Beherzte Politik

Seite 4: Risiko-Diskurs

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Was sich allerdings geändert hat, ist die Risikokommunikation. Risiko wird mittlerweile nicht mehr als ein notwendiges Element angesehen, dass man eingeht, um etwas Neues zu schaffen oder etwas Großes zu leisten oder zu vollbringen, sondern ausschließlich unter dem Aspekt der "Gefahr" betrachtet. Vor Gefahren und Bedrohungen hat man bekanntlich Angst. Erst recht vor unkalkulierbaren Risiken. Angst kann in solchen Situationen ein guter Ratgeber sein. Sie verhindert, dass man zu viel wagt, ein viel zu hohes Risiko eingeht.

Angst, zumal diffuse, kann aber auch Denkblockaden erzeugen. Sie verhindert, dass man vorhandene Möglichkeiten auf- und ergreift, sie rational abwägt und notwendige Entscheidungen verschiebt oder unterlässt. Das gilt für die Politik genauso wie für Unternehmen, den Kapitalanleger oder den Alltagsmenschen. Alle, die strategische oder andere (Richtungs)Entscheidungen treffen müssen, stehen stets vor der Frage: Will ich das Risiko eingehen? Und/oder, wo Wettbewerb droht: Was machen die anderen? Gehen sie das Risiko ein? Was passiert, wenn die anderen damit Erfolg haben?

Insofern sind Angst und Risiko nicht nur die zwei Seiten derselben Medaille, sondern ihrerseits höchst riskant, weil zu viel Angst und Risikoscheu vielleicht etwas verhindert, was anderen gelingt, die risikobereiter waren. Da man nicht in die Zukunft sehen kann und der Ausgang von Erwartungen, Prognosen und lineare Hochrechnungen höchst ungewiss ist, kann und ist Unterlassen oder Wagen, Aussteigen oder Machen, Verzicht oder Einstieg gleichermaßen riskant.

Was für die Politik und Wirtschaft gilt, für die Kunst oder den Sport, gilt natürlich erst recht für technische Innovationen und komplexe technische oder soziale Systeme, die einer Autosteuerung unterliegen.

Unfall gehört zur Technik

Wollte man wie im Falle der Atommeiler tatsächlich einen Jumboabsturz, einen Terroranschlag, einen Cyberangriff oder gar einen Meteoriteneinschlag ins Kalkül ziehen, dann müsste man nicht nur sofort alle Atomkraftwerke abschalten. Zumal ein solches Ereignis schon morgen eintreten könnte.

Dann müsste man auch den hiesigen Chemieriesen BASF oder Bayer unverzüglich die Betriebserlaubnis entziehen, alle U-Bahnhöfe im Lande schließen, den Daten- und Netzverkehr zügeln oder die Wasserversorgung der Bürger einstellen. Denn auch da könnten Düsenjets hineinstürzen, Terroristen eine schmutzige Bombe zünden oder hochgiftige Bakterien oder Viren in die Leitungen einschleusen. Noch jede technologische Innovation hat die Panne, den Störfall oder das Unglück nach sich gezogen, die Erfindung des Schwarzpulvers oder der automatischen Feuerwaffen genauso wie der Verbrennungsmotor, der Raketenantrieb oder die Computertechnik. Trotz dieser unerfreulicher Folgen, auf Natur, aufs Leben oder das subjektive Wohlbefinden, möchte der moderne Mensch sie aber weder missen noch völlig auf sie verzichten.

Nur Naturromantiker kamen bislang auf die Idee, die Abermillionen Toten und Verletzte, die Billionen von Euro, die ihre Einführung, Markttauglichkeit und Bewirtschaftung kosten oder gekostet haben mit den Erleichterungen und Annehmlichkeiten, die Technologien mit sich bringen, gegenzurechnen. Unablässig werfen die Fortschritte in Wissenschaft, Forschung und Technik Risiken und Restrisiken auf, sie geben zu Kosten-Nutzen Rechnungen Anlass und machen ständig auf neue sittlich-moralische Widersprüche aufmerksam, die irgendwie gelöst werden müssen.

Jedes Leben ist mit Risiko behaftet, in der Natur genauso wie auf der Straße, im Beruf oder, erst recht, wenn man Statistiken folgt, in den eigenen vier Wänden. An die einen Risiken oder Gefahren haben wir uns gewöhnt, wir rauchen und trinken, wir steigen ins Auto und essen viel zu fett, obwohl wir wissen, dass uns das das Leben kosten oder wir unser Leben dadurch sehr können, andere schrecken uns noch oder ständig, Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Mord und Totschlag.

Und das gilt nicht nur für das moderne Leben. Schon das mittelalterliche Leben oder das im Päläolithikum waren höchst riskant und von etlichen Gefahren begleitet. Man denke nur an Krankheiten oder die Kindersterblichkeit Ohne den medizinischen Fortschritt oder den klugen und riskanten Gebrauch entsprechender Techniken hätte der Mensch gar nicht überlebt. Darum wirken gut gemeinte, bestenfalls moralisch und nicht technisch begründete Einwürfe, die die Prometheus-Saga bemühen, um die vorm Aberglauben Technik warnen und jede Technik zum Teufelszeug erklären auch, auch so biedermeierlich und provinziell (Sie nennen es Hysterie).

Katastrophen eingebaut

FürIn dne OhreIIn den Ohren mancher Beobachter mag es zynisch klingen, aber stets hatte die Katastrophe auch ihren Nutzen (Vom Nutzen der Katastrophe). Noch immer hat jedes Eisenbahnunglück, jeder Flugabsturz und jede Computervirus die dazugehörige Technik verbessert. Zwar gab es jedes Mal mahnende Stimmen, auch wahnwitzige, man denke an Osama bin Laden oder an den Unabomber, trotzdem ist niemand darauf gekommen, deswegen Eisenbahnschienen stillzulegen, den Flugverkehr zu stoppen oder die Computerrechner abzuschalten.

Auch nach dem Unfall der Titanic, die seinerzeit bekanntlich als unsinkbar galt, baute man weiter und immer größere und komfortablere Luxusliner. Mehr als zuvor erfreuen sich betuchte Rentner und Pensionäre einer Schifffahrt auf den Weltmeeren. Und genauso wird auch Fukushima die Reaktortechnik und -sicherheit weiter verbessern wie das auch nach Harrisburg oder Tschernobyl der Fall war.

Bedrohung bleibt

Vielleicht nicht hierzulande, weil Deutschland sich entschlossen hat, aus dieser Risiko-Technologie auszusteigen. Aber um Deutschlands Grenzen herum werden Atommeiler weiter Energie liefern. In Amerika, in Südamerika, im Nahen und (erst recht) im Fernen Osten wird man auch weiter auf diese Technik setzen und neue Reaktoren in Betrieb nehmen, sodass sich an der Bedrohungslage weltweit und insgesamt nicht das Geringste ändern wird. Längst sind neue Reaktortypen in Planung oder gar in Betrieb, vor allem solche, die durch diverse technische Neuheiten die Sicherheit über die von Biblis oder Isar 1 heben. Wie etwa der EPR-Reaktor, der ausgerechnet im PISA-Wunderland Finnland wenn auch mit langer zeitlicher Verzögerung und explodierenden Kosten gebaut wird, der Kühlmittelpumpen dezentral verteilt und auf das Schmelzen des Kerns vorbereitet ist; oder der HTR-Reaktor, der jahrelang im Kernforschungszentrum Jülich getestet worden ist, der ganz spezielle Vorkehrungen gegen den Verlust von Kühlmitteln getroffen hat und bei dem eine Kernschmelze ausgeschlossen ist. Zwar wird es niemals eine absolut sichere und unfallfreie Kerntechnologie geben. Welche Technologie könnte das von sich behaupten. Die Wahrscheinlichkeit eines gravierenden Störfalls, einer Havarie oder eines GAUs lässt sich bestenfalls auf ein Minimum verringern. Aber weltweit werden, nach einer kurzen Karenzzeit, neue Atommeiler entstehen, nicht nur in hochmodernen Gesellschaften, sondern vor allem in den aufstrebenden Staaten in Zentralasien und in Südamerika. Eine nennenswerte Bewegung, die dies verhindert ist nirgends zu erkennen, weder in Japan selbst (Nuclear Nation) noch in China (Nach Fukushima), Indien (Fukushima in Indien) Indonesien (Indonesian nuclear power proposals) oder Südkorea (Nuclear Power in South Korea), Thailand oder Taiwan. Alle diese Staaten setzen weiter auf den Ausbau der Atomenergie (Nuclear Power Expansion Challenges).

AnzeigeExpertenmeinungen fehlten

Es war und ist bezeichnend, dass im Land der Dichter und Denker Talkshows und Diskussionen ausschließlich von Geisteswissenschaftlern und Feuilletonisten bestritten wurden. Kaum ein Naturwissenschaftler kam zu Wort, der von Reaktorphysik und deren Technik eine Ahnung hatte und darüber, aber auch über Mikro-Sievert und zerfallende Strahlung kompetent Auskunft geben könnte.

Stattdessen parlierten vor allem jene aufgeregt herum, die immer befragt werden, wenn irgendwo ein Unfall passiert oder eine Krise ausbricht. Sogar ein kluger Mann wie Frank Schirrmacher ließ sich davon anstecken und fühlte sich zunächst berufen, die "neun Gemeinplätze des Atomfreunds" mit einer Hausmänner-Logik widerlegen zu können. Vielleicht wäre der Feuilletonist Frank Schirrmacher besser beraten gewesen, wenn er sich, bevor er sich derart explizit äußert, doch mal mit einem kompetenten Kernphysiker über Wirkung und Zerfall radioaktiver Strahlung unterhalten oder sie sich wenigstens von einem Redakteur der naturwissenschaftlichen Seiten in der F.A.Z. erklären lassen.

Langschäden unklar

Tatsächlich ist durch den GAU in Fukushima noch niemand tödlich verletzt worden. Auch nicht die Arbeiter, Feuerwehrmänner und Techniker, die im und in unmittelbarer Nähe des Kraftwerks den Super-Gau verhindern wollen und müssen. Über die radioaktive Strahlung selbst, ihre Wirkung auf den Körper und ihren Zerfall gibt es die unterschiedlichsten Meldungen, Ansichten und Daten, auch darüber wie die Natur, das Meer und die Lebewesen den Fallout künftig verarbeiten werden. Sogar grüne Umweltschützer räumen ein, dass die Datenlage und Gefahren bisweilen übertrieben werden (Why Fukushima made me stop worrying).

Und auch wie die Strahlungswerte, die mittelfristigen und Spätfolgen ausschauen werden, darüber sind sich die Experten höchst uneinig. Es gibt Schilderungen, die besagen, dass die "freigesetzte Radioaktivität bislang wesentlich niedriger" ist als es etwa in Tschernobyl der Fall gewesen ist (Die wahre Gefahr), wo Schutzmäntel um den Reaktorkern fehlten.

Auch über die gesundheitlichen Folgen der Strahlung driften die Zahlen, Daten und Meinungen weit auseinander. Kaum jemand ist in der Lage, die diversen Mess- und Grenzwerte vernünftig einzuordnen. Aufgrund der Emotionalität und auch Irrationalität des Themas ist eine vernünftige Risikoabschätzung kaum möglich.

Dass etwa die Leukämiefälle, die sich nach Tschernobyl bei Kindern ereignet haben, gestiegen sind, liegt daran, dass die damalige Regierung den Verzehr von Milchprodukten nicht rechtzeitig unterbunden hat (Wie tödlich ist ein GAU). In Fukushima kann das wiederum nicht passieren. Da hat die japanische Regierung vorzeitig eingegriffen, sie hat nicht nur Jodtabletten verteilt, sondern auch den Milchhandel und Milchverkauf vorsorglich eingestellt.