Bericht zur Lage der Bibliotheken im Irak
Beim Weltkongress Bibliothek und Information geht es nicht zuletzt um das Recht auf Meinungsfreiheit
Nur Insider kennen den Dachverband der Bibliotheken. Dabei ist die IFLA (International Federation of Library Associations and Institutions) ein wichtiger Verbündeter all jener, denen das Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsbeschaffung lieb und teuer ist.
Noch bis zum 9. August findet in Berlin die IFLA 2003 statt. Beim Weltkongress Bibliothek und Information treffen sich an die 4.000 Experten aus rund 140 Ländern. Auf dem Programm stehen nicht nur jede Menge Fachvorträge und Workshops zum Bibliothekswesen im engeren Sinn, sondern auch Veranstaltungen von fachübergreifendem Interesse. Schließlich bieten Bibliotheken mehr als bloß Bücher - und das nicht erst in Zeiten von Multimedia. Bibliotheken sind Orte des Wissens und der Wissensvermittlung und gehören weltweit zu den neutralsten Orten der Informationsbeschaffung. Je freier der Zugang zu Informationen aller Art, desto wirkungsvoller können sie arbeiten. Etwa in Afrika, wo Bibliotheken bei der Aufklärung in Sachen Aids eine zentrale Rolle spielen.
Bedroht ist der freie Zugriff auf Information nicht zuletzt in hochtechnisierten Ländern wie den USA: Enorme Datenbanken wecken Begehrlichkeiten, und tatsächlich wüsste das FBI nur allzu gern, was Hinz und Kunz so lesen (Für den Antiterrorkampf erhält das FBI mehr Geld, mehr Technik und mehr Rechte). Könnte ja sein, dass sich durch das Studium des Leseverhaltens ein paar potentielle Terroristen dingfest machen lassen. Per Gesetz sind amerikanische Bibliotheken inzwischen zur Herausgabe dieser Daten verpflichtet, und es ist ihnen unter Strafandrohung verboten, die solchermaßen Observierten über die Überwachungsmaßnahme zu informieren. Deshalb fordert Alex Byrne, Vorsitzender der IFLA-Unterorganisation FAIFE (Free Access to Information and Freedom of Expression), aktiven Widerstand gegen solche Maßnahmen. Etwa indem einfach keine Daten mehr gesammelt werden. Oder indem Daten so gespeichert werden, dass keine direkte Verknüpfung mehr hergestellt werden kann zwischen Leser und Lektüre. Dabei beruft sich FAIFE auf Artikel 19 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen:
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, Artikel 19
Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.
Konsequenterweise finden sich unter den über 800 Veranstaltungen Themen wie Zensur, Überwachung von Bibliotheksbenutzern nach dem 11. September sowie Einschränkungen durch das neue Urheberrecht und Digital Rights Management.
Auch der Einfluss des Internet auf das Leseverhalten und die Zukunft der Bibliothek wurden diskutiert. Und während man in Deutschland gegen Stellenabbau und Etat-Kürzungen ankämpft, experimentiert man in Singapur mit Maschinen: Dort gibt es eine Hightech-Bücherei, in der die Benutzer mit Hilfe von Terminals alles selbst erledigen, von der Anfertigung des Benutzerausweises bis hin zur Ausleihe. Bei Fragen kann via Terminal ein Offsite-Bibliothekar konsultiert werden. Dieses Modell setzt allerdings eine ganze Reihe von Fähigkeiten voraus, die in weiten Teilen der Welt durchaus nicht selbstverständlich sind. In Afrika zum Beispiel hapert es vielerorts nicht nur an Computern und Bandbreiten, sondern schlicht und einfach an der Lesefähigkeit.
Eine der ergreifendsten Veranstaltungen war der Bericht von Jean-Marie Arnoult über den aktuellen Zustand von Bibliotheken im Irak. Zusammen mit vier Archäologen, einem Konservator, einem Architekten und einem Interpol-Mitarbeiter hat Arnoult, französischer Generalinspektor für Bibliotheken, im Auftrag der UNESCO vom 27. Juni bis 6. Juli den Irak bereist. Ursprünglich wollte sich das Team aufteilen, damit sich jede Gruppe auf ihre jeweiligen Schwerpunkte konzentrieren kann. Aufgrund der anhaltend unsicheren Lage vor Ort war dies jedoch nicht möglich. Um wenigstens einen groben Überblick zu bekommen, beschränkte sich Arnoult deshalb auf den Besuch von zehn Bibliotheken, die eine zentrale Rolle spielten im öffentlichen und akademischen Leben des Irak.
Zusammenfassend sagt Arnoult, dass die Zerstörungen zwar gewaltig, jedoch nicht so schlimm sind wie befürchtet. Denn allem Anschein nach konnten die wertvollsten Bücher und Handschriften rechtzeitig in Sicherheit gebracht werden. Dennoch ist das irakische Bibliothekswesen schwer getroffen, und es wird eine ganze Reihe von Hilfsmaßnahmen erforderlich machen. Nicht viel besser sei übrigens die Situation in Afghanistan, doch darüber werde aktuell nicht mehr so viel diskutiert.
Immer wieder betonte Arnoult, dass sein Bericht nur einen kleinen Teil der Realität widerspiegelt und dass er keinesfalls Auskunft gibt über die Lage des irakischen Bibliothekswesens an sich. Abgesehen davon, dass einzelne Orte nur unter erschwerten Bedingungen aufgesucht werden konnten, war es Arnoult häufig unmöglich, ausgelagerte Bestände in Augenschein zu nehmen. Hier musste er sich auf die Auskünfte seiner irakischen Ansprechpartner verlassen, die er zumindest vereinzelt für durchaus glaubwürdig hielt.
Natürlich war dies nicht die erste Mission ihrer Art. Bereits im Mai war ein Team der Unesco in den Irak gereist. Weitere Berichte über die Lage kultureller Einrichtungen stammen von Wissenschaftlern, die der Vereinigung MELA (Middle East Librarians Associatio) angehören. Insbesondere das Orientalistik Institut der Universtität von Chicago stellt umfangreiche Informationen zur Verfügung, etwa Bibliographien, Bilder beschädigter Bibliotheken sowie Abbildungen von irakischen Bibliotheksstempeln zur Identifikation gestohlener Bücher. Schließlich tauchten irakische Bücher schon bald auf dem Schwarzmarkt auf.
Arnoult war im Jahre 1999 schon einmal im Irak um Bibliotheken zu inspizieren und erinnerte sich noch lebhaft an das miserable Management. Das lag nicht zuletzt an der Personalpolitik: oben an der Spitze saß ein Direktor von Saddam Husseins Gnaden, der von Bibliotheksfragen keine Ahnung hatte, unten in den Lesesälen hielten Soldaten Wache. Dazwischen gab es nichts. Wozu auch?
Während des zwölfjährigen Embargos kam es nur vereinzelt zu Neuanschaffungen. Fachkundiges Personal hätte es zwar gegeben, doch das musste anderweitig seinen Lebensunterhalt verdienen. In den Magazinen herrschte vielerorts Chaos, und was den Bestands-Katalog angeht, das Herzstück einer jeden Bibliothek, so klafften dort große Lücken. Nicht zuletzt der Katalog der Nationalbibliothek war mehr als unvollständig - weshalb es jetzt umso schwerer fällt, die tatsächlichen Verluste realistisch einzuschätzen. Bei der Nationalbibliothek ist teilweise von einem Bestand von ursprünglich zwölf Millionen Büchern die Rede, eine Zahl, die Arnoult für reichlich übertrieben hält. Er schätzt den Vorkriegs-Bestand der Nationalbibliothek auf rund 1,5 Millionen Bände, den aktuellen Bestand auf 1,2 Millionen - und den Verlust damit auf rund 300.000 Bücher. Gar nicht so schlimm, könnte man meinen. Allerdings befinden sich viele der erhaltenen Werke in erbärmlichem Zustand.
Weitaus schwerer betroffen ist das Nationalarchiv im oberen Stockwerk desselben Gebäudes. Für Arnoult ist das umso unbegreiflicher, als es sich hier nicht um eine politische Sammlung gehandelt hat. Von einem symbolträchtigen Schlag gegen das alte Regime kann also keine Rede sein. Die Zerstörungen am Gebäude selbst sind gewaltig. Hier hat es zwei Mal gebrannt: das erste Mal am 14. April, das zweite Mal eine Woche später. Arnoult ist davon überzeugt, dass die Brandschatzer systematisch vorgegangen sind und mit Treibstoff nachgeholfen haben. Denn nicht nur die Bücher - die zwecks Effektivität in Haufen zusammengetragen wurden - sind zu Asche reduziert, auch die Metallregale sind weg. Einfach weggeschmolzen. Zwar stehen die Außenwände, aber ein Blick ins Innere macht deutlich: Das Gebäude aus dem Jahre 1977 ist abbruchreif. Darüber ist Arnoult noch nicht mal unglücklich, seiner Meinung nach war der Bau zwar protzig, aber durchaus nicht funktional. Was übrigens auf viele der Bibliotheksgebäude im Irak zutrifft.
Besser sieht es aus im Zentrum für Handschriften. Die kleine Villa ist intakt, von Chaos keine Spur, denn die Räume sind schlichtweg leer. Das liegt zum einen daran, dass die Bestände - rund 47.000 Werke - noch vor Kriegsbeginn in einen Bunker ausgelagert wurden. Zum anderen haben die Plünderer gründliche Arbeit geleistet: Regale, Tische, die Buchbinderwerkstatt - alles weg. Nicht ein Fitzelchen wurde zurückgelassen. Nur eine Art Räucherofen steht in einem der Räume herum. Anscheinend interessiert sich auf dem Schwarzmarkt niemand dafür. Arnoult lacht gequält angesichts dieser Bilder.
Völlig ausgebrannt und unbrauchbar ist die al-Awqaf Bibliothek des Ministeriums für Religiöse Angelegenheiten. Schätzungsweise 40 Prozent der Handschriften und 90 Prozent der Bücher wurden zerstört. Die Bibliothek der Mustansiriya Universität hatte vor allem unter Plünderungen zu leiden. Mobiliar und Klimaanlagen wurden entwendet, außerdem ein kleiner Teil des Bestands. Arnoult konnte die Bibliothek allerdings nicht persönlich besichtigen.
Ähnlich desolat ist der Zustand der Bibliotheken in Mosul und Basra. Die öffentliche Bibliothek von Basra wurde nach derselben vernichtenden Methode gebrandschatzt wie in Baghdad. An der Universitätsbibliothek wurden schätzungsweise 75 Prozent der Bestände vernichtet. Ob 600 sehr wertvolle Handschriften gerettet werden konnten, ist ungewiss. Am weitesten fortgeschritten ist der Wiederaufbau in Mosul. Die öffentliche Bibliothek scheint nur geringfügig beschädigt. Die Museumsbibliothek wurde von Spezialisten heimgesucht, die es auf zehn äußerst wertvolle Referenzkataloge abgesehen hatten. Ein Feuer wurde angelegt, richtete aber keinen nennenswerten Schaden an. Beeindruckt war Arnoult von der schnellen Reparatur der Schäden an der Universitätsbibliothek, wo etwa 30 Prozent des Bestands vernichtet wurden. In Zusammenarbeit mit der Koalition sowie durch Eigeninitiative wurden Fenster, Türen und Mobiliar ersetzt. Die religiösen Autoritäten sorgten dafür, dass gestohlene Literatur zurückgebracht wurde, ausländische Universitäten schickten Bücher. Professoren und Studenten reinigten das Gebäude, das inzwischen wieder benutzt werden kann.
Arnoult war sehr sachlich, ja geradezu nüchtern in seinem Vortrag, doch die Bilder der Zerstörung machten dem fachkundigen Publikum hörbar zu schaffen: Die einen stöhnten auf, andere sogen die Luft zwischen den Zähnen ein, und natürlich wollten viele am Ende wissen, wie sie schnell und effektiv helfen können - schließlich beginnt im September das neue Semester. Doch das Land, das einst zu den besten Ausbildungsstätten der arabischen Welt zählte, hat seinen Studenten im Moment kaum etwas zu bieten. Und die Wiederherstellung der Universitätsbibliothek in Mosul scheint eher die Ausnahme denn die Regel zu sein.
Ein Vertreter der Nationalbibliothek von Ägypten bot an, Bücher zu organisieren. In beiden Ländern wird arabisch gesprochen, außerdem sind die Lehrpläne sehr ähnlich. Das Goethe Institut möchte insbesondere bei der Aus- und Weiterbildung des irakischen Bibliothekspersonals behilflich sein. IFLA-Generalsekretär Ross Shimmon will Gelder aus dem Blue-Shield-Programm verfügbar machen und fragte Arnoult nach einem konkreten Projekt, das gefördert werden soll.
Am meisten liegt Arnoult am Wiederaufbau der öffentlichen Bibliothek in Basra. Erstens sei die allgemeine Lage in Basra sehr viel schlechter und dramatischer als beispielsweise in Baghdad und Mosul, und bekommt auch weit weniger Unterstützung. Zweitens war die zerstörte Bibliothek durchaus kein Prestigeobjekt, sondern eine sehr einfache Bibliothek für das Volk. Ihr Wiederaufbau könnte deshalb ein besonders hoffnungsvolles Signal an die Bevölkerung sein. Generell empfiehlt Arnoult vier Arten von Hilfsmaßnahmen. Erstens Hilfe bei der Reparatur bzw. beim Ersatz zerstörter Gebäude. Zweitens Hilfe bei der Wiederherstellung alter bzw. beim Aufbau neuer Bestände. Drittens Hilfe bei der Aus- und Weiterbildung des Fachpersonals. Und viertens Hilfe in Verwaltungs- und Rechtsfragen. Und zwar jeweils in Absprache mit den Menschen vor Ort - damit es nicht zu Bevormundungen und Ablehnung kommt. Die unterschiedlichen Hilfsangebote sollen online veröffentlicht werden auf den Seiten der IFLA-Suborganisation PAC (Preservation and Conservation). Auch sachdienliche Vorschläge sind willkommen.