Berlin: Mutmaßlicher Belästigungsfall bei Mieterkampagne birgt politische Gefahren
Vorwurf eines sexuellen Übergriffs bei Initiative "Deutsche Wohnen & Co enteignen" wird medial ausgeschlachtet. So könnte das politische Vorhaben beschädigt werden
Ein mutmaßlicher Fall sexueller Belästigung bei der Berliner Kampagne "Deutsche Wohnen & Co enteignen" nimmt medial an Fahrt auf. Noch vor dem Berliner Tagesspiegel hatte Telepolis in zwei Beiträgen über die zunächst interne Diskussion berichtet.
Es geht um den Vorwurf einer Aktivistin, der Kampagnensprecher Michael P. habe sie sexuell belästigt. Der Vorfall soll sich anlässlich der Übergabe von 30.000 Unterschriften durch die Linkspartei an die Initiative für den Volksentscheid am 21. Juni auf dem Berliner Rosa-Luxemburg-Platz ereignet haben.
Nun sind solche Angelegenheiten immer sehr problematisch, und es wäre größte Zurückhaltung und Besonnenheit angesagt. Denn wer – außer den direkt Beteiligten – kann schon wissen, was wirklich vorgefallen ist? Und was bedeutet "wirklich"? Ein und derselbe Sachverhalt kann von den Beteiligten sehr unterschiedlich erlebt werden.
Sexuelle Übergriffe sind weit verbreitet und unberechtigte Vorwürfe eher eine Ausnahme. Das beweist im Einzelfall jedoch nichts und von außen können solche Vorwürfe meist gar nicht beurteilt werden.
Sowohl der genannte Telepolis-Artikel von Fabian Stepanek als auch ein folgender Kommentar von Rainer Balcerowiak sind in einem ähnlich vorwurfsvollem Tonfall gegenüber der Volksentscheid-Initiative verfasst.
Stepanek scheint sich schon zu positionieren, wenn er schreibt "Zeugen für den behaupteten Übergriff gibt es nicht, vielmehr gibt es Aussagen von Veranstaltungsteilnehmern, die massive Zweifel an der Schilderung nahelegen."
Er zitiert ausführlich aus einer "halböffentlichen Erklärung" des Beschuldigten - mit der betroffenen Frau hat er offensichtlich nicht gesprochen. Er schreibt, in der Initiative gelte "das sogenannte Definitionsmachtkonzept" und verlinkt auf ein 2014 verfasstes Thesenpapier des "Kommunikationskollektivs", das Moderation, Mediation, Seminare und Beratung anbietet. Auf dieses Definitionsmachtkonzept, das angeblich dem Umgang der Initiative mit dem Vorwurf zugrunde liegt, bezieht sich auch Balcerowiak.
Definitionsmachtkonzept und Unschuldsvermutung – kein Widerspruch
Es wäre sicher lohnend, sich ausführlich mit diesem Thesenpapier zu befassen, unabhängig von dem hier behandelten Konflikt. In Kürze eine grobe Einschätzung: Im ersten Teil geht es darum, einer Person, die von einem sexuellen Übergriff betroffen ist, die alleinige Definitionsmacht über das Vorgefallene zuzugestehen.
Dies ist eine notwendige Voraussetzung für jede Beratung und Begleitung von Opfern sexueller Übergriffe und Gewalttaten. Insofern ist es richtig und notwendig, dass das nahe persönliche und politische Umfeld einfühlsam und unterstützend reagiert.
Nur wenn den Betroffenen bedingungslos geglaubt und ihre Wahrnehmung des Vorgefallenen nicht angezweifelt wird, haben sie zumindest eine Chance, die ganze Situation emotional und gegebenenfalls auch rechtlich halbwegs unbeschadet zu überstehen.
Wessen sexuelle Integrität angegriffen wurde bzw. wer sich als angegriffen empfindet, braucht parteiliche Unterstützung. Jede Infragestellung kann zur weiteren Traumatisierung beitragen. Diese wichtige Erkenntnis und Erfahrung droht in der aktuellen Auseinandersetzung unterzugehen.
Der zweite Teil ist allerdings problematisch: Wenn der Beschuldigte unhinterfragt als Täter bezeichnet wird, denn es ist wichtig, zwischen der subjektiven Wahrnehmung der Betroffenen und der Feststellung objektiver Tatsachen zu unterscheiden.
Selbstverständlich kann die anzuerkennende Wahrheit der Betroffenen nicht gleichsetzt werden mit der objektiven Wahrheit – die oft ohnehin nur sehr schwer oder gar nicht herauszufinden ist, zumal es eben in solchen Situationen sehr konträre Wahrnehmungen der Beteiligten geben kann.
Insofern ist es ebenso falsch davon auszugehen, dass der Beschuldigte aufgrund der Vorwürfe automatisch ein Täter sei, wie es falsch ist anzunehmen, die Frau hätte gelogen.
Wenn es stimmen sollte, dass durch die Initiative eine Vorverurteilung von Michael P. stattgefunden hat, dann wäre das in der Tat zu kritisieren. Insofern ist Rainer Wild vom Mieterverein zuzustimmen, der es in einer von Balcerowiak zitierten Stellungnahme als selbstverständlich bezeichnet, "dass es bei einem Vorwurf einer Straftat nicht an uns ist, dies zu bewerten.
Dafür gibt es die rechtsstaatlichen Verfahren. Insoweit gilt die Unschuldsvermutung." Ob jedoch das Strafrecht geeignet ist, in einem solchen Fall wirklich zur Klärung beizutragen, kann hinterfragt werden.
Die Unschuldsvermutung muss selbstverständlich für beide Seiten gelten. Wenn nun in Kommentaren und auf Mailinglisten spekuliert wird, dass es sich bei der Beschuldigung um eine gezielte Schädigung der Initiative handelt, dann ist das ebenso zu kritisieren, denn damit wird die Frau beschuldigt, dass sie gelogen hätte.
Sicher macht es misstrauisch, wenn im Höhenflug einer Kampagne, die viele machtvolle Gegner hat, ausgerechnet eine zentrale Person mit einem solchen Vorwurf konfrontiert ist. Aber gerade, weil das eine so heikle Angelegenheit ist, ist es umso wichtiger, damit zurückhaltend umzugehen und nicht alle Erkenntnisse und Erfahrungen mit sexueller Gewalt über Bord zu werfen.
Beide genannten Artikel lassen das nötige Verständnis für das sich daraus ergebende Dilemma missen. Das Konfliktfeld zwischen Definitionsmacht und Unschuldsvermutung lässt sich nicht mit den gewohnten, patriarchal gefärbten Denkmustern von Entweder-Oder lösen. Stattdessen wäre ein eher feministisch geprägter Umgang im Sinne eines Sowohl-als-Auch hilfreich.
Die Autoren der oben genannten Artikel bemühen sich jedoch nicht um Ausgewogenheit. Stepanek nutzt den Konflikt, um gleich pauschal zu urteilen: "Der Fall ist exemplarisch für eine fast schon eliminatorische Geisteshaltung in einigen linken und selbsternannt radikalfeministischen Kreisen".
Beide Autoren behaupten, es handele sich um "Inquisition" und werfen der Initiative vor, in ihrer Kampagne auf das Grundgesetz abzustellen, nach innen jedoch gegen rechtsstaatliche Grundsätze zu verstoßen. Balcerowiak fordert Stellungnahmen der Bündnispartner der Initiative.
Empörung schadet allen
Die Artikel beider Männer sind mit einem Tenor von Empörung verfasst, der in vielen Kommentaren aufgegriffen wird, teils mit erschreckend frauenfeindlichen Aussagen. Solche Stimmungsmache schadet allen, sowohl den direkt Beteiligten als auch der Enteignungsinitiative.
Damit soll nichts schöngeredet werden, denn auch wenn bisher wenig nach außen gedrungen ist, so lässt sich doch erkennen, dass die Initiative bisher keinen guten Umgang mit dem Konflikt gefunden hat.
Balcerowiak legte auf den Nachdenkseiten am 20. August nochmal nach: "Deutsche Wohnen & Co enteignen: Wie die linke Inquisition eine Bewegung zerstört". Der Tagesspiegel sprang am 31. August auf das Thema auf und titelte: "Streit über mutmaßliches Sexualdelikt bei ‚Deutsche Wohnen & Co. enteignen‘".
Dass er erst jetzt berichtet, kurz vor der Abstimmung über das Volksbegehren im Rahmen der Wahl am 26. September, legt die Vermutung nahe, dass dem Volksentscheid damit geschadet werden soll. Die Autoren Pascal Bartosz und Alexander Fröhlich zitieren eine anonym bleibende "gut vernetzte Gewerkschafterin", die angeblich "die ‚Interventionistische Linke‘, die in der Kampagne mittlerweile den Ton angeben soll, als 'wohlstandsverwahrloste Narzissten-Truppe'" bezeichnet habe.
Das Zitat unterlegen sie mit einem Link auf einen Tagesspiegel-Artikel vom 4. August, in dem jedoch diese vermeintliche Quelle und deren Aussage überhaupt nicht genannt ist. Es bleibt ein Eindruck von Denunziation.
Im Neuen Deutschland erschienen am 1. September online zwei Beiträge, "Sozialisierer mit Angriffsfläche" und "Harte Vorwürfe von allen Seiten", in einem weiteren Artikel am folgenden Tag wird berichtet: "Enteignungsinitiative reagiert auf Vorwürfe". Demnach soll ein sexueller Übergriff zur Anzeige gebracht worden sein.
Es war höchste Zeit, dass die Initiative in die Offensive geht und reagiert, denn es steht zu befürchten, dass das Volksbegehren, das ja ohnehin schon von der Immobilienindustrie medial bekämpft wird, nun noch massiveren Angriffen ausgesetzt sein wird. Wie es nun weitergeht, bleibt allerdings auch nach dem Bericht über die Erklärung offen.
Mit dem Beitrag "Inquisitoren des Rechtsstaats" setzte Jeja Klein am 3. September im Neuen Deutschland online dem bisher männerdominierten Diskurs eine notwendige feministische Perspektive entgegen.
Die Autoren Stepanek und Balcerowiak hatten mit ihrer Art der Berichterstattung hier einen Beitrag zu einem fatalen Empörungsdiskurs geleistet, der sowohl dem Anliegen der Initiative für einen Volksentscheid – die Enteignung großer profitorientierter Wohnungsunternehmen – schaden kann, als auch den feministischen Bemühungen, ein Bewusstsein für die Allgegenwart sexueller Übergriffe und Gewalt, sowie einen unterstützenden Umgang mit den Betroffenen zu finden. Mehr Gelassenheit täte der weiteren Auseinandersetzung sicher gut.