Beginnt jetzt die Anti-Copy-Cat-Revolution?
Berlin entwickelt sich zur europäischen Startup-Metropole
Die junge Berliner IT-Szene möchte keine Almosen und Care-Pakete vom großen Bruder aus den Vereinigten Staaten erhalten. Man möchte das "arm-aber-sexy-Image" endgültig abstreifen. Die Hauptstadt setzt auf international hochkarätige IT-Gründer. Das Motto: Völker schaut auf diese Stadt und werdet ein Teil von ihr.
In Kreisen der Blogosphäre - wie bei Netzwertig oder Indiskretion Ehrensache nachzulesen - kursiert schon länger die symbolische Nachricht: Völker, schaut auf diese Stadt! Dieser Satz stammt bekanntlich vom früheren Bürgermeister Ernst Reuter aus seiner Rede während der Berlin-Blockade im Jahr 1948.
Werden nun, zwei Jahrzehnte nach dem Mauerfall, erneut Care-Pakete aus den USA in Form von Venture Capital über die europäische Metropole ausgeschüttet? Immerhin gelang es den Stadtoberen nach jahrelangem Tauziehen, einen neuen Flughafen zu bauen. Wer noch auf ein quasi amtliches Testat gewartet hat, dass sich in der hippen deutschen Hauptstadt jenseits der einfallenden Touristenhorden etwas bewegt, der wird in der aktuellen September-Ausgabe der britischen Zeitschrift Wired fündig. Die Namen der am meisten gehandelten neuen Hoffnungsträger lauten: Soundcloud, wooga und ResearchGate.
Berlin, das ist laut Wired der "heiße Ort", wo man sich als Gründer eines jungen Internetunternehmens heute ansiedeln sollte. Ausgeweitet wird die internationale Unterstützergemeinde auch in den USA durch hochkarätige Medien wie den Nachrichtensender CNN, dessen Geldressort neidvoll auf das deutsche Wirtschaftswunder der Enthaltsamkeit und Exportstärke blickt.
Dass es in der Hauptstadt nicht nur wenige Eintagsfliegen gibt, sondern bereits früher erfolgreiche IT- und Internetunternehmen für den Weltmarkt gegründet worden sind, das haben vor mehr als einem Jahrzehnt die beiden Samwer-Brüder aufgezeigt. Sie gründeten das Auktionshaus Alando und verkauften es später an eBay.
Offenes Umfeld
Dazu gehören aber auch weitere Unternehmen, die längst in den Status von etablierten Mittelständlern aufgerückt sind. Die zurecht in Kreisen der Blogger hierzulande beklagte risikoaverse Tendenz, die Propheten im eigenen Land gering zu schätzen, lässt sich jenseits von persönlichen Geschmackspräferenzen am Beispiel von zanox skizzieren. Der Spezialist für Performance Advertising hat sich seit der Gründung im Jahr 2000 immerhin zum europäischen Marktführer entwickelt.
Unabhängig davon, ob einem das Netz als Tummelplatz für die Industrie gefällt, international sorgen bei zanox mittlerweile annähernd 700 Mitarbeiter in 12 Ländern für ein Werbenetzwerk mit über 70 Millionen Transaktionen im vergangenen Jahr. Was bei der mittlerweile mehr als zehnjährigen Erfolgsgeschichte dem speziellen Berlin-Faktor zuzuschreiben ist, lässt sich mit allgemeinen Standortvorteilen nur unzureichend beschreiben.
Der Reiz liegt generell in einem offenen Umfeld, zu dem neben Blogs, Wikis und offenen Programmierschnittstellen (API) auch der zanox Campus in Berlin gehört, ein internationaler Treffpunkt für Entwickler und die Web-Community. Und das nicht nur in einer typischen Männerdomäne. Denn neben 125 männlichen gibt es bei zanox 50 weibliche Mitarbeiter.
Derzeit sind alleine bei zanox in Berlin 60 neue Stellen zu besetzen. Die Stellenprofile dokumentieren den Wandel weg vom gängigen Startup-Klischee. Denn es sind nicht Alleskönner gefragt, die nebenher noch die Buchhaltung erledigen oder Kaffee kochen, sondern professionelle Spezialisten mit einschlägiger Expertise.
Was Entwickler an einer nicht-standardisierten Arbeitsweise reizen könnte, das beschreibt Chief Technology Officer Daniel Keller von zanox so: "Reizvoll ist die Mitarbeit an einem hochkomplexen System mit höchsten Anforderungen an die Skalierbarkeit, Stabilität und Performance bei mehr als einer Milliarde Abfragen pro Tag und täglichen Datenmengen im Terabyte-Bereich."
Die Zahl der offenen Stellen im Technologiebereich liegt derzeit bei 26. Für manche Stellenprofile werden sogar Mehrfachbesetzungen gesucht. Das agile Entwicklungsumfeld basiert bei zanox dabei komplett auf Scrum, einem Rahmenwerk zur Entwicklung komplexer Softwareprodukte.
Für wichtig erachtet zanox dabei nicht nur die Möglichkeit, in einem Team eigene Projekte zu entwickeln, zu konzeptionieren und umzusetzen. "Es geht weniger um die eingesetzten Technologien selbst, sondern vieles dreht sich um die eigene Kreativität und Selbstorganisation in einem internationalen Team", umreißt Keller das spezifische betriebliche Arbeitsumfeld.
Jenseits von derartigen Erfolgsbeispielen soll jedoch nicht verschwiegen werden, dass es eine ganze Reihe von kritischen Zeitgeistern gibt, die dem neuen Hype um Berlin skeptisch gegenüber stehen. Denn die Szene in der Hauptstadt war bis dato von zwei kritischen Elementen gekennzeichnet. Erstens: Ihrer etwas überheblichen Art gegenüber der Provinz, wo es mindestens genauso viele interessante Ideen gibt.
Und zweitens hingen viele Protagonisten in der Startup-Subkultur einem fragwürdigen Gründerideal hinterher, das sich meist in der lässigen Coolness erschöpfte. Man lehnte Arbeit im disziplinarischen Sinne streng ab und hing stattdessen lieber mit Gleichgesinnten in Coffeebars und anderen Szenebiotopen herum. Dort sollte einen über Nacht die geniale Idee ereilen, mit der man flugs zum Millionär aufstieg, um sich weiter zwanglos in den Szenetreffs zu tummeln.
Am Beginn eigenständiger Geschäftsmodelle?
Dabei hat jeder Kleinunternehmer längst realisiert, dass Disziplin und ein klarer geschäftlicher Fokus einen zwingend notwendigen Erfolgsrahmen darstellen. Noch ein anderes hausgemachtes Problem kam in Berlin hinzu: Denn die Universitäten und die ökonomische Struktur der Stadt sind kaum ein passendes Umfeld wie das Silicon Valley im Idealzustand, um einen wirtschaftlichen Aufschwung auf breiter Front herbei zu führen, so wie etwa beim "Daimler-Biotop" rund um das als spießig verschriene Stuttgart der Fall.
Ein derartiges Netz aus Zulieferern und der Industrie muss aber nicht zwingend vorhanden sein, sofern keine illusorischen Vorstellungen existieren, glauben die Macher des neuen kleinen Wirtschaftswunders. Fest steht aber auch: Weder bringen das Internet und seine Geschäftsmodelle neue Arbeitsplätze für die Massen hervor, noch ist im Web 2.0-Zeitalter zwingend eine etablierte Infrastruktur notwendig, um etwas Neues auf die Beine zu stellen.
Eine offene Frage ist vielmehr, ob sich die selbst proklamierte neue deutsche Startup-Generation jenseits vom geistigen Raubkopieren einen Namen machen kann. Und diese Rolle beansprucht die neue Generation zweifellos. Wer die neuen Wunderkinder dieser proklamierten "Anti-Copycat-Revolution" sind, lässt sich auf einer Art Internet-Landkarte zur neuen Startup-Szenerie nachvollziehen.
Angelockt werden die neuen Helden neben der allgemeinen Aufbruchstimmung durch die nach wie vor niedrigen Lebenshaltungskosten. "Es herrscht eine mutige Aufbruchsstimmung", erklärt Unternehmenssprecherin Sina Kamala Kaufmann von wooga die Wahl des Standortes, einem Entwickler von Social Games.
Das Unternehmen wooga ist einer der neuen heißen Kandidaten aus der deutschen Startup-Metropole, die längst auf dem Radar der großen Kapitalgeber aus den USA oder Großbritannien angekommen sind. In Europa ist man schon heute die Nummer Eins. Innerhalb von nur zwei Jahren hat der Anfang 2009 in Berlin gegründete Spezialist für Social Gaming sich auf den zweiten Platz vorgearbeitet - und liegt damit gleich hinter Marktführer Zynga.
Die wichtigste Nachricht aber lautet: Es werden nicht nur Ideen aus den USA kopiert und nachgeahmt, sondern es entstehen eigenständige Konzepte mit Charme. Zu den wichtigsten Vertretern aus Berlins kleinem Silicon Valley gehört ResearchGate. Das von drei Forschern aus Boston entwickelte Konzept strebt als soziales Netzwerk für Wissenschaftler nach einer weltweiten Führungsrolle.
ResearchGate ist tatsächlich alles andere als ein Copy Cat. Es möchte das "Facebook für die Wissenschaft sein", ein Aushängeschild der neuen Internationalität. Warum die Wahl ausgerechnet auf die deutsche Hauptstadt fiel, statt dem ebenfalls zur Auswahl stehenden San Francisco, das definiert Geschäftsführer Ijad Madisch so: "Berlin ist ein sehr internationaler Standort und auch für Mitarbeiter sehr attraktiv." Systementwickler und Softwareingenieure sind auch dort eine gefragte Ressource.
Nicht nur bei skandinavischen Touristen, sondern auch bei den von dort stammenden jungen Gründern steht die Hauptstadt hoch im Kurs. Ein Beispiel ist Soundcloud, eine Plattform für Musiker und Fans. Soundcloud will sich als Sammelstelle in der musikalischen Kreativlandschaft etablieren, als "Youtube für die Audioszene". Gegründet wurde das Unternehmen von den beiden Schweden Alexander Ljung und Eric Wahlforss.
Einheimische Szene professionalisiert sich
Die Liste ließe sich sicher noch um einige Namen erweitern. Was somit für Außenstehende im lokalen Gründerbiotop bis dato unrealistisch klang, das lässt sich mittlerweile durch hochkarätige Kooperationen und neue Deals erhärten. So kooperiert der Berliner Kapitalgeber Team Europe Ventures seit kurzem mit Hasso Plattner Ventures in Potsdam. Rund 20 Mio. Euro stehen für gemeinsame neue Online-Projekte bereit.
Mit dem Spiele- und Hardwareanbieter Hitfox ist neben bereits bekannten lokalen Größen wie der Social Advertising Plattform SponsorPay bereits das nächste illustre Unternehmen auf dem Vormarsch. Berlin könnte sich somit in den nächsten Jahren zu einem maßgeblichen Cluster für den IT-Sektor nicht nur in Europa weiter entwickeln.
Bis dahin aber sind noch einige handfeste Hindernisse aus dem Weg zu räumen. "Deutsche Universitäten haben noch viel nachzuholen, vor allem in der Unterstützung von Spin offs", gibt Ijad Madisch von ResearchGate zu bedenken. Aber auch hier zeichnet sich bereits eine größere Eigendynamik ab. So hat Suchmaschinenkonzern Google vor kurzem in Berlin das Institut für Internet und Gesellschaft gegründet.
Die deutsche Metropole sei nicht nur die Hauptstadt des digitalen Deutschland, argumentiert Max Senges, der sich bei Google Policy um externe Kooperationen kümmert. Berlin locke zunehmend Unternehmer an, die das Internet mitgestalteten. Und Startups wie Soundcloud, Wooga und Jovoto seien bereits jetzt sehr erfolgreich, bilanziert der Experte. Branchenbeobachter rechnen ohnehin damit, dass Google seinen Aktionsradius nicht nur durch das neue Forschungsinstitut erweitert, sondern auch über die Startup-Szene weiter intensiviert.
Ein weiteres kleines Indiz in diese Richtung ist Springstar, ein Inkubator für Online-Geschäftsmodelle, der weltweit junge Unternehmen finanziert. Ende August verlegte das Unternehmen seinen Hauptsitz in die Mitte Berlins. Relativ unbemerkt hat sich im Schatten der Hauptstadt aber auch das benachbarte Potsdam als feste Größe etabliert. Dort befindet sich nicht nur das Hasso-Plattner-Institut für Softwaresystemtechnik, sondern es gibt eine ganze Reihe weiterer Ausgründungen von Forschungs- und Entwicklerteams.
Und so schließt sich am Ende der Kreis zum längst überholten Klischee der "Arm-aber-Sexy-Region". Immerhin engagiert sich in Berlin auch Open-Office-Gründer Marco Börries mit seiner Neugründung Number Four. Dabei handelt es sich um eine Softwarelösung zur betriebswirtschaftlichen Ressourcenplanung der Marke "SAP für Arme".
Es liegt also etwas Neues in der Berliner Luft. Die lokale Kultur geht ein Joint Venture mit der Internationalität ein. Was die jungen Entrepreneure daraus machen, ist noch eine offene Frage. Wie bei der großen Lachswanderung erreichen nicht alle ihr Ziel. Hoch fliegende Businesspläne wie jener des deutschen Twitter-Pioniers Florian Weber werden in der Szene beispielsweise derzeit mit einer gesunden Portion Skepsis beäugt.
Man attestiert den Machern zwar ein gutes Marketing. Es wird viel über das Portal gesprochen. Aber noch immer befindet sich das vermeintliche neue Leuchtturmprojekt Amen in der Betaphase. Die Macher hatten es angekündigt als ein gänzlich neuartiges Internetformat für starke Meinungstrends. Irgendwann wird auch hier das unternehmerische Motto gelten: Nicht an Worten werdet Ihr gemessen, sondern an den Taten!
Zum Autor: Lothar Lochmaier arbeitet als Freier Fach- und Wirtschaftsjournalist in Berlin. Zu seinen Schwerpunkten gehören Umwelttechnik, Informationstechnologie und Managementthemen. Mit Kommunikationsabläufen und neuen Organisationsformen in der Bankenszene hat sich der Autor in zahlreichen Aufsätzen beschäftigt. Im Mai 2010 erschien von Lothar Lochmaier das Telepolis-Buch: Die Bank sind wir - Chancen und Zukunftsperspektiven von Social Banking. Er betreibt außerdem das Weblog Social Banking 2.0..