"Belarus ist komplett verstrahlt"

Seite 3: Umsiedlung vier Jahre nach der Tragödie

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Wladimir Kowselew war 29 Jahre alt, als der Super-Gau sein Leben veränderte. Er kommt aus dem Dorf Besjad (Gomler Gebiet, Belarus). Seit 1990 ist dieses zur 30-km-Sperrzone erklärt. Dort wohnt eine einzige Familie, die weder der Regierung noch jemandem anderen vertraut, sagt Kowselew. Diese Familie gehört zu den sogenannten "Samosely"; Menschen, die nach der Tragödie in die verlassenen Dörfer zurückkehrten. In ganz Belarus gibt es ca. 300 solcher Rückkehrer.

"Über den Unfall am Reaktor erfuhren unsere Dorfbewohner zwei Monate danach, aber die Umsiedlung begann erst vier Jahre später", sagt Kowselew und guckt nachdenklich auf die Karte mit verstrahlten Zonen des Gomler Gebiets.

Wladimir Kowselew zeigt sein Dorf in der 30-Km-Sperrzone. Foto: Alisa Bauchina

"In meiner Jugend war Besjad ein schöner Ort mit glasklaren Flüssen und dichten Wäldern", erinnert er sich an alte Zeiten. "Wir Jungs spielten Fussball und gingen angeln." Kowselew kritisiert die damalige Sowjetregierung für das Verschweigen der Geschehnisse. Ganze Soldatenkonvois kamen mit Dosimetern und führten endlose Radioaktivitätsmessungen durch. Keiner beantwortete damals die Fragen der Dorfbewohner, die Menschen erfuhren nichts. Sie beobachteten, wie Uniformierte Wände wuschen, Dächer mit weißer Flüssigkeit besprühten und ganze Bodenschichten entfernten. Die Interpretation dieser Vorgänge basierte so nur auf eigenen Schlussfolgerungen und Gerüchten.

Als die Umsiedlung vier Jahre nach dem Super-GAU startete, gab es immer noch keine richtige Aufklärung. Besjad wurde größtenteils mit allen Häusern und Gärten in der Erde begraben, wie so viele Siedlungen im Gomler Gebiet. Schlimm war jene Zeit vor allem für ältere Menschen: rasch mussten alle die seit Generationen bewohnten Häuser für immer verlassen und durften nur das Nötigste mitnehmen. "Die Alten saßen in Bussen und weinten", erzählt Kowselew. Sie dachten, der Krieg wäre wieder da. Viele wunderten sich, warum man keine Kampfflugzeuge oder Schüsse hörte. Der unsichtbare Feind. "Wir alle ahnten nicht, wie verstrahlt wir schon längst waren", sagt Kowselew.

Die Dosimeter wurden nur einmal verteilt. Die Werte waren so hoch, dass die Geräte den Betrieb aufgaben. Später konnte man, um eine Panik zu verhindern, nirgendwo mehr Dosimeter erwerben. Das Vieh wurde erschossen und mit der gesamten Ernte im Wald begraben; die Wasserbrunnen wurden zubetoniert und alle Ein/Ausgänge in die Ortschaft mit hohen Zäunen zur No-Go-Zone erklärt.

"Ich wünschte, unsere Gesellschaft würde auf die Atomenergie verzichten", sagt Kowselew. "Was soll noch nach Tschernobyl und Fukushima passieren, bis wir alle begreifen, in was für ein gefährliches Spiel wir uns begeben."