"Belarus ist komplett verstrahlt"
Seite 2: Radioaktivität aus dem Boden
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- Radioaktivität aus dem Boden
- Umsiedlung vier Jahre nach der Tragödie
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Der bekannte Nuklearmediziner und Kritiker der Lukaschenk-Regierung, Jurij Bandaschewskij, verbrachte über sechs Jahre im belorussischen Gefängnis. Amnesty International verlieh ihm den "Gewissensgefangener"-Status. Seine Recherchen und Publikationen über die enorme Radioaktivität in Belarus machten ihn zum Staatsfeind; er darf nicht dorthin zurück und lebt heute in Kiew.
Die von Präsident Lukaschenko geführte Politik des Verschweigens macht hunderttausende Menschen zu Opfern der Radioaktivität. Die Regierung hält alle statistischen Daten über an Krebs und an anderen Folgen der Strahlung Erkrankten geheim.
Neulich wurden die 203 zuvor als kontaminiert erfassten Siedlungen zu sauberen Gebieten erklärt. Diese Entscheidung basierte auf Bodenmessungen von Cäsium-137, dessen Halbwertszeit 30 Jahre beträgt. Doch Cäsium im belorussischen Boden ist nicht das einzige Problem. Beim Reaktorunglück wurden viele gefährliche Radionukliden in die Umwelt ausgeschüttet: Plutonium-239 (Halbwertszeit: 24.390 Jahre) und Plutonium-240 (Halbwertszeit: 6.537 Jahre), Strontium-89 und Strontium-90, Curium-242 und andere.
Cäsium-137 akkumuliert sich in der Regel in 10-cm-Bodenschichten; weitere Radionuklide gehen viel tiefer in den Boden ein und sind seit Jahrzehnten in der Nahrungskette. Die Pflanzenwurzeln nehmen die Radioaktivität auf und puschen die Radionukliden auf die Oberfläche. Nicht nur für Vieh wird diese radioaktiv verstrahlte Nahrung so zum Tagesbegleiter, sondern auch für den Menschen. Besonders gefährlich sind Pilze und Beeren, die die Belarussen so gern im Wald sammeln. Im Land gibt es beschämend wenige Kontrollstellen, zu denen die Bewohner das Gesammelte zur Radioaktivitätsmessung bringen könnten.
Die meisten Bewohner ignorieren die Gefahr, sogar wenn sie wissen, dass solche Kontrollstellen existieren. "Viel zu viel Stress", sagt eine Frau aus Gomel. "Wer würde sich täglich mit solchen Touren belasten? Wir haben andere Probleme." Dennoch müsste die Radioaktivität als ein großes Problem gesehen werden.
"98 Prozent der Strahlung gelangt in den Körper durch den Verzehr von radioaktiv belastenden Lebensmitteln", sagt Iwan Krasnoperow, Mitarbeiter des unabhängigen Instituts für Radioaktivität "Belrad" in Minsk. Um Cäsium-137 in einem bestimmten Produkt feststellen zu können, bräuchte man einen Tag. Für Strontium-90 sind es drei bis fünf Tage, so Krasnoperow. "Strontium ist nicht so häufig verbreitet wie Cäsium", begründet der Physiker und zeigt auf verschiedene Messergebnisse. "Strontium gehört zu Betastrahlern, deswegen nehmen die Tests mehr Zeit in Anspruch." Doch diese Tests könnten vielen Belarussen das Leben retten. Blaubeeren absorbieren kein Cäsium, dafür aber Strontium, das sich in den Knochen anreichert. Große Dosen führen zu Knochenkrebs und Leukämie.
Wie viele in Belarus an Krebs erkrankt sind, bleibt immer noch unklar. Die Onkologie-Kliniken sind überfüllt, sagt Jurij Bandaschewskij. "Lukaschenko sollte sich lieber um die an Krebs erkrankten Kinder kümmern und nicht vom Atomkraftwerk träumen", erwidert Bandaschewskij. Das erste AKW wird zurzeit in Ostrowez gebaut und soll planmäßig 2018 in Betrieb gehen.
Ausländische Hilfe für kranke Kinder
Über 5 Millionen Menschen leben heute auf verstrahlten Gebieten, wo die Cäsium-137-Werte bei über 1 Curie pro Quadratkilometer liegen. Junge Körper und ein schwaches Immunsystem sorgen für rapides Ansammeln der Radionukliden, deswegen werden vor allem Kinder empfindlich. Fast alle haben Probleme mit der Schilddrüse und Magen-Darmbeschwerden.
Es gibt genug Kinder, die jedes Jahr mit Pathologien und Mutationen zur Welt kommen. Seit Anfang der 90-er setzen sich Länder wie Deutschland, Italien, Kanada und Frankreich ein, um solchen Kindern zu helfen. Allein in Deutschland gibt es über 500 Initiativen, die sich Kindern aus Belarus, der Ukraine und Russland widmen. Oft sind es NGOs, die die Aufenthalte für Kinder im Ausland organisieren. Ausländische Gastfamilien übernehmen Flug- und Aufenthaltskosten.
Bevor Kinder nach Deutschland fahren, wird im Institut für Strahlensicherheit "Belrad" in Minsk gemessen, wie belastet der Körper ist. Der durchschnittliche Wert vor der Abfahrt liegt bei 27 Bq/kg, der sich nach einigen Wochen in einer sauberen Umgebung mit ausgewogener Ernährung durchaus bis auf 10 Bq/kg verringern kann.
Angelika Larisch vom Verein "Tschernobyl-Initiative" aus Ottendorf-Akrilla (Sachsen) ist LKW-Fahrerin. Zweimal im Jahr fährt Angelika 1.500 km von Dresden ins belorussische Dorf Buda-Koschelewo. Sie bringt Geschenke für sozialschwache Familien und Kinder mit Behinderung: Bekleidung, Bettwäsche, Haushaltswaren und Spielzeug. Zusammen mit deutschen Gastfamilien organisiert der Verein über Dutzende Kinderverschickungen pro Jahr. Die ganze Gemeinde von Ottendorf-Okrilla ist engagiert. Der Bäcker spendet Brötchen, die Bauern bringen saubere Milch für kleine Gäste aus dem Ausland, das Schwimmbad bietet kostenfreien Eintritt ein.
Walentina Smolnikowa ist ehemalige Kinderärztin, nun ist sie Rentnerin und leitet die NGO "Wir helfen den Tschernobyler Kindern" in Buda Koschelewo. Dank ihrem Engagement konnten über 10.000 Kinder ins Ausland fahren. Frau Smolnikowa sagt, sie habe keine Angst vor der Regierung, da sie schon pensioniert ist. "Weder Erwachsene noch Kinder sind hier gesund", sagt sie und guckt verbittert. "In jeder Familie ist jemand entweder an Folgen der Radioaktivität gestorben oder hat enorme Probleme mit der Gesundheit". Doch wie erzählt man Menschen über die Gefahren der Radioaktivität, wenn der Staat die Informationen geheim hält? "Die Zivilgesellschaft sollte gestärkt werden", meint Smolnikowa.
Eine ähnliche Meinung vertritt auch Wladimir Kowselew, der seit 1996 das Jugendzentrum "ASDEMO" in Gomel leitet. Dieses macht unter anderem zahlreiche Veranstaltungen zum Thema Naturschutz und erneuerbare Energien. "Tschernobyl sollte dabei ein lebhaftes Beispiel für Unberechenbarkeit der Kernenergie stehen", so Kowselew. Er ist Zeuge der Katastrophe und musste sein Heimatdorf verlassen.