Beschwerden wie Rückenprobleme, Ängstlichkeit oder Depressionen. Einer Zusammenfassung von 26 Studien aus 13 Ländern zufolge suchten zwischen 7 und 64% von Krebspatienten Hilfe durch alternative und komplementäre Medizin.7 Der Mittelwert lag bei 31%. Einer jüngeren Schätzung zufolge nehmen in den USA etwa vier von zehn Menschen jährlich an einer alternativen oder komplementären Therapie teil.8

Diese Zahlen widersprechen der Reduktion der Medizin auf die reine Wissenschaft. Entsprechend fasst Urban Wiesing, Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Tübingen, in seinen Thesen zur Pragmatik und Pluralität in der Medizin ihre Aufgabe wie folgt zusammen9:

Die Medizin konstituiert sich durch die Aufgabe, kranken Menschen zu helfen. Diese Aufgabe vereinigt die Medizin. Die Medizin kann die Aufgabe nicht durch Wissen, sondern durch effektives Handeln erfüllen. Sie ist eine praktische Wissenschaft."

Wissenschaft und Praxis

Die Medizin ist bisher keine reine Wissenschaft, insbesondere keine reine Naturwissenschaft geworden und wird dies aus methodischen sowie praktischen Überlegungen wahrscheinlich nie werden. Randomisierte und kontrollierte Studien müssen ihre Patientengruppe streng auswählen, um die Variabilität zu verkleinern. Dabei werden beispielsweise Patienten mit mehreren oder undeutlichen Krankheitsbildern ausgeschlossen, obwohl die Therapien später an eine allgemeinere Gruppe verschrieben werden. Außerdem werden die Effekte im statistischen Gruppenmittel erhoben, was ihre Übertragbarkeit auf den Einzelfall einschränkt. Ärzte müssen ihrem Patienten auf Grundlage ihrer Kenntnis diejenige Therapie empfehlen, die für diesen individuellen Fall den besten Nutzen und das geringste Risiko verspricht.

Vor allem hat ein Arzt aber keine eng umrissene Erkrankung vor sich sitzen, sondern einen ganzen Menschen mit bestimmten Problemen, Bedürfnissen und Erwartungen. Das Arzt-Patienten-Verhältnis, der medizinische Kontext, ja, man könnte sagen das gesamte Heilungsritual, spielt eine entscheidende Rolle. In den meisten Studien werden diese Faktoren als unspezifischer Effekt, als Placebo-Effekt, ausgeklammert, weil sie der wissenschaftlichen Methode schwer zugänglich sind. Hinter der Frage, wie Wissen und Bedeutung den Körper beeinflussen und womöglich gar heilen können, verbirgt sich schließlich kein geringeres als das philosophische Leib-Seele- beziehungsweise, in neuerer Sprache, das Körper-Geist-Problem. Dabei kann es für die Patienten zum Nachteil werden, die zugelassenen Praktiken allein auf das "objektiv" messbare einzuschränken.

Einem Bericht von Ethan Basch im New England Journal of Medicine zufolge können Ärzte und anderes Gesundheitspersonal Nebenwirkungen von Medikamenten aus der Dritte-Person-Perspektive unterschätzen. Im Vergleich mit den Angaben von über 450 Krebspatienten einer Klinik in New York zeigte sich, dass beispielsweise Müdigkeit, Übelkeit, Appetitverlust oder Durchfall nach den eigenen Angaben der Patienten viel früher und stärker auftreten als nach Angaben der Mediziner.10

Dieser Perspektivenunterschied wird von einer neueren Untersuchung von Michael Wechsler von der Harvard Medical School und Kollegen unterstützt.11 Sie verglichen die Wirkung eines Asthmamedikaments mit Placebo, einer Scheinakkupunktur und keiner Intervention bei Asthmapatienten. Zwar steigerte nur das Medikament das gemessene Lungenvolumen, der wissenschaftliche Standard der Behandlung, um 20% gegenüber 7% für die drei anderen Bedingungen. Gemäß der Selbsteinschätzung der Patienten profitierten sie aber sowohl vom Medikament als auch vom Placebo und der Scheinakkupunktur gleichermaßen (etwa 50%) gegenüber keiner Behandlung (21%). Dieser Befund hat jüngst wieder eine Diskussion über die Rolle von subjektiven Bewertungen in der klinischen Forschung ausgelöst.