Banalisierung der Gewalt im Namen der Religion
Die Embassy-Riots und gefährliche Gefühlspolitik
Der religiös motivierte Furor über das Internetposting eines Films hat sich am gestrigen Freitag, dem Tag der Moscheenbesuche in der islamischen Welt, ausgedehnt. Eine "Welle des Zorns", die auch zu Angriffen auf die deutsche und die britische Vertretung in der sudanesischen Hauptstadt Khartum führte, sei über die muslimische Welt geschwappt, mit gewaltsamen Szenen auf den Straßen von Nordafrika bis Südostasien, schreibt der Guardian heute. Nicht der einzige Bericht, der mit dem großen Blick auf einen Flächenbrand eröffnet. Nach dem gestrigen Tag herrscht der Eindruck vor, dass die gesamte muslimische Welt von der Rage gewaltbereiter Mobs heimgesucht wurde. Wie Karten zu den Protesten zeigen, ist der Eindruck so nicht richtig.
Es gab in bestimmten Ländern, in denen der muslimische Glaube sehr wohl eine dominante Rolle spielt, keine Riots (zumindest keine, die so vehement waren, dass sie die Berichterstattung erfassen musste). Nicht in Saudi-Arabien, nicht in den Vereinigten Emiraten, nicht in der Türkei. Dies zeigt sich in entsprechenden Karten in The Atlantic oder in einer Liste der Proteste in der ägyptischen Zeitung al-Ahram. In Pakistan, wo leicht entflammbare größere religiöse Meuten keine Überraschung wären, versammelten sich offensichtlich nur ein paar Hundert empörte Eiferer, die wie üblich Fahnen verbrannten und "Death to America" skandierten, gewalttätige Zwischenfälle blieben aber bislang aus.
Mit diesem Hinweis soll nicht die Gewalt relativiert werden, die in anderen Ländern zu Protesten mit Todesfolge, angezündeten Botschaftsgebäuden und zu Angriffen geführt haben, die unter Botschaftsangehörigen Angst um Leib und Leben verbreiteten. Die unterschiedlichen Reaktionen der Muslime in verschiedenen Staaten machen aber deutlich, dass ein Standardurteil, das im Zusammenhang mit den aktuellen Gewalttätigkeiten, erneut in verschiedenen Variationen wieder aufkommt, nicht stimmt - dass die muslimische "Kultur" dafür verantwortlich sei.
Das Pauschalurteil verstellt den Blick auf das Phänomen, das sich mit den Ausschreitungen in einer neuen Schärfe zeigt: der Salafismus, mit dem in dieser Wirkungsmacht und Präsenz keiner gerechnet hat oder rechnen wollte, mit dem sich besonders islamistische Regierungen schwer tun, weil sie sich nicht deutlich genug abgrenzen, weil sie populistische Wasserstellen mit dessen geistigen Führern teilen oder auch weil sie ihn unterschätzt haben.
Andere Reaktionen
Das man auch anders reagieren kann, als dies die islamistischen Führungen in Ägypten und Tunesien taten, zeigte der türkische Präsident Erdogan. Er machte deutlich, dass die gewalttätigen Ausschreitungen "unislamisch" sind und verurteilte sie.
Das, was anderen politischen Führern, die Politik von islamischen Werten getragen wissen wollen, wie z.B. der frühere Muslimbruder Mursi, anscheinend als schwierigen Spagat empfinden, fällt Erdogan leicht: die Anerkennung dessen, dass der Film zwar eine Provokation sei, die von Muslimen nicht mit der Freiheit der Meinungsäußerung legitimiert werden kann, aber Proteste niemals irgendeine Form von Gewalt oder Terrorismus anvisieren sollten. Gewalt gegen Unschuldige sei durch nichts gerechtfertigt und "vor allem nicht durch den Islam".
Der ägyptische Präsident Mursi brauchte zwei Tage, um sich öffentlich zu einer Haltung durchzuringen, die die Gewaltauschreitungen vor der Botschaft in Kairo eindeutig verurteilt. Er hat erst auf Druck des amerikanischen Präsidenten reagiert. Wie die "Twitter-Konversation" zwischen der ägyptischen Muslimbrüderschaft und der US-Botschaft zeigte, ist es durchaus möglich, dass auch Mursi, wie schon Arafat, auf Englisch anders spricht als in Arabisch, wo man es sich nicht mit islamistischen Anhängern verscherzen will und mit der Rechtfertigung von Gewalt ausreligiösen Gründen spielt.
Die Proteste in Kairo vor der US-Botschaft in Kairo sind nicht leicht auf einen einfachen Reim zu bringen. Dazu sind allein schon die unterschiedlichsten Beteiligten nicht in eine Reihe zu bekommen. So waren angeblich Ultras bei der Erstürmung der Schutzmauern die Vorprescher, Berichte über die Proteste gestern, zeigen laut französischen Berichten viele Jugendliche und Kinder, die möglicherweise aus ganz anderen Gründen als der Film protestiert haben, aufgrund ihrer miserablen Situation. Der Film spielt bei der Motivation der Proteste von wahrscheinlich nicht wenigen nur eine Nebenrolle. Eine Hauptrolle spielen bei manchen Wütenden dagegen die politischen Verhältnisse in Ägypten, die nicht so sind, wie man sich das vom Abgang Mubaraks erhofft hat.
Entscheidende Rolle der Salafisten
Als ziemlich sicher gilt dagegen, dass ägyptische Salafisten für den Eklat, für das Herausstellen des Films aus der Internet-Nische, eine entscheidende Rolle gespielt haben, und die ägyptischen Salafisten haben die Eskalation im Zusammenhang mit der Provokation betrieben. Wie übrigens auch in Tunesien.
In beiden Fällen haben die Regierungen versagt. Die Islamisten können mit der neuen Konkurrenz, von der sich mancher "traditionell" islamistische Politiker "überrascht" zeigt wurde, nicht umgehen. Bislang waren die etablierten Islamisten maßgebend dafür (oder sahen sich als maßgeblich), was dem Islam gemäß richtig ist. Mit den Salafisten sind Radikale aufgetaucht, die ihrerseits diesen Anspruch auf die richtige Auslegung des islamischen Kodex mit massiven Mitteln verfechten und durchsetzen wollen.
Und die Vertreter der Muslimbrüder in Ägypten und der Ennahda in Tunesien haben sie sich nicht dazu entschlossen, hier eine deutliche Trennweand zu ziehen. Sie haben Angst davor, die populistische Macht zu verlieren. Sie setzen auf Gefühlspolitik. Und das in Zeiten, wo es in Ägypten und Tunesien wichtiger wäre, sich um Wirtschaftspolitik zu kümmern. Die ist nach wie vor in den Händen der Ancien Regimes.
Währenddessen sieht man zu, wie in Tunesien, wie sich Gewalttaten von Salafisten häufen und es zu einer Banalisierung von Gewalt kommt, wie sei gutgeheißen wird, wenn sie religiös begründet wird.
Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass in beiden Ländern die Sicherheitskräfte reichlich wenig taten, um die Ausschreitungen gegen die Botschaften früh genug zu unterbinden. So gibt man das Heft aus der Hand und Radikale haben es leicht, aus der gefühlten Provokation gewalttätiges Kapital zu schlagen, mit dem dadurch gezeigten Gewaltpotential können sie dann wiederum moderatere Kräfte erpressen.
In Saudi-Arabien, dem Ursprungsland der neuen wahabistischen Welle, wird, etwa in der Zeitung Arab News, überhaupt nicht von den Ausschreitungen berichtet. Probleme mit Salafisten sind dort anscheinend kein Thema, unerwünschte News. Dafür hat die Zeitung heute als Meldung ganz oben, dass auch in Iran ein Film über den Propheten in Arbeit ist, zur Entrüstung der muslimischen Gelehrten: "The Iranian announcement about the film triggered resentment among Muslim scholars."