Beim Sexismus und der Zensur soll das Ich entscheiden
Seite 2: Die Grenzziehung, wann etwas sexistisch ist, soll "ein höchstpersönliches Recht" sein
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Ähnlich wie die Vertreter der Wohnrauminitiative äußerte sich auch Silke Hansmann, AStA-Vorsitzende, Juso-Mitglied und Studentin im Masterstudiengang Geschlechterforschung, laut Göttinger Tageblatt, "enttäuscht davon, dass das Studentenwerk die Bilder als nicht-sexistisch bezeichnete".
Doch warum halten der AStA, die Wohnrauminitiative und die Gleichstellungsbeauftragte die Bilder eigentlich für sexistisch? Man sollte meinen, dass diese Frage ausführlich diskutiert worden wäre. Gehört es doch zum Wesen der Demokratie, dass Interessen von Minderheiten nur dann über denen der Mehrheit stehen, wenn sie fundiert begründet werden. Doch weit gefehlt. Die Gleichstellungsbeauftragte ließ dazu lediglich verlauten, "aktiver Umgang mit Sexismus" gehöre nun einmal zu ihrem Aufgabenbereich. Hansmann sagte dem Göttinger Tageblatt, die Bilder zeigten "mehr oder weniger nackte Geschlechtsteile". Vom Studentenwerk wünsche sie sich mehr Sensibilität.
Auf Facebook erklärte sie, es sei "nicht ausreichend zu sagen, dass [sic!] ist nicht sexistisch, weil ich das nicht so sehe oder auf die Kunstfreiheit zu rekurrieren". Entsprechende Äußerungen bezeichnete die AStA-Vorsitzende als "antifeministische Ausfälle". Andere Facebook-Kommentatoren beklagten, dass "weiße Männer" sich zu dem Thema zu äußern wagten und dass überwiegend Frauen, zumal nur "idealisierte und normschöne Frauenkörper", gezeigt würden, was einer "Objektifizierung" gleichkäme.
So betrachtet wäre ein Großteil der in den Kunstmuseen dieser Welt ausgestellten Bilder als sexistisch einzustufen. Sollte man sie nicht ins Depot verbannen oder wenigstens Triggerwarnungen im Eingangsbereich anbringen? Den Zensur-Befürwortern aus Göttingen scheint es jedenfalls nicht so wichtig zu sein, ob und warum die Bilder von Marion Vina objektiv als sexistisch einzustufen sind oder nicht. Stattdessen geht es ihnen offenbar um die Deutungshoheit, wie einem offenen Brief der Wohnrauminitiative an den Geschäftsführer des Studentenwerks zu entnehmen ist. Darin heißt es:
Die Würde des Einzelnen ist kein Gegenstand eines demokratischen Entscheides. […] Sie haben nicht das Recht zu definieren, wodurch wir, unsere Kommilitoninnen oder andere Besucherinnen sich diskriminiert fühlen dürfen oder nicht. Nicht die Mehrheit hat zu entscheiden, wie viel Sexismus der/die Betroffene auszuhalten hat, bevor die Grenze der Belästigung überschritten ist. Diese Grenzziehung ist ein höchstpersönliches Recht. Dieses Recht wurde wahrgenommen und in Form der eingereichten Beschwerden wurde ein klares "Nein" formuliert. Die Tatsache, dass dieses "Nein" nicht nur nicht akzeptiert wird, sondern vielmehr noch, den Betroffenen die Mündigkeit in Bezug auf die zu Grunde liegende Empfindung abgesprochen wurde, ist in hohem Maße übergriffig. […] Mit Blick auf die schockierenden Aussagen von Mitarbeitern des Kulturbüros im Zuge der aktuellen Debatte möchten wir zudem sensibilisierende Schulungen nahelegen.
Offener Brief der Wohnrauminitiative
Demnach darf also jeder - zumindest jede Frau - selbst entscheiden, was Sexismus ist, und alle anderen haben sich danach zu richten. Denn wer es wagt, Zweifel daran zu äußern, macht sich selbst des Sexismus schuldig und gehört umgehend in eine Sexismus-Sensibilisierungs-Schulung gesteckt. Klingt abwegig?
Nun, in den USA sind solche "Anti-Harrassment-Trainings" längst gang und gebe. Auch bezogen auf deutsche Verhältnisse sind die Göttinger Studentenvertreter nur ein Teil einer größeren Bewegung, für die es als ausgemacht gilt, dass grundsätzlich jeder im Recht ist, der sich über Diskriminierung beklagt, sofern er nur einer der zahlreichen, vom Juste Milieu zertifizierten Opfergruppen angehört.
Da es nicht auf überzeugende Argumente ankommt, um Gehör zu finden, sondern auf Gefühle, erscheint es ratsam, seine Verletztheit möglichst eindringlich zur Schau zu stellen. Diese Einsicht haben längst nicht nur die Göttinger Studenten verinnerlicht, die in ihren Pamphleten an Vokabeln wie "schockierend", "diskriminiert" oder "übergriffig" nicht sparen. Einfach nur irritiert, genervt oder leicht angefressen zu sein, ist ja sowas von gestern. Und so stört sich auch kaum noch jemand daran, wenn Frauen sich im Zuge der #MeToo-"Debatte" als "Überlebende" bezeichnen, weil ihnen vor zwanzig Jahren einmal jemand zu tief in den Ausschnitt geschaut hat - und sich damit auf die gleiche Stufe mit Menschen stellen, die eine Vergewaltigung oder sexuellen Missbrauch erlitten haben. Wo subjektive Befindlichkeiten regieren, gehen sämtliche objektiven Maßstäbe verloren.
Die selektive Kultur der Diskriminierten und Beleidigten
Frühere Studentengenerationen kämpften noch für Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Die heutigen Kulturlinken streiten mit größtem Eifer für immer neue Denk- und Sprechverbote und neuerdings eben auch für Kunst-Zensur. Längst verlorengegangen ist der Glaube an die Kraft der besseren Argumente. In unserer "Affektgesellschaft", wie Hilmar Klute sie in der SZ bezeichnet hat, sind echte Debatten nicht mehr möglich, da dazu die Bereitschaft gehört, sich mit konträren Meinungen ernsthaft auseinanderzusetzen und zu den Konsequenzen seines Handelns zu stehen - der Zensur von Kunstwerken zum Beispiel.
Statt sich in Gruppen zusammenzuschließen, um für gemeinsame Ziele zu streiten, ordnen sich heute Einzelne je nach Bedarf irgendeiner gerade passend erscheinenden Gruppe zu, um Rechte für sich selbst einzufordern. Derweil zerfällt die Gesellschaft in immer neue Subgruppen von Diskriminierten und Beleidigten. Für fast jeden ist etwas dabei.
Nur jene Bereiche, die an den Grundfesten der kapitalistischen Gesellschaftsordnung rütteln könnten, sind tabu. Die Karte "Armut", "Ausbeutung" oder "Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft" zu ziehen, gilt heute nicht mehr als hinreichend, um sich diskriminiert zu fühlen. Wer damit punkten will, muss sich schon einer geeignet erscheinenden Opfergruppe zuordnen, um sich darauf berufen zu können, wegen seines Geschlechts, seiner sexuellen Orientierung, seines Migrationshintergrunds oder warum auch immer von den Fleischtöpfen ferngehalten zu werden.
So stützen also die Möchtegern-Revoluzzer von heute eher das System, als dass sie es bekämpfen, in dem sie der neoliberalen Devise folgen: "Wenn jeder nur an sich denkt, ist an alle gedacht."