Willkür statt Aufklärung: Vorwurf sexueller Nötigung und "Täterschutz"-Framing für Grundrechte
Wenn linke Kampagnenlenker Inquisition spielen: Der Fall "Deutsche Wohnen & Co enteignen"
Eigentlich könnte sich die Initiative "Deutsche Wohnen & Co. enteignen" entspannt eine kleine Sommerpause gönnen. Für ihr Volksbegehren, mit dem der Berliner Senat aufgefordert wird, ein Gesetz zu erlassen, das die Vergesellschaftung aller privaten Wohnungskonzerne mit Beständen von mehr als 3.000 Wohnungen in Berlin regelt, gaben weit mehr als die benötigten 177.000 stimmberechtigten Berliner ihre Unterschrift. Am 26. September wird parallel zu den Bundestags- und Abgeordnetenhauswahlen in einem Volksentscheid darüber abgestimmt, die Erfolgschancen stehen gut.
Doch von entspannter Pause kann keine Rede sein, denn innerhalb der Kampagne brennt es lichterloh. Es geht um den Vorwurf der sexuellen Nötigung, den eine Aktivistin gegen Michael P., den in der Öffentlichkeit bekanntesten Kampagnensprecher erhebt. Der Vorfall soll sich am 21. Juni auf einer öffentlichen (!) Versammlung am Rosa-Luxemburg-Platz zugetragen haben, bei der Vertreter der Partei Die Linke mehr als 30.000 Unterschriften an die Kampagne übergaben.
Zeugen gibt es nicht
Wenig später erhielt der Ko-Kreis der Kampagne, eine Art Leitungsgremium, einen schriftlichen, sehr detailreichen Bericht des angeblichen Opfers. Angeblich hat sie auch Anzeige bei der Polizei erstattet, was aber derzeit nicht verifizierbar ist. Zeugen für den behaupteten Übergriff gibt es nicht, vielmehr gibt es Aussagen von Veranstaltungsteilnehmern, die massive Zweifel an der Schilderung nahelegen.
Der Beschuldigte wies die Vorwürfe kategorisch zurück und bezeichnet sie als "frei erfunden". Sein Vorschlag, den behaupteten Vorfall in einem neutral moderierten Gespräch mit dem Ko-Kreis und der besagten Aktivistin zu erörtern, wurde ignoriert beziehungsweise brüsk abgelehnt. Vielmehr beschloss der Ko-Kreis nach eigener Darstellung, der Schilderung des angeblichen Opfers uneingeschränkt und ohne weitere Nachfragen zu glauben. Der Beschuldigte wurde ultimativ aufgefordert, sich sofort aus der Kampagne zurückzuziehen, dies in einer Erklärung mit einem "Burnout" zu begründen und darüber hinaus absolutes Stillschweigen zu bewahren.
Ferner vielmehr wurden ihm alle Zugänge zu den internen und externen Kommunikationskanälen der Kampagne gesperrt. Der Ko-Kreis beschloss inzwischen auch, ohne weitere Rücksprache das bisherige Büroteam der Kampagne, das diese Vorgehensweise nicht akzeptieren wollte, aufzulösen und auch die bisherigen Räumlichkeiten zu kündigen. Zu diesem Büroteam gehört auch die Geschäftspartnerin von P., er selbst hat dort seinen Arbeitsplatz.
Auf Druck einiger Kampagnen-Aktivisten soll es nunmehr zwar ein Mediationsverfahren unter Hinzuziehung externer Berater geben. An dem Dogma, dem angeblichen Opfer die uneingeschränkte Deutungshoheit eines nicht verifizierbaren Ereignisses zuzugestehen, wird aber nicht gerüttelt. Grundlage dieser Position ist das sogenannte Definitionsmachtkonzept, das in Teilen der autonomen und radikalfeministischen Linken zum konstitutiven Selbstverständnis gehört.
Das gilt auch für die "Interventionistische Linke" (IL), eine kleine, straff organisierte Gruppe, die in der Kampagne viele Schlüsselpositionen besetzt hat und deren Vertreter unverhohlen einfordern, dass ihr Definitionsmachtkonzept für die ganze Kampagne gilt.
Im Ko-Kreis hoffte man bis vor Kurzem, die Angelegenheit unter der Decke halten zu können. Das konnte natürlich nicht funktionieren, mittlerweile ist die Geschichte auch zur Basis durchgesickert, angereichert mit diversen wilden Gerüchten und Spekulationen über mögliche "Drahtzieher". Auf halböffentlichen, digitalen "Aktivenplenen" und in diversen Chats wurden Zweifel und Kritik an der Vorgehensweise des Ko-Kreises rüde abgebügelt und als "Täterschutz" diffamiert. Doch die Affäre ist nicht mehr zu stoppen. Der Beschuldigte lässt sich anwaltlich vertreten, vom angeblichen Opfer wird eine strafbewehrte Unterlassungserklärung verlangt, ferner Anzeige wegen Verleumdung gestellt und Schadensersatz eingefordert.
Nach langem Schweigen hat sich jetzt auch Michael P. am Montag in einer halböffentlichen Erklärung zu den Vorgängen geäußert. Darin beschreibt er den zeitlichen Ablauf und das ihm mitgeteilte Konzept des Ko-Kreises:
Der "Täter" schweigt und verschwindet, mit x-beliebigen Ausreden, das Opfer schweigt und die Kampagne geht wie gewohnt weiter. (...)
Ich habe mich an den Ko-Kreis gewandt und meinen Rückzug aus der Kampagne erklärt, in der Annahme, dass sich in kürzester Zeit eine Klärung ergeben wird. Stattdessen wurde ich am 1.7. von einem weiteren Beauftragten des Ko-Kreises aufgefordert, mich "bis zum Abend" aus allen Telegram-Gruppen und Mailinglisten zu entfernen, wenn nicht, würden sie das machen. Bis heute bin ich weder vom Ko-Kreis angehört worden noch hatte ich sonst wie Gelegenheit, Stellung zu beziehen.(...)
Ich betrachte mich weiterhin als Teil der Kampagne und hoffe, dass alle beteiligten Seiten zu einer einvernehmlichen Klärung beitragen, und zwar nicht nur zu meiner persönlichen Rehabilitation, sondern auch um weiteren Schaden des Ansehens der Kampagne abzuwenden.
(Michael P.)
Dagegen beharrten Vertreter des Ko-Kreises auf dem Plenum am Dienstag darauf, dass P. nicht mehr zur Kampagne gehöre.
Auf die Kampagne kommen schwere Zeiten zu. Ihr durch monatelange Arbeit mit dem unermüdlichen Einsatz von weit mehr als 1.000 ehrenamtlichen Helfern beim Plakatieren und Sammeln von Unterschriften erworbenes Renommee dürfte erheblich Schaden nehmen, der durchaus mögliche Erfolg beim Volksentscheid ist gefährdet. Helfen könnten wohl nur noch eine schnelle, schonungslose und vor allem transparente Aufarbeitung der Affäre und entsprechende Konsequenzen.
"Wir handeln nicht rechtsstaatlich, sondern moralisch"
Es wirkt absurd, dass ausgerechnet eine Initiative, die sich bei ihrer Enteignungsforderung explizit auf das Grundgesetz (Art. 15) beruft, rechtsstaatliche Prinzipien, wie etwa die Unschuldsvermutung und das Recht auf Anhörung für jeden Beschuldigten, in Bezug auf eigene interne Belange für irrelevant erklärt. (Zitat aus einem Chat: "Wir handeln nicht rechtsstaatlich, sondern moralisch"). Denn es geht um weit mehr als nur die Kampagne. Der Fall ist exemplarisch für eine fast schon eliminatorische Geisteshaltung in einigen linken und selbsternannt radikalfeministischen Kreisen.
Wenn wüste, unsubstantiierte Anschuldigungen in bestimmten Fällen - etwa bei behaupteten Sexualdelikten oder auch mutmaßlich rassistischen Diskriminierungen - per se zur unhinterfragbaren, gültigen Wahrheit erklärt werden, ist das ein riesiges Einfallstor für Denunziationen und Intrigen aller Art und ein nicht tolerierbarer Rückfall in vordemokratische Denk- und Handlungsweisen. Das muss schleunigst thematisiert werden, nicht nur in der Kampagne. Und ob die Mitglieder des Leitungsgremiums nach diesem gigantischen Rohrkrepierer noch tragbar sind, sollten sich die Aktiven der Kampagne sehr genau überlegen, ihrer Ziele und ihrer Selbstachtung wegen.