Belgien gibt dem Druck nach
Das belgische Gesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen nach dem Weltrechtsprinzip wird bis zur Unkenntlichkeit verändert, was von manchen begrüßt, von den Anhängern einer universellen Rechtssprechung aber bedauert wird
Belgien leistet sich seit 1993 ein bemerkenswertes Experiment: In dem kleinen Land in Europa werden Verbrechen gegen die Menschheit und Völkermord verfolgt - unabhängig vom Tatort oder der Herkunft von Opfern und Tätern. Menschen aus aller Welt, die Opfer solcher Gewaltverbrechen wurden, können so Anklage gegen ihre Peiniger erheben, und die belgische Justiz muss gegebenenfalls ein Verfahren eröffnen. Doch nun soll das entsprechende Gesetz zum zweiten Mal in diesem Jahr geändert werden. Von dem ursprünglichen Anspruch der universellen Gültigkeit bleibt nicht mehr viel übrig.
Sozialisten und Liberale einigten sich am 22. Juni in ihren Koalitionsverhandlungen darauf, das Gesetz zum zweiten Mal in diesem Jahr zu ändern. Jetzt müssen Täter oder Opfer Belgier sein oder seit einer bestimmten Zeit in Belgien leben. Die US-Regierung hatte Belgien seit längerem dazu gedrängt, das Gesetz abzuschaffen. Kein Wunder, waren doch im Zuge des Irak-Krieges Klagen u.a. gegen General Tommy Franks, Außenminister Colin Powell und Präsident George W. Bush eingegangen (Judgement day in Brüssel?). Erst kürzlich stellte US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld den Neubau des NATO-Hauptquartiers in Brüssel in Frage: "Es macht nicht viel Sinn, ein neues Hauptquartier zu errichten, wenn man für Treffen nicht hierher kommen kann." Es wurde sogar ein Gesetzesvorschlag eingereicht, nach dem der US-Präsident sogar ermächtigt wäre, militärische Gewalt gegen Länder anzuwenden, die Amerikaner oder Alliierte nach dem Weltrechtsprinzip anklagen.
Doch die Klagen gegen die Mitglieder der US-Regierung sind längst abgewiesen, da Belgien das Gesetz im April dahingehend entschärft hatte, dass Klagen an das Heimatland des Angeklagten übergeben werden sollen, wenn dieses Land ein demokratisches Rechtssystem hat. "Das Hauptziel war, eine Schwemme von Fällen zu vermeiden, die sich aus rein politischen Motiven ergeben und manchmal auch aus einem Medienrummel, verursacht durch die Presse", teilte das belgische Außenministerium mit. Ob sich die US-Regierung mit der neuen Änderung zufrieden geben wird, ist fraglich. Schließlich hatte das US-Außenministerium noch am 20. Juni betont, die USA wollten die vollständige Abschaffung des Gesetzes, nicht eine Modifizierung. Eine flämische Zeitung vermutete bereits, dass schon die Möglichkeit, Klagen einzureichen, der US-Regierung ein Dorn im Auge ist.
Die belgische Regierung zeigt sich jedenfalls entschlossen, wenigstens an dem entschärften Gesetz festzuhalten. Amerikanische Politiker sind übrigens keineswegs die einzigen, gegen die in Belgien Klagen eingegangen sind. So verklagten unter anderem kurdische Flüchtlinge den damaligen irakischen Diktator Saddam Hussein, iranische Flüchtlinge Mitglieder des islamischen Regimes im Iran. Hinzu kommen diverse Klagen gegen afrikanische Politiker und Herrscher. Wegen des Völkermordes in Ruanda wurde im Jahr 2001 in Belgien ein Urteil gefällt - was die Öffentlichkeit keineswegs negativ aufnahm. Die Angeklagten - zwei Nonnen, ein Universitätsprofessor und ein ehemaliger Minister - wurden für schuldig befunden, an dem Völkermord an den Tutsis in Ruanda 1994 mitgewirkt zu haben. Das Brüsseler Gericht, vor dem der Fall verhandelt wurde, verhängte Haftstrafen zwischen 12 und 20 Jahren.
Anmaßung oder Wegbereiter einer universellen Rechtssprechung?
Allerdings brachte die Verfolgung von Kriegsverbrechern der belgischen Regierung auch diplomatische Probleme ein. Minister, Regierungschefs und Militärs begannen, das Land zu meiden. Eine Klage gegen den israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon, die wohl bekannteste Klage, die in Belgien eingereicht wurde, brachte Belgien sogar den Vorwurf des Antisemitismus ein. Angehörige der Opfer und Überlebende eines Massakers, das christliche Milizen im September 1982 in den libanesischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatilla an Palästinensern begingen, wollen Scharon in Belgien vor Gericht bringen, da sie ihn vorwerfen, er habe als verantwortlicher Verteidigungsminister die Milizen gewähren lassen.
Die Klage löste nicht nur in Israel einen Proteststurm aus. Der israelische Staatspräsident Moshe Katsav sprach Belgien in einem Brief an König Albert jedes moralische Recht ab, über israelische Politiker und Militärangehörige zu urteilen, nachdem im Februar ein belgisches Gericht entschieden hatte, dass Scharon erst nach seiner Amtszeit als israelischer Ministerpräsident angeklagt werden könnte - wodurch eine Klage gegen ihn prinzipiell möglich gemacht wurde.
Kritiker der israelischen Regierungspolitik sehen das freilich anders - auch in Israel. Die verschiedenen Positionen der israelischen Regierung und vieler Israelis auf der einen Seite und ihren israelischen Kritikern auf der anderen Seite geben die gesamte Spannbreite der denkbaren Positionen zum belgischen Kriegsverbrechergesetz wieder, die so ähnlich auch in anderen Ländern diskutiert würden, wenn der Regierungschef des Landes in Belgien als Kriegsverbrecher angeklagt würde. Auf der einen Seite stehen diejenigen, die sich fragen, wieso ausgerechnet Belgien beurteilen soll, wo in der Welt Unrecht begangen wurde - was sich nebenbei bemerkt wahrscheinlich auch viele Belgier fragen. Auf der anderen Seite finden sich diejenigen Anhänger von universeller Rechtssprechung, die in Belgien nur einen Vorreiter sehen und vom eigenen Land verlangen, dem belgischen Beispiel zu folgen.
Zu letzteren gehört auch die israelische Friedensbewegung. Eyal Gross von der Juristische Fakultät der Universität Tel Aviv wies deshalb auf einem Forum der israelischen Friedensgruppe Gush Shalom darauf hin, dass Israel mit dem Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 selbst den Präzedenzfall dafür geschaffen habe, Menschen vor Gericht zu stellen, die "Globalverbrechen" begangen haben. Zudem habe Israel auch ein "Gesetz über das Verbrechen des Völkermords", "nach dem jeder Verantwortliche für Völkermord - z.B. aus Ruanda - vor ein israelisches Gericht gestellt werden kann, ohne dass Israel eine direkte Verbindung zu dem Fall haben muss".
Israels bekanntester Friedensaktivist, Uri Avnery, bezog sich ebenfalls positiv auf den Eichmann-Prozess und die israelischen Gesetze und begrüßte von daher das belgische Gesetz. In Anlehnung an Kants Kategorischen Imperativ argumentierte er ganz universalistisch, jedes Land müsse das Recht und sogar die Pflicht haben, "Feinde der Menschheit" zu verurteilen:
Das Belgische Gesetz gegen Kriegsverbrechen ist ein Schritt in diese Richtung, und ich hoffe, dass viele Länder dasselbe tun werden. Natürlich wäre es besser, wenn der Internationale Gerichtshof in Den Haag diese Pflicht erfüllen würde, aber es wird noch viel Zeit vergehen, bis er in der Lage ist, dies zu tun.