B.1.1.7: Das prognostizierte Oster-Drama
RKI legt einen Lagebericht mit exponentiell ansteigendem Trend der 7-Tage-Inzidenz vor. Brandenburg will eine andere "Notbremse", Tübingen Ausnahmeregelungen und in Dresden wird trotz Verbot demonstriert
Die Fallzahlen in Deutschland steigen wieder. Dazu hat das RKI bei seinem Lagebericht vom 12. März 2021 eine Prognose erstellt, die nicht an Dramatik spart. "Es zeigt sich ein exponentiell ansteigender Trend der 7-Tages Inzidenz der Variante B.1.1.7 seit Kalenderwoche 2", wird festgestellt. Diese Inzidenz steige "in jeder Woche um etwa 46% an und hat sich also etwa alle 12 Tage verdoppelt".
Die Aussage mit dem Signalwort "exponentiell" findet sich in der Beschreibung zu einer Grafik. Dort, auf Seite 15 des Situationsberichts, werden zwei Kurven abgebildet: der Verlauf der Covid-Fälle mit der Variante B.1.1.7 und der Verlauf von Covid-Fällen mit anderen Varianten.
Die Dramatik ist sofort zu erkennen: Zwar zeigt die Kurve mit den anderen Varianten einen Sinkflug, aber die rote B.1.1.7-Kurve steigt in der Prognose immer steiler an. Das sind wohlgemerkt Extrapolationen, eine Modellrechnung. Sie verheißt keine guten Aussichten für Ostern.
Unterschied zu Weihnachten: "Trend geht danach weiter nach oben"
In der Karwoche (Kalenderwoche 13) würde eine 7-Tage-Inzidenz von etwa 150 erreicht. Am Ende der folgenden Woche, die mit Ostermontag beginnt, würde die Inzidenz sich auf dem Weg zur Marke 300 machen, um Mitte April dann 350 zu erreichen. "Die Extrapolation der Trends zeigt, dass mit Fallzahlen über dem Niveau von Weihnachten ab KW 14 zu rechnen ist", heißt es vom RKI.
Wer die gegenwärtige Coronavirus-Lage mit den verschiedenen Parametern genau und anschaulich erklärt haben will, die oder der kann dies prägnant in einem Kurzvideo des Journalisten Olaf Gersemann erfahren. Was das Szenario des RKI anbelangt, so verweist Gersemann zunächst darauf, dass demzufolge für die Osterzeit mit der Häufung von tragischen Fällen zu rechnen ist und mit einer hohen Belastung der Intensivstationen ganz ähnlich wie zu Weihnachten.
Der Unterschied bestehe darin, dass die Dynamik der Ausbreitung des Virus und deren Folgen an den Weihnachtstagen schon gebrochen gewesen sei, während das RKI-Szenario für Ostern und die Zeit danach einen weiteren Anstieg vorsieht, die Dynamik also weitergeht.
Ob das RKI mit diesem Szenario richtig liegt, wird sich erst zeigen, klar ist aber jetzt schon, dass dies politisch ausgewertet wird. Aus der Sicht Gersemanns dokumentiert das RKI, dass es die bisherigen politischen Maßnahmen "für nicht hinreichend hält".
Der Brandenburger Weg
Der "Zahlenschock" der gegenwärtigen Lage und aus der RKI-Modellrechnung machen die 7-Tage-Inzidenzen, die als Voraussetzungen für Lockerungen gelten, zu schwer erreichbaren Zielen. Derzeit ist Schleswig-Holstein das einzige Bundesland unter der 7-Tagen-Inzidenz von 50, Sachsen und Thüringen haben Werte über 100.
Da regionale Unterschiede sehr deutlich ausfallen wie auch der Lockerungsdruck, gibt es erste Ausstiege aus den Vorgaben. So will Brandenburg sich nicht an die von den Ministerpräsidenten der Länder vereinbarte "Notbremse" halten, die gezogen werden soll, wenn die 7-Tage-Inzidenz über 100 steigt. Brandenburg will einen eigenen "ausgewogenen Weg" gehen, "der verschiedene Aspekte berücksichtigt", so Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD). Derzeit wird eine 7-Tages-Inzidenz von 73,3 notiert.
In der Brandenburger Verordnung wird festgehalten, dass "Landkreise und kreisfreie Städte ab einem Inzidenz-Wert von 200 für mindestens drei Tage wieder schärfere Schutzvorkehrungen gegen das Coronavirus anordnen".
Auch der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer strebt einen "Sonderweg" an. Durch eine Ausweitung von verpflichtenden Schnelltests soll ermöglicht werden, dass bereits ab der kommenden Woche im gesamten Stadtgebiet Gastronomie, Hotellerie und Kultur öffnen.
Seit dem 21. Januar verzeichnet Tübingen eine 7-Tag-Inzidenz unter 50. Derzeit liegt der Wert für den Landkreis laut RKI bei 33,7. Laut Palmers Plan sollen zudem alle Menschen, "die den Einzelhandel in der Tübinger Innenstadt - mit Ausnahme von Buchhandlungen und Lebensmittelgeschäften - nutzen, einen Schnelltest vorweisen". Er hat vor, dass ab kommender Woche die Testkapazität über sechs Corona-Teststationen hochgefahren wird.
Lauterbach warnt
Den Lockerungsbefürworten stehen wie üblich Mahner gegenüber. Als Zentralinstanz für diese Rolle hat sich der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach (SPD) profiliert. Zusammen mit Stefan Pilsinger (CSU) rät er von Lockerungen ab, da stabile oder sinkende Fallzahlen auf "absehbare Zeit nicht zu erreichen sind".
Beide warnen vor den Fehlern, die Großbritannien und Irland mit ihren Öffnungen im Winter gemacht haben, die dann angesichts rasch steigender Fallzahlen zu neuerlichen Schließungen geführt hätten.
Mit der Ausbreitung der britischen Virus-Variante würden vielfach schwerere Krankheitsverläufe drohen, so Lauterbach.
Die Gefährlichkeit von B.1.1.7
Noch gibt es in der Öffentlichkeit wenig solides wissenschaftliches Material zur Gefährlichkeit der Mutante. Gestern kursierte in den deutschen Medien das Ergebnis einer Studie zu B.1.1.7, die Robert Challen et al. im British Medical Journal veröffentlichten. Verglichen wurden die Krankheitsverläufe von je etwa 55.000 Erkrankten, die mit herkömmlichen Varianten oder B.1.1.7 infiziert waren.
Unter 1.000 Menschen aus der ersten Gruppe kam es zu durchschnittlich 2,5 Todesfällen. In der B.1.1.7-Gruppe waren es 4,1, was die Autoren zur Einschätzung brachte, dass das absolute Risiko der Sterblichkeit innerhalb dieser Gruppe von positiv Getesteten "vergleichsweise niedrig bleibe".
In einem Bericht der SZ zur Studie heißt es am Ende, dass "eine etwas höhere Sterblichkeit durch B.1.1.7 wahrscheinlich sei - auch wenn Einschränkungen und Schutzmaßnahmen eingehalten würden".
[Ergänzung: Die Sterblichkeit war in vorliegender Studie deshalb "vergleichsweise niedrig", weil ausdrücklich keine Krankenhauspatienten und keine Pflegeheimpatienten einbezogen waren.]
Proteste
Aus Dresden, Berlin und Potsdam werden heute unterschiedlich große Versammlungen von Gegnern der Maßnahmen gemeldet. In Dresden, wo es ein "Verbot der Querdenken-Demonstration" gab, sei die Lage "sehr dynamisch", die Stimmung angespannt, meldet der FAZ-Live-Ticker mit Berufung auf dpa.
Laut dpa-Reporter setzte sich schließlich ein Zug von gut 1000 Menschen zunächst Richtung Ostragehege in Bewegung - immer wieder waren etwa Rufe zu hören wie "Die Pandemie ist vorbei." Die Polizei sperrte Straßen ab, um den Zug zu stoppen. Wasserwerfer seien auf dem Weg zum Ostragehege, twitterte die Polizei. Dort sollen sie das Impfzentrum absichern, hieß es.
FAZ
Der MDR berichtet von einer "dezentralen Strategie" der Querdenker in Dresden und von Zusammenstößen mit der Polizei.