Bau und Gegenbau
War der Kalte Krieg eine Win-win-Situation der Stadtentwicklung?
Sie war die "erste sozialistische Straße auf deutschen Boden" - die zeitgleich mit der DDR aus der Taufe gehobene Stalinallee. Dagegen das Westberliner Hansaviertel (1957): Es war die erste in den begrünten Stadtraum aufgefächerte "Stadtlandschaft". Klassizistisch auftrumpfende Tradition gegen vom Bauhaus inspirierte Moderne. Im Osten die prachtvolle und festliche "Achse der Befreiung" und des Friedens, im Westen das heitere und auch wieder festliche "Schaufenster der freien Welt". Die politischen Systeme trugen ihren Wettstreit um die bessere Zukunft demonstrativ in Städtebau und Architektur aus. Der Antrag, beide Quartiere gemeinsam für die UNESCO-Welterbeliste vorzuschlagen, enthielte das architekturpädagogische Moment, den Nachgeborenen die Geschichte einer Systemkonfrontation plastisch vor Augen zu führen.
Sie würden auch lernen, wie die Konfrontation aufzulösen ist. Zwar schaukelten sich in sukzessiven Aufbauetappen "Bau und Gegenbau" immer weiter hoch, bis in guter deutscher Dialektik gar von "Gegengegenbau" gesprochen wird, doch liegt darin auch Versöhnung. Die kam nicht erst 1989. Erstaunlich sind bei allen Differenzen die Analogien und Kontinuitäten des Bauens. Die Linien ziehen sich durch den Nationalsozialismus bis in die 20er Jahre. Nach der Teilung übernahm, jeweils zeitlich versetzt oder latent, der Westen Stilmittel des Ostens und umgekehrt. Die Konfrontation von Tradition und Moderne kann, wie es im Antrag heißt, in eine Koevolution aufgelöst werden.
Was ineinander verwoben ist, ist zunächst chronologisch in vier Phasen teilbar:
1. Wohnzelle Friedrichshain
Die zwei viergeschossigen Laubenganghäuser, die unter diesem Titel längs der Stalinallee 1949/50 verwirklicht worden sind, geben diesem Straßenabschnitt einen musealen Charakter. Sie sind Fremdkörper zwischen den großen Volumen der stalinistischen Architektur der darauffolgenden Phase. So befremdlich sind sie jedoch nicht. Mit ihren außen verlaufenden Fluren knüpfen sie an einen Bauhaus-Typ an. Zu Wohnzellen verdichtet, sollten solche Haustypen das Ideal der aufgelockerten und gegliederten Stadt einlösen, das aus der "Charta von Athen" von 1933 abgeleitet wurde.
Der Kollektivplan von 1946, erarbeitet von einem Team um den für Gesamtberlin verantwortlichen Planer Hans Scharoun, bereitete jenes Ideal für eine Stadt auf, von der Max Frisch schrieb: "Unter dem Asphaltpflaster Berlins liegt der Sand. Die Stadt sinkt in die Natur zurück." Das wurde zum Begriff der Stadtlandschaft ausgeprägt. Die verbliebenen Funktionen werden zu Zellen verdichtet und die Landschaft zieht in Form von Grünzügen in die Stadt, wie die Stadt entlang dem "Urstromtal der Spree" in die Landschaft fließt. Das lässt Landwirtschaft, aber auch Industrie und Straßenbänder zu.
1948 setzte mit der Blockade die Teilung Berlins ein. Scharouns Team schien das nicht bemerken zu wollen, bis Ulbricht persönlich Schluss machte mit Funktionalismus, Formalismus, US-Kosmopolitismus und wie die Schimpfworte alle hießen. Der Kollektivplan verschwand in der Schublade, bis er - in Phase 3 - neue Verwendung fand.
Bauen in "Nationaler Tradition"
Auf den Bauhausstil und Funktionalismus verstanden sich auch Hermann Henselmann und Richard Paulick, der vor dem Krieg die rechte Hand von Walter Gropius gewesen war. Als sie entsprechende Entwürfe dem ZK der SED vorlegten, wurde Paulick gefragt, wie er sich erdreiste, solche Eierkisten zu zeichnen. Er antwortete, nicht so schnell seine Eierschalen abwerfen zu können. Er legte jedoch innerhalb 24 Stunden einen neuen Entwurf vor, mit pantheonhaften Zügen. Das "neue" Zeitalter der Arbeiterwohnpaläste war angebrochen. "National in der Form und sozialistisch im Inhalt" musste es nun sein.
Im Unterschied zu Scharoun, der sich für den Westen entschied, wurden die beiden zu Protagonisten des Aufbaus der Stalinallee. Hermann Henselmann entwarf den Prototyp, das Hochhaus an der Weberwiese (1951/52). Schinkel nachempfundene Details, ein dorisches Säulenmotiv, weiße Meißner Keramik und schwarzer Marmor, der von Görings Landsitz "Carinhall" stammt, sind zurückhaltend eingesetzt. Die vertikal gegliederte Fassade verleiht dem Haus etwas Aufstrebendes "wie der Sozialismus". Aber es bleibt grazil.
Monumentaler wurde es in der auf 90m verbreiterten Stalinallee. Henselmann setzte die Eckpunkte der Achse, gegenüberliegende Tore am Strausberger Platz und am Frankfurter Tor mit den Wohntürmen, deren Aufsätze an Gontard gemahnen. Die Wohnblöcke schießen bis zu 13 Stockwerken auf mit Dachterrassen und Vorläufern von Penthouses. Ziergiebel, Risalite, Säulen nach griechischer Ordnung und folkloristische Elemente sorgten für "prachtvolle, populäre und unterhaltsme" Wohnkultur. Ulbricht zeichnete diesen Tempelstil persönlich vor. Für den ehemaligen Bauhaus-Chef Hannes Meyer war es eine "Bekleckerung mit klassiszistischen Details", was in der Diktion der kommunistischen Führung "Bauen in nationaler Tradition" hieß. Der Volksmund kürzte zu "Nati Tradi" ab.
Die Würdeformen der Baukunst - Prachtstraße, Palast, Säule, Ornament - wurden zur Kultur der Arbeiterklasse umgedeutet. Fällt dieser Klassizismus hinter Schinkel zurück in eine Refeudalisierung durch Dekor? Oder ist er "Ausdruck der unvollendet gebliebenen bürgerlichen Revolution", wie der Verantwortliche Kurt Liebknecht ihn deutete? Der reale Sozialismus bringe die Vollendung. Die Wohnungen sind - heute noch - komfortabel, die Miete lag - damals - bei 90 Pfg./m². Geschäfte und Gastronomie sind in die Häuser integriert. Eine Baumpromenade macht die großmaßstäblichen Dimensionen und die guten Proportionen des weiten Korridors erfahrbar. Es ist ein welt-läufiger europäischer Boulevard.
Die Anregung zu diesem sozialistischen Klassizismus holte sich eine DDR-Delegation 1950 in der Sowjetunion ab. Sie brachte "16 Grundsätze des Städtebaus" mit. Der DDR-Städtebau erteilte Gartenstädten, der Charta von Athen und der Moderne eine Absage und kehrte zur kompakten europäischen Stadt zurück. Fürs erste. Im Jahr des Mauerbaus fielen der Name der Allee und das Denkmal Stalins.
Wahrzeichen der Nachkriegsmoderne
Die Westberliner Politik stand unter Legitimationsdruck und antwortete auf einen Schlag: mit der "Interbau" 1957 auf dem Gelände des zerbombten Hansaviertels. Die Beteiligung war international, darunter etliche von den Nazis vertriebene Architekten. Zentralität und Axialität waren aufgelöst, Raster und Raumkanten verschwunden. Der Grundrissplan insgesamt wie auch der einzelner Häuser bzw. Wohnungen ist offen.
Verschiedenste Haustypen, Punkt- und Scheibenhäuser bis hin zu Einfamilienhäusern, sind in loser Folge und asymmetrisch angeordnet, ohne Hierarchie, und das heißt: freiheitlich. Aus der Auflockerung im Sinne der Charta entwickelt sich tatsächlich eine Durchgrünung und nicht, wie andernorts, die autogerechte Stadt. Der Tiergarten fließt in die Siedlung und umgekehrt. Die Moderne ist im Hansaviertel grün geworden, das Grün modern.
Das Konzept des fließenden Raums scheint überall durch. Wenn die Häuser - nicht nur bei Le Corbusier - auf Stützen gestellt sind, wenn die sechste Seite der Gebäude sichtbar ist, wird im ebenerdigen Luftgeschoss die Materie transparent in der Durchdringung mit dem Raum. Das Haus ist ins Gesicht des frei zugänglichen parkaffinen Grüns eingeschrieben wie die (ideale) Stadt ins Gesicht der Landschaft. Stärker ausdifferenziert ist im Hansaviertel die Funktionstrennung zwischen Wohnen und Gewerbe, aber die kleine Ladenstraße ist fußläufig und ungestört von "Auto-Aggression" zu erreichen. Das Viertel liegt in der Mitte Berlins an der großen Ost/West-Achse, verzichtet aber auf jede autoritäre Geste.
Zweiter Bauabschnitt der Magistrale
Die Baukosten des Zuckerbäckerstils waren zu hoch. Schon 1954 hatte Chruschtschow für die Sowjetunion Verschwendung moniert. Nun galt auch für die DDR: Besser, billiger und schneller bauen. Das hieß einerseits industrielle Vorfertigung von Platten für serielles Bauen. Es hieß andererseits klammheimliches Einschwenken auf eine Ost-Variante der Nachkriegsmoderne. 1959 wurde der Grundstein gelegt für den II.
Bauabschnitt der Magistrale Richtung Alexanderplatz, die dann in Karl-Marx-Allee umbenannt werden sollte. Henselmann hatte außer Konkurrenz einen Entwurf aus Punkthochhäusern und Scheiben mit Laubengang bei aufgelockerter Anordnung vorgelegt. Das Politbüro war pikiert: Das sehe aus wie das Hansaviertel. Dazu kam es nicht, sondern zu 84 m langen, acht bis zehngeschossigen Scheiben im Rhythmus gereihter Fassaden. Henselmann durfte dann doch zum "Alex" hin mit dem Haus des Lehrers und der Kongresshalle (Ost) abschließen.
Es blieb bei der Symmetrie betonenden Achse, aber die Abkehr vom Korridor ermöglichte Durchgrünung und Höfe. Ein "Gesellschaftszentrum" und etliche zweigeschossige Dienstleistungspavillons mit großzügiger Verglasung standen zwar selbständig, trugen aber zur Auflockerung bei. Bis heute gut frequentiert ist das Kino "International" (1963). Legendär durch den gleichnamigen Song ist die Mokka-Milch-Eisbar.
Wer steht wofür?
Die "Vorrangstellung erbaulicher Rhetorik", welche Kevin Lynch dem Zuckerbäckerstil bescheinigte, galt nicht minder für die Politik. In aller Feindschaft waren sich die beiden Deutschlands verbunden - bis zur partiellen Übereinstimmung. Ihre asymmetrisch verflochtene Parallelgeschichte offenbart immer wieder Anziehungspunkte, welche auf die gemeinsame Vergangenheit zurückverweisen.
R. Paulicks 1951 für die Stalinallee entworfene Sporthalle, 1971 wegen Baufälligkeit abgerissen, trug unverkennbar ein nationalsozialistisches Gepränge zur Schau und war auch zur Inszenierung von Massen tauglich. Haben nicht auf der Weltausstellung 1937 in Paris die von Hitler inspirierte und die sowjetische Architektur in einem Wettstreit gelegen, in welchem sie sich durch Überbietung anverwandelten?
Paulick hatte keine Berührungsängste gegenüber dem bei den Nazis beliebten Heimatschutzstil, und von dort lässt sich der Bogen zurückschlagen. In den letzten Kriegsjahren ahnten die Planer Hitlers, dass aus der Monumentalität nichts wird und entwickelten aus den organischen Elementen jenes Stils einen Begriff von Landschaftlichkeit. Es war das Leitbild einer in Siedlungszellen gegliederten und durch Grünzüge aufgelockerten Stadtlandschaft. Scharoun tat sich nicht schwer mit der Übernahme dieses Leitbildes, zumal es auch bis zu sozialreformerischen Siedlungsbestrebungen der Zwanziger Jahre zurückverfolgt werden kann.
Die Verflechtungen und zum Ende der DDR offenkundigen Kongruenzen mit der BRD sind so zahlreich, dass nur ein paar Beispiele ergänzt seien:
- Die "Stadtkrone", auf die sich Henselmann noch mit seinen Tortürmen und dem Fernsehturm bezog, war auch Scharoun vertraut. Er war mit deren Verfechter, Bruno Taut, gut bekannt. Scharouns Meisterstück jedoch, die Berliner Philharmonie, wirkt wie ein Gegenentwurf zur Stadtkrone.
- Die Kontakte zwischen den Planern Ost und West rissen auch während des Kalten Krieges nicht ab, auch wenn offiziell unerwünscht. Ernst May, der Planer des "Neuen Frankfurt" der 20er Jahre, der nach dem Krieg in den Westen ging, gewann sogar 1957 einen für Ostberlin (Fennpfuhl) ausgeschriebenen Wettbewerb.1
- In West wie Ost war in den 60er Jahren historische Bausubstanz schlecht angeschrieben, um den Bau von Großwohnsiedlungen vorzubereiten. Diese konzentrierten sich im Osten jedoch zunächst auf städtisches Territorium, während im Westen Trabantenstädte in Verbindung mit Eigenheimbau zu einer suburbanen Zersiedelung führten.
- Das Viertel rund um die Nikolaikirche (13./15. Jh.) wurde 1987 aus der Retorte gezogen. Die DDR-Bauingenieure waren stolz, historische Giebel aus seriell gefertigten Platten leicht abstrahiert nachstellen zu können. Oder "echt alte" Häuser wurden in die neue Altstadt umgesetzt. Marketing-geile Stadtmanager westdeutscher Städte lecken sich heute noch die Finger nach so etwas.
- …und was die "Kritische Rekonstruktion" der kompakten Stadt angeht, kann der erste Bauabschnitt der Stalinallee als ein frühes Beispiel gelten.
Die geteilte Stadt war Plattform der Systemkonfrontation. Die zusammenwachsende Stadt bietet sich als Plattform einer Architekturdiskussion an. Der Streitwert der systemischen Konkurrenz von Moderne und Tradition ist das Grundkapital einer städtebaulichen Erneuerung. Es geht nicht um die Zerstörung oder den Rückbau des jeweils anderen. Vielmehr entwirft die Moderne sich neu, indem sie die Unterschiede anerkennt. Die Demonstration konträrer Architekturen ist im Rückblick als Kontrapunktik zu erkennen, aus der sich in Zukunft Mehrstimmigkeit entwickeln kann. Nicht länger mit der Nachkriegsmoderne zu hadern, heißt, die Brüche in der deutschen Geschichte anzuerkennen.2 Darauf lässt sich gut, kritisch und ohne Wiederholungszwang bauen. Der Welterbe-Antrag ist fundiert.