Befinden wir uns in einer "Fassadendemokratie" mit einem "Tiefen Staat"?

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Über die derzeit kursierenden Beschreibungen westlicher Demokratien und Medien

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Die Demokratie steht weltweit derzeit unter Druck. Es lässt sich eine Tendenz zur Entdemokratisierung auf der internationalen und der nationalstaatlichen Ebene feststellen. Aber ist es tatsächlich so, wie z.B. der Psychologe Rainer Mausfeld suggeriert, dass das westliche Demokratiesystem im Zuge des Siegeszugs der Neoliberalisierung zu einem manipulativen und getarnten System nicht legitimierter Herrschaft degeneriert ist? Wird sich tatsächlich der "Hülse der repräsentativen Demokratie nur noch bedient, um die eigentlichen Zentren politischer Macht für die Öffentlichkeit unsichtbar zu machen"1? Werden die Bürger_innen mit Hilfe gezielter Falschinformation ('Fake News') im Interesse der Machthabenden manipuliert?2

Die Aushöhlung der Vereinten Nationen

Große Hoffnungen wurden 1945 in die Gründung der Vereinten Nationen gesetzt, die dieses Jahr ihr 75-Gründungsjubiläum feiern. Manche Hoffnungen auf eine an den Menschenrechten orientierte Friedensarbeit, an den Klimaschutz und zur Beseitigung des Welthungers konnten in Ansätzen eingelöst werden. Die Welt wäre sicherlich in einer noch problematischeren Lage ohne die multilaterale Zusammenarbeit über die United Nations, als sie es ohnehin zurzeit ist.

Viele Vorhaben scheiterten jedoch an der ungenügenden Demokratisierung der UN. Die damals zunächst sehr zurückhaltend vorgenommene Demokratisierung des internationalen Zusammenschlusses der Völker wurde nicht weiterentwickelt, sondern wird derzeit eher Schritt für Schritt unterlaufen und zurück entwickelt.

Die Vereinten Nationen wurden bei ihrer Gründung schon so angelegt, dass eine weitere Demokratisierung einen schweren Stand haben würde. Die UN-Vollversammlung besteht nur aus von Regierungen abgesandten Vertretern und ist nicht gewählt. Dort befinden sich sogar Vertreter von Diktaturen und autokratischen Regimes. Sie kann darüber hinaus nur Empfehlungen aussprechen. Der UN-Sicherheitsrat dominiert daher die multilaterale Zusammenarbeit. Hierbei sind auch die mit einem Veto-Recht ausgestatteten mächtigen ständigen fünf Mitglieder nicht gewählt sondern gesetzt worden.

Die mächtigsten Nationen im UN-Sicherheitsrat in Form der fünf ständigen Mitglieder vertreten eher eigene nationalstaatliche und geostrategische Interessen und weisen ein deutliches Defizit hinsichtlich ihrer Orientierung an gemeinsamen Interessen der Weltbevölkerung auf, wie z.B. der Bekämpfung des Welthungers, gemeinsam koordinierter Anstrengungen gegen Pandemien oder der Herstellung von Bedingungen zu einer wirkungsvollen Friedenssicherung und Kriegsprävention.3

Die Rede des US-Präsidenten Donald Trump im September 2019 vor der 74. UN-Generalversammlung macht die bewusst vorgenommene Abwertung der UN deutlich. Trump wagt es, den Vertretern der Vereinten Nationen ihre Legitimität im Sinne einer multilateralen Verständigungsgemeinschaft abzusprechen, indem er formuliert4:

If you want freedom, take pride in your country. If you want Democracy, hold on to your sovereignty. If you want peace, love your nation. Wise leaders always put the good of their own people and their own country first.

The future does not belong to globalists. The future belongs to patriots.

Hier wiederholt er seine bereits zuvor vor den UN vorgebrachte provokative Aussage, dass die Zukunft nicht dem Weltbürgertum, sondern den nationalstaatlichen Patrioten gehöre. Demokratie könne nur im nationalstaatlichen Rahmen erhalten werden. Nur Menschen, die ihre Nation liebten, trügen automatisch zum Frieden in der Welt bei. Geschichtsvergessener kann man sich wohl nicht äußern. Immer waren national-patriotische Einstellungen und nationalistisch gefütterte Emotionen Begleiterscheinung und massenpsychologisch hergestellte Motivation zwischenstaatlicher Kriege.

Klugheit in der politischen Führung besetzt er mit dem Nationalchauvinismus ihrer politischen Führer vergleichbar mit dem "America first". Dass Trump sich dies in seiner Funktion als US-Präsident vor den Vereinten Nationen erlauben kann, ist Ausdruck der derzeit zu beobachtenden Schwächung der Vereinten Nationen, die sich gegen eine derartige Verhöhnung ihres eigenen Anspruchs hinsichtlich der Multilateralität und Völkerverständigung nicht wirkungsvoll wehren kann.

Auch Trumps Versuche über mit Falschinformationen gespickten Twitter-Botschaften die Vereinten Nationen, z.B. die UNESCO oder die WHO, finanziell unter Druck zu setzen, sind hier zu nennen. Nachweisbar bedient er sich 'Fake News', zum einen um seine politische Agenda des 'America First' umzusetzen und zum anderen, um lästige Probleme, wie z.B. Corona, zu verdrängen bzw. aus dem öffentlichen Fokus zu nehmen.5

Die Krise nationalstaatlicher Demokratien

Doch nicht nur auf der Ebene der Vereinten Nationen lassen sich Demokratiedefizite feststellen, auch zahlreiche Nationalstaaten mit ehemals demokratischem Selbstanspruch sind in der Krise. Bereits vor mehreren Jahrzehnten kritisierte der deutsche Sozialwissenschaftler Tilman Evers zutreffend das Demokratiedefizit so mancher repräsentativ organisierter Demokratien6:

Dazu zählen Politikverdrossenheit und Vertrauensschwund in der Bevölkerung, Zurichtung politischer Inhalte auf Wahltermine und Medienöffentlichkeit, Ausblendung längerfristiger und programmatisch 'querliegender’ Themen, Parteidisziplin statt Diskussions- und Lernoffenheit, hierarchische Binnenstrukturen und Ämterpatronage, Aushöhlung des Parlaments zugunsten der Exekutive und Kompetenzbehauptung statt Problemlösung.

Natürlich müssten die verschiedenen westlichen Demokratien hier differenziert untersucht werden, da zwischen den politischen Strukturen Deutschlands im Vergleich etwa zu den USA, der Schweiz oder GB erhebliche Unterschiede vorhanden sind.

In diesem Zusammenhang ist auch die Notwendigkeit zu diskutieren, Formen repräsentativer Demokratie mit Elementen direkter Demokratie, wie Bürger- und Volksbegehren sowie Volksentscheide, in eine sinnvolle Balance zu bringen. Werden allerdings Formen direkter Demokratie zu mächtig, dann entwerten sie demokratische Wahlen, die gewählten Parlamente und deren Repräsentanten. Auch stellt sich die Frage, ob Volksabstimmungen immer die besseren politischen Lösungen bringen oder nicht auch im Falle von Manipulation, Hetze und Demagogie zu fragwürdigen Entscheidungen führen. Findet hingegen direkte Demokratie nur mit hohen Hürden oder alibihaft statt, dann fühlen sich die Bürger zwischen den Wahlen oftmals übergangen und abgehängt. Es wird hierbei die Chance zu demokratischer Aktivierung und Mitbestimmung vertan.

Aufgrund der ungenügenden Mitbestimmungsmöglichkeit, der Abgehobenheit vieler Parlamentarier und der Unzufriedenheit mit vielen parlamentarischen Entscheidungen hat sich in den letzten Jahrzehnten in vielen vorwiegend repräsentativen Demokratien, wie z.B. Deutschland oder Frankreich, eine schleichende Politik(er)verdrossenheit eingestellt. Sie ist in einem ernst zu nehmenden Ausmaß mit deutlichen Tendenzen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit und mit einem Hang zur Wahl rechtspopulistischer Parteien und Politiker verbunden.7

Einschneidende Änderungen hat es hierüber hinaus in einer Reihe ehemaliger repräsentativer Demokratien gegeben, die sich deutlich in die Richtung einer autokratischen Staatsform entwickeln, wie z.B. die Türkei, derzeit die USA, die Philippinen, Ungarn, Russland, Brasilien. Andere Staaten, die noch nie als demokratische Staaten im westlichen Sinne zu bezeichnen waren, wie z.B. China, bauen die digitale Kontrolle über ihre Bürger zunehmend aus und treten in die staatliche Entwicklungsphase einer digitalen Autokratie ein. Ein wesentliches Kennzeichen der sich autokratisch entwickelnden Staaten ist, dass mit systematischen 'Fake News' gearbeitet wird, die entweder selbst produziert oder von außen manipulativ eingesetzt werden. Beispielsweise die US-Präsidentschaftswahlen 2016, die zur Ernennung Trumps führten, die Abstimmung zum Brexit in England im gleichen Jahr sowie die polnischen Wahlen 2015 wurden nachweislich von systematisch über die sozialen Medien verbreiteten 'Fake News' auch unter Zuhilfenahme von 'Social Bots' beeinflusst.

Der Transformations-Index der Bertelsmann-Stiftung (BTI), der seit 2006 für 129 Entwicklungs- und Schwellenländer erhoben wird, weist einen Rückgang demokratischer Strukturen und eine Zunahme nationaler Autokratien aus8:

Immer mehr Menschen leben nicht nur in Ungleichheit, sondern auch in repressiven Regimen. Aktuell werden 3,3 Milliarden Menschen autokratisch regiert, so viele wie noch nie seit Start der Untersuchung. Ihnen stehen 4,2 Milliarden Menschen gegenüber, die in Demokratien leben. Von den 129 untersuchten Entwicklungs- und Transformationsländern stuft der BTI 58 als Autokratien und 71 als Demokratien ein. 2016 betrug das Verhältnis noch 55 zu 74. Aber es ist weniger die leicht steigende Zahl von Autokratien, die bedenklich stimmt. Problematisch ist, dass in immer mehr Demokratien Bürgerrechte beschnitten und rechtsstaatliche Standards ausgehöhlt werden. Ehemalige Leuchttürme der Demokratisierung wie Brasilien, Polen oder die Türkei gehören zu den größten Verlierern im BTI.

Die politische Zukunftsperspektive einer Neuordnung liegt in einer Stärkung des Demokratiegedankens

Allerdings soll trotz dieses derzeitig feststellbaren Rückzugs der Demokratien im weltweiten Kontext an der Idee der Demokratie als geeigneter gesellschaftlicher, staatlicher und überstaatlicher Herrschafts- und Lebensform festgehalten werden. Nur in Demokratien lassen sich auch zukünftig die Menschenrechte, wie z.B. die Unantastbarkeit der Menschenwürde, das Recht auf körperliche Unversehrtheit sowie die Organisations- und Meinungsfreiheit, verwirklichen. Nur in Demokratien müssen demokratisch engagierte Menschen nicht in Angst leben, am nächsten Morgen abgeholt zu werden. Nur in Demokratien kann es gelingen, den Willen und die Bedürfnisse unterschiedlicher Bevölkerungsteile im Rahmen von Beteiligungsverfahren und politischen Kompromissen angemessen zu berücksichtigen. Nur die Demokratie gewährleistet eine Einlösung der Ziele einer an Mündigkeit der Menschen orientierten Aufklärung, deren Konzipierung als bisher bedeutendste Kulturleistung aufgefasst werden kann.

Natürlich gibt es auch hinter den Kulissen Konzernspitzen und Interessensgruppen, die versuchen, verdeckt Macht auszuüben. Doch sie stellen nur einen Einfluss unter mehreren dar und werden immer wieder von Bürgerbewegungen, Gerichten, Parteien, Verbänden und NGOs gebremst und in ihrem Einfluss relativiert. Der Anspruch an eine konflikthafte Demokratie, die gleiche Rechte gewährt, aber auch Vielfalt zulässt, ist in Deutschland weitgehend vorhanden und durchaus lebendig. Diesen demokratischen Anspruch und dessen immer wieder durchzusetzende Verwirklichung beschreibt die Sozialwissenschaftlerin Sibylle Reinhardt wie folgt9:

Demokratie, begriffen als Herrschaft des Volkes für das Volk und durch das Volk, ist ein unmittelbar überzeugendes Prinzip für Staatlichkeit. Es verbürgt Anerkennung für und durch alle, es gilt die gleiche Achtung aller vor allen. Diese Gleichheit muss aber in ein Verhältnis zur Ungleichheit gesetzt werden, die aus dem Recht auf Individualität folgt und Differenzen und Vielfalt ergibt. Diese Spannung muss ausgehalten und balanciert werden.

Weder rechtspopulistisch legitimierte und autokratische Herrschaftsformen noch traditionell linke Vorstellungen eines autoritären sozialistischen Staats im Übergang zum Kommunismus ('Diktatur des Proletariats') sind geeignet, die gegenwärtigen und zukünftigen Probleme der Menschheitsentwicklung und gesellschaftlicher Entwicklung zu bewältigen. Nur über eine weitere Demokratisierung im nationalen, regionalen und globalen Kontext ist eine gesellschaftliche Veränderung zu mehr Frieden und zu weniger Kriegen, zu einer gerechteren Reichtumsverteilung sowie zur Bekämpfung der bereits eintretenden Klimakrise zu erzielen. Eine derartige Demokratisierung darf allerdings den ökonomischen Bereich nicht aussparen. Ansätze zur Mitbestimmung und zur Gewinnbeteiligung von Unternehmen sind auszubauen. Genossenschaften und Betriebe solidarischer Ökonomie bzw. Unternehmen, die sich den Anforderungen der Gemeinwohlökonomie verpflichtet haben, sind besonders durch staatliche Maßnahmen zu fördern.

"Fassadendemokratie" und "Tiefer Staat" - eine realistische Beschreibung westlicher Demokratien?

Als typisch für die im Widerspruch zueinander stehende Verbindung aus neoliberalisiertem Kapitalismus und einem nur formalen Anspruch auf demokratische Strukturen werden in letzter Zeit häufiger systemische Tendenzen hin zu Scheindemokratien bzw. Fassadendemokratien diagnostiziert. Der emeritierte Psychologieprofessor Rainer Mausfeld beispielsweise beschreibt entsprechend die 'Fassadendemokratie' wie folgt:

Die großen politischen Entscheidungen werden zunehmend von Instanzen und Akteuren bestimmt, die nicht der Kontrolle der Wähler unterliegen. Während also die Hülse einer repräsentativen Demokratie weitgehend formal intakt erscheint, wurde sie ihres demokratischen Kerns nahezu vollständig beraubt. Demokratie birgt also für die eigentlichen Zentren der Macht keine Risiken mehr.

Demokratien sind sicherlich auch immer von ihrer Entleerung und Aushöhlung bedroht. Sie sind in besonderer Weise auf das politische Interesse, das Engagement und die Zivilcourage ihrer Bürger_innen angewiesen. Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit und kann unter dem Einfluss interessierter Kreise und profitierender Machteliten tatsächlich in Gefahr geraten, zu einer Fassadendemokratie zu degenerieren, wenn ihre Bürger_innen das Interesse an ihr verlieren, zum Objekt raffinierter Medienpropaganda über 'Fake News' werden bzw. nicht die notwendigen Bildungsmöglichkeiten erhalten. Dann wäre es auch für die an politischer und ökonomischer Macht interessierten Kreise leichter umsetzbar, einen durchgreifenden Staat ('Tiefer Staat') zu entwickeln, der von im Hintergrund (in der Tiefe) agierenden, für die Öffentlichkeit weitgehend unsichtbaren Kräften gesteuert wird.10

Eine vorhandene 'Fassadendemokratie' wäre dann aufgrund der geringen über Partizipation gezeigten Zustimmung seiner Bürger darauf angewiesen, Systemstabilität über Medienkontrolle und -manipulation zu erzielen. Wenn dies nicht mehr gelingt, wäre es dann an der Zeit, die Stabilität der Herrschaftsverhältnisse über eine zunehmend repressiver werdende Ordnung und eine auf durchgehender Überwachung basierenden inneren Sicherheitsarchitektur zu gewährleisten.

Sicherlich kann man in diesem Zusammenhang die westlichen Staaten nicht undifferenziert abhandeln. Zwischen den Demokratien Polens, der USA, Ungarns, Japans, der skandinavischen Staaten und Deutschlands gibt es gewaltige Unterschiede im Verhältnis von Verfassungsanspruch und Verfassungswirklichkeit. Ob eine westliche Demokratie bereits oder noch als 'Fassadendemokratie' und als 'Tiefer Staat' in diesem Sinne bezeichnet werden kann, hängt vom Ausgang der politischen Auseinandersetzungen zwischen den sich engagierenden Bürger_innen und denjenigen politischen und ökonomischen 'Eliten' ab, die auf der Seite der wirtschaftlich Mächtigen stehen. Wie diese Auseinandersetzungen ausgehen werden, ist bislang noch nicht entschieden. Die derzeit überall auf der Welt stattfindenden Massenproteste zeigen allerdings erste Wirkungen, z.B. im Bereich der Klimapolitik ('Fridays for Future'), alternativer Mobilität (Fahrradentscheide u. Bürgerbegehren) oder als Proteste gegen Rassendiskriminierung ('Black Lives Matter').

Die - trotz aller noch vorhandenen Defizite - am weitesten entwickelten westlichen Demokratien, wie z.B. die skandinavischen Staaten oder auch Staaten wie Frankreich und Deutschland, als 'Fassadendemokratien' oder als 'Tiefen Staat' bezeichnen zu wollen, ist m.E. gegenwärtig nicht gerechtfertigt und völlig übertrieben: Weder im historischen Vergleich gab es, noch im gegenwärtigen interkulturellen Vergleich gibt es mehr Möglichkeiten zur demokratischen Partizipation und Mitbestimmung, ohne dass eine Verfolgung und eine Bedrohung mit Freiheitsentzug oder Schlimmeres von staatlicher Seite zu befürchten ist. Und dennoch sind auch diese Staaten von systemischer Regression bedroht, wenn sich Systemverdrossenheit und politische Frustration breit macht. Selbst diese Staaten sind auf erhebliche strukturelle Verbesserungen und einen Ausbau der Demokratie in allen Lebensbereichen angewiesen.

Auch diese Staaten und ihre Bevölkerungen stehen unter dem Verwertungsdruck des internationalen Kapitals und der sich immer weiter entfaltenden Finanzspekulation. Solchen Interessengruppen wird die Partizipation der Bürger_innen lästig, wenn diese sich beispielsweise gegen Klimazerstörung oder gegen die Verwüstung ihrer Region zum Abbau von Bodenschätzen zu wehren beginnen.

Medien in kapitalistischen Demokratien als Produzenten von 'Fake News'?

Die Medienarbeit der westlicher Demokratien hingegen als systematische Produktion von 'Fake News' zu bezeichnen, wie dies abwertend Mausfeld11 unternimmt, hält der Verfasser für eine falsche Einschätzung, die pauschal von einigen spektakulären Einzelfällen auf die gesamte Öffentlichkeitsarbeit von Regierungen schließt - zumal hier, wie gesagt - erhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen westlichen Demokratien bestehen.

Insbesondere die Funktion einer vielfältigen Medienlandschaft gedruckter und digitaler Medien verhindert in weitgehend funktionierenden Demokratien, wie der Bundesrepublik Deutschland, das Überwiegen von staatlich verbreiteten Fake News. Selten gab es in Deutschland ein derart weites Spektrum unterschiedlicher politischer Medien - von den Blättern für deutsche und internationale Beziehungen, Gesellschaft. Wirtschaft. Politik, Der Freitag, die taz über die NachDenkseiten, Rubikon, Republik, Weltnetz-TV, Telepolis, über ARD, ZDF, Arte, 3sat, Phönix, CNN und die Privatsender, über die Welt, Die Zeit, die FAZ und die FR, den Spiegel, Stern und Focus, die vielen regionalen Tageszeitungen bis hin zur Bild-Zeitung, um nur einige zu nennen. Hinzu kommen die sozialen Medien wie z.B. Facebook, Youtube oder Twitter. Fragwürdig ist daher bereits der Titel des von Ullrich Mies herausgegebenen Bands "Mega-Manipulation. Ideologische Konditionierung in der Fassadendemokratie".12 In diesem problematischen Sinne formuliert dann auch Ulrich Teusch13:

Sachliche Irrtümer können in der Tat jedem überall unterlaufen. Die eigentliche Misere liegt ganz woanders: in einer insgesamt tendenziösen, manipulativen Berichterstattung und Kommentierung, die unseren Medienschaffenden inzwischen zur zweiten Natur geworden ist, so selbstverständlich, dass sie ihnen kaum noch auffällt. Weshalb auch die viel gestellte Frage, warum Journalisten so und nicht anders handeln, letztlich belanglos ist. Tun sie es aus innerer Überzeugung? Oder wider besseres Wissen, also zynisch? Oder mit geballter Faust in der Tasche? Aus Karrierismus oder Opportunismus? Fragen dieser Art führen auf die falsche Spur. Denn das Problem lässt sich längst nicht mehr auf der individuellen Ebene lokalisieren. Es hat systemische Qualität angenommen.

Zur generalisierenden Kritik am Fassaden-Charakter westlicher Demokratien gehören konsequenterweise aus der Sicht dieser Kritiker auch die pauschale Abwertung der Medien und die Diskreditierung der dort arbeitenden Journalisten. Die Formel lautet: Im Kapitalismus sind die Medien überwiegend im Privatbesitz. Daher ist auch keine kritische Berichterstattung möglich. Allenfalls einige als 'alternativ' bezeichnete Medien werden vom Buchherausgeber Mies von dieser Kritik freigesprochen, wie z.B. die "Neue Rheinische Zeitung" oder 'KenFM'. Über diese Auswahl ließe sich sicherlich streiten.

Systemische Alternativen

Doch auch die historischen Erfahrungen mit dem sogenannten Realsozialismus weisen auf keine sinnvollen gesellschaftlichen Alternativen hin. Alle auf der realsozialistischen Diktatur einer Staatsmacht basierenden Gesellschaften sind bereits historisch vielfach widerlegt, führten sie doch jedes Mal weg von dem angestrebten 'Reich der Freiheit' und hin zum Reich der stalinistischen oder maoistischen Massenvernichtung und Freiheitsberaubung. Über autoritäre Politikstrukturen, Repression und staatlich organisierte Exklusion lässt sich keine humanere Gesellschaft organisieren. Über die massive Einschränkung von Freiheit wird keine Freiheit in gesellschaftlicher Verantwortung entstehen, sondern nur Unterdrückung. Hier soll daher die Auffassung vertreten werden, dass eine Eindämmung des enthemmten Kapitalismus, eine sozialökologische Gesellschaftsentwicklung, die am Gemeinwohl orientiert ist, und eine friedliche globale Gemeinschaft nur über ein Mehr an zivilgesellschaftlicher und transnationaler Demokratie und einer entsprechenden Veränderung nationaler, regionaler und internationaler Strukturen möglich werden wird.14

Hierbei muss allerdings auch die Frage nach der ökonomischen Partizipation bzw. nach dem privaten Besitz an den Produktionsmitteln gestellt werden. Die Erfahrungen in den Staaten sowjetischer Prägung haben einerseits gezeigt, dass es kontraproduktiv und ökonomisch äußerst fragwürdig ist, jeglichen Privatbesitz und jede Form marktwirtschaftlicher Betätigung zu verbieten. Weder die Aufgaben der Allokation, Produktion, Distribution noch des zufriedenstellenden Warenangebots konnten auf diese Weise gelöst werden, so dass die Bedürfnisse der Menschen hier nicht gedeckt werden konnten.

Andererseits werden die westlichen Demokratien massiv von den ökonomischen Interessen riesiger Kapitalzusammenballungen bedroht. Insbesondere multinationale Konzerne versuchen in Verbindung mit dem hinter ihnen stehenden Finanzkapital die Demokratien und rechtsstaatlichen Strukturen über ihre Marktmacht, ihren Lobbyismus, über Korruption und über internationale Handelsverträge auszuhebeln. Allenfalls ein transformierter Kapitalismus, der die Konzerne reguliert, Marktbeherrschungen durch Konzerne verhindert und multinationale Konzerne entflechtet, aufteilt und sie auf gemeinwohlorientierte Ziele und Praktiken hin gesetzlich verpflichtet, ist kompatibel mit tatsächlich umgesetzten demokratischen Politikstrukturen. Ob man eine derartige Wirtschaftsform, die Kleinunternehmertun, mittelständige Unternehmen, marktwirtschaftliches Agieren im überschaubarem Rahmen, verkleinerte, z.T. verstaatlichte Konzerne sowie Formen solidarischer Ökonomie und Ökogemeinschaften beinhaltet, noch Kapitalismus nennen kann, ist allerdings fraglich. Wahrscheinlich würde dies ein neu bearbeitetes Verständnis und die Begrifflichkeit des 'demokratischen Sozialismus', des 'Ökosozialismus' oder einer 'ökosozialen Marktwirtschaft', bei der ein weiterhin zu demokratisierender Staat seine Verantwortung regulierend wahrnimmt, richtiger ausdrücken. Auf jeden Fall würde eine gemeinwohlorientierte Ökonomie15 mit verkraftbaren marktwirtschaftlichen Elementen besser zu einer partizipatorischen Demokratie passen, die allerdings repräsentative und direktdemokratische Strukturen in eine noch geeignetere Balance bringen müsste, als dies bisher in der Regel der Fall ist.

Demokratie als Herrschaftsform ist im Sinne des 1865 von einem Rassisten aus den Südstaaten ermordeten US-Präsidenten Abraham Lincoln die Herrschaft der Bevölkerung, durch die Bevölkerung und für die Bevölkerung.16 Und hierbei sind nicht die sich bereichernden 1% der Bevölkerung gemeint, sondern eher wohl die 99%.

Die deutliche Beteiligung der 99% an den Erfolgen der Ökonomie und deren engagierte Partizipation in der Demokratie passen wohl eher zusammen.

Fazit: Ansatzpunkte einer demokratischen Neuordnung in nationalstaatlicher und internationaler Perspektive

Sicherlich ist eine ökonomische Neuordnung und eine politische Umsteuerung in nationalstaatlichen und transnationalen Verhältnissen in einem globalen Kontext notwendig, wollen die jetzigen oder die nächsten Generationen zukünftig nicht in einem destruktiven Zusammenwirken sich zurück entwickelnder Demokratien und autokratischer Staatsformen, der zunehmenden Klimazerstörung, unkontrollierbarer Digitalisierung in Verbindung mit der Verbreitung von Fake News, brutaler sozialer Ungleichheit und dem nuklearen Kriegsszenario versinken.17 Hier sind zunächst auf der internationalen Ebene einschneidende Reformen der UN notwendig. Insbesondere die Reform des UN-Sicherheitsrats, die Einrichtung eines demokratischen UN-Parlaments und einer Weltbürgerinitiative zur direktdemokratischen Beteiligung sind zu ermöglichen.18

Dies kann nur durch ein Zusammenwirken von internationalem zivilgesellschaftlichen Druck über Bürgerbewegungen und NGOs sowie durch den Veränderungswillen, der von den gewählten Repräsentanten nationalstaatlicher und transnationaler Demokratien ausgeht, erreicht werden. Die Macht dieser gesellschaftlichen Bewegungen und politischen Repräsentanten dürften mit der zu erwartenden Zunahme globaler Probleme (Klimaentwicklung und deren Folgen, Pandemien, Ernährungskrisen, wachsende Kriegsgefahr und Zunahme von symmetrischen und asymmetrischen Konflikten, soziale Verwerfungen, failed states …) möglicherweise sprunghaft zunehmen.

Für eine schrittweise und manchmal auch schnell erforderliche Veränderung bestehender national-staatlicher Systeme ist es aber dringend notwendig, historisch errungene Leistungen in den politischen Systemen realistisch einzuschätzen und zu würdigen. Natürlich muss auch notwendige Kritik mit Augenmaß und dort mit aller Entschiedenheit geäußert werden, wo u.a. gegen rechtsstaatliche, menschenrechtliche und demokratische Vorgaben verstoßen wird. Aber vorhandene demokratische Errungenschaften sollten in der Öffentlichkeit selbstbewusst vertreten werden. Die bundesdeutsche Demokratie und eine Reihe weiterer westlicher Demokratien, wie z.B. die skandinavischen Demokratien, sind im internationalen und interkulturellen Vergleich als am weitesten fortgeschritten anzusehen.

Sie sind bisher der Idee der Demokratie noch am nahesten gekommen. Diese Systeme sind nicht perfekt, immer von Regression und Fremdbestimmung bedroht und bedürfen der permanenten systemischen Erneuerung und des Ausbaus demokratischer Gestaltungsräume. Aber sie sind besser als alles andere, was es bisher im historischen Vergleich gegeben hat.

Demokratien sind auf die Partizipation ihrer Bürger, auf den öffentlichen Diskurs und die gemeinsame Kompromisssuche angewiesen, wenn es darum gehen soll, demokratische Strukturen zu erhalten und noch wehrhafter gegenüber den wirtschaftlichen Zugriffsversuchen oder gegenüber der Einflussnahme undemokratischer Staaten zu machen. Die Abwehr von systematischen 'Fake News' in einer Demokratie ist zum einen die Angelegenheit einer 'wehrhaften Demokratie' und natürlich auch der politisch-historischen Bildung in den Bildungsinstitutionen der Demokratie.

Eine pauschale Abwertung westlicher Demokratien jedoch nimmt den Menschen jedwede Hoffnung auf eine schrittweise Verbesserung ihrer Lebenssituation in sich entwickelnden demokratischen Strukturen. Hierdurch werden sie mit einer pessimistischen und einseitig ausgerichteten Haltung allein gelassen, die sie nur entweder in Depression oder in Wut zurücklässt. Die Folgen hiervon sind Resignation oder Gewalt und beides ist schädlich für die Entwicklung von Demokratien

Zum Autor:

Prof. Dr. Klaus Moegling arbeitet am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität Kassel. Er engagiert sich in der Friedens- und Umweltbewegung sowie im Bildungsbereich. Sein Buch "Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich" ist inzwischen in der 3., aktualisierten und erweiterten Auflage 2020 erschienen (Verlag Barbara Budrich).

Email: klaus.moegling(at)uni-kassel.de

Literatur:

  • Evers, Tilman (1991): Volkssouveränität im Verfahren – zur Verfassungsdiskussion über direkte Demokratie. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Hrsg.: Bundeszentrale für politische Bildung, B. 91, S. 3 ff.
  • Felber, Christian (2018): Gemeinwohl-Ökonomie. München: Piper-Verlag.
  • Heitmeyer, Wilhelm (2012): Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (GMF) in einem entsicherten Jahrzehnt. In: Ders. (Hrsg.): Deutsche Zustände. Folge 10, Berlin: Suhrkamp.
  • Helak, Monika (2018): Wie aus Gerüchten Fake News wurden. In: https://www.goethe.de/ins/hu/de/kul/sup/klt/21430406.html, Nov. 2018.
  • Kastein, Julia (2020): Wenn Fake-News nichts helfen. In: https://www.tagesschau.de/kommentar/trump-corona-103.html, 12.3.20,
  • Leinen, Jo/Bummel, Andreas (2017): Das demokratische Weltparlament. J.H.W. Dietz-Verlag: Bonn.
  • Lipkowski, Clara (2020): Demokratie wird schwächer. In: https://www.sueddeutsche.de/politik/demokratie-autokratie-studie-1.4891400, 29.4.20.
  • Mausfeld, Rainer (2017): Die Wahrheit über die Demokratie. In: https://neue-debatte.com/2017/09/15/die-wahrheit-ueber-die-demokratie/, 15.9.2017, 17.11.2019.
  • Mausfeld, Rainer (2019): Warum schweigen die Lämmer? Frankfurt/ Main: Westend Verlag, 3. Auflage.
  • Mausfeld, Rainer (im Interview mit Flo Osrainik) (2020): Der autoritäre Planet. In: https://www.rubikon.news/artikel/der-autoritare-planet, 30.5.2020.
  • May, Philipp (2020): Demokratie auf dem Rückzug. Hörbeitrag Deutschlandfunk, in: https://www.deutschlandfunk.de/der-tag-demokratie-auf-dem-rueckzug.3415.de.html?dram:article_id=475718, 29.4.20
  • Mies, Ullrich (Hrsg.) (2020): Mega-Manipulation. Ideologische Konditionierung in der Fassadendemokratie. Frankfurt/M.: Westend-Verlag.
  • Moegling, Klaus (2020): Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich. Analyse, Vision und Entwicklungsschritte aus einer holistischen Sicht. Opladen, Berlin, Toronto: Verlag Barbara Budrich, 3., erweiterte und aktualisierte Auflage.
  • Reinhardt, Sibylle (2000): Politische Bildung für die Demokratie. In: Gesellschaft • Wirtschaft • Politik (GWP) 69. Jahrg., Heft 2/2020, S.3. In: file:///C:/Users/Klaus_neu/Downloads/35001-36734-1-PB.pdf, 6.6.20.
  • Teusch, Ulrich: Vorwort. In: Mies, Ullrich (Hrsg.) (2020): a.a.O., S. 12
  • Wernicke, Jens (2017): Fassadendemokratie und Tiefer Staat. Auf dem Weg in ein autoritäres Zeitalter. https://www.rubikon.news/artikel/fassadendemokratie-und-tiefer-staat, 5.8.2017.