Beschneidungsethik
Update: Ist die Zirkumzision bei minderjährigen Jungen allein aus religiösen Gründen mit ärztlicher Ethik vereinbar?
Wo nun die Beschneidung bei minderjährigen Jungen auch ohne medizinische Indikation bald gesetzlich erlaubt oder zumindest straffrei sein wird: Können Ärzte diese überhaupt durchführen, wenn sie sich an den Maßgaben ihrer eigenen Standesethik orientieren? Auch wenn es zwar keine bezifferbare Risiken zu geben scheint, spricht der Gesetzgeber schließlich immer noch von einer "Körperverletzung". Und ein medizinischer Nutzen ist auch kaum nachweisbar. Wie also sollten sich die Ärzte verhalten?
Update siehe Ende des Beitrags, der zuerst am 15.10.2012 online gestellt wurde.
Ist die Beschneidung minderjähriger Jungen mit der ärztlichen Ethik vereinbar? Der Gesetzesentwurf zur Beschneidung minderjähriger Jungen ist am 10. Oktober vom Bundeskabinett verabschiedet worden und muss nun nur noch vom Parlament beschlossen werden. Das neue Gesetz stellt zwar klar, dass es sich bei der Beschneidung um eine Körperverletzung handelt. Dennoch soll diese unter bestimmten Umständen straffrei bleiben.
Viel wurde darüber diskutiert, wie genau diese Umstände auszusehen haben. Dabei ging es insbesondere um die Frage, welche Maßnahmen zur Betäubung erforderlich sind. Wenig wurde erstaunlicherweise über die praktischen Folgen gesprochen. Wo nun die Beschneidung bald gesetzlich erlaubt sein wird: Sollen Ärzte diese überhaupt durchführen, wenn sie sich an den Maßgaben ihrer eigenen Standesethik orientieren? Unser Faktencheck geht der Frage nach.
Noch einmal: Wenn man davon ausgeht, dass die Beschneidung minderjähriger Jungen zwar nicht mit quantifzierbaren Risiken schwerer Komplikationen einhergeht, auf der anderen Seite aber auch keinen relevanten medizinischen Nutzen mit sich bringt - ist diese dann mit ärztlicher Ethik vereinbar?
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Die Karte kann auch als PDF abgerufen werden.
Recherche: Tobias Eichinger und Irene Meichsner
Redaktion und Argumentkarte: Ralf Grötker
04. Oktober Dass die Beschneidung keinen relevanten medizinischen Nutzen hat, geht als Common Sense aus so gut wie allen einschlägigen Untersuchungen und Surveys zum Thema hervor. Selbst die kürzlich veröffentlichten Empfehlungen der amerikanischen Kinderärztevereinigung, die sich unter den weltweiten ärztlichen Vereinigungen als Fürsprecher für die Beschneidung noch am weitesten vorgewagt hatte, sieht den nachweisbaren Nutzen als so gering an, dass eine Empfehlung zur Beschneidung lediglich für Fälle ausgesprochen wird, in denen Eltern aus anderen Gründen bereits zur Durchführung der Operation entschlossen sind.
Was die Gefahr schwerwiegender Komplikationen (bis hin zu: Gewebstod des Penis; der Amputation der Eichel ; Tod) betrifft, so ist darüber zwar in Einzelfällen immer wieder berichtet worden. Deren Häufigkeit ist allerdings so gering, dass sie in klinischen Studien nicht nachweisbar sind und auch in Krankenhausstatistiken nicht vorkommen. Nach dem Raster einer klassischen Risikobewertung besteht somit kein "Risiko" im eigentlichen Sinne - was den Arzt allerdings nicht davon entbinden würde, über die mit jedem Eingriff verbundenen, möglichen Komplikationen aufzuklären). (Siehe dazu noch einmal der Faktencheck zur medizinischen Beweislage.)
Sollte ein Arzt unter diesen Umständen die Beschneidung durchführen?
Vielleicht ist der Weg zur Antwort auf diese Frage ja recht kurz. "Ärztliches Handeln sollte unter dem Grundprinzip stehen, niemandem zu schaden - Primum nihil nocere", wie Maximilian von Stehr zum Beispiel in seinem Beitrag im Spiegel darlegt. Und im vorliegenden Fall gilt, Risiko hin oder her: Der Schaden bei einer medizinisch nicht nötigen Beschneidung liegt im irreversiblen Verlust von gesundem Körpergewebe. Daraus folgt: Ärzte und medizinische Institutionen sollten die Durchführung von Beschneidungen, sofern kein akuter medizinischer Grund dafür vorliegt, aus ethischen Gründen verweigern. Punktum.
05. Oktober Ist das mit dem Niemandem schaden nicht einfach ein alter Hut - historisch in einem Kontext entstanden, der die direkte Übertragung auf die gegenwärtige Situation eigentlich ausschließt Und dann: In der Ethik gibt es doch zahlreiche verschiedene Prinzipien und Ansätze. Warum sollen Ärzte gerade nach dem Prinzip Niemandem schaden handeln? (Ganz offensichtlich tun sie das ja auch nicht. Riskante Eingriffe wie etwa Fettabsaugen lassen sich mit dem bloßen Grundsatz Niemandem schaden ja kaum vereinbaren.)
Die vier Prinzipien
06. Oktober Ein Blick in die medizinethische Fachliteratur zeigt: Es ist unstrittig, dass Ärzte, um überhaupt behandeln zu können, tatsächlich in vielen Fällen erst einmal Schaden zufügen müssen. Schließlich bringt jeder Eingriff, ob chirurgisch oder medikamentös, immer Risiken mit sich. Es kommt also auf die Abwägung zwischen Schaden und Nutzen an.
Was diese Abwägung betrifft, haben sich vier Leitprinzipien etabliert: die so genannte Prinzipienethik nach Beauchamp und Childress (erstmals veröffentlicht 1977). Die vier Prinzipien lauten:
- Autonomie: Respekt vor der Selbstbestimmung des Einzelnen, seiner Unabhängigkeit gegenüber Autoritäten oder staatlichen Institutionen etc., auch Vertraulichkeit und Aufrichtigkeit (des Arztes). Autonome/informierte Zustimmung: informed consent
- Nicht-Schaden: Seit der Antike zentraler ethischer Grundsatz der Medizin (primum non nocere): Verbot, dem Patienten Schaden zuzufügen
- Wohltun: Beförderung des Wohls, Beseitigung von Schaden
- Gerechtigkeit: Fairness, Gerechtigkeit bezüglich der Verteilung von knappen Ressourcen
Wichtig in unserem Kontext ist beim Punkt "Autonomie" das Kleingedruckte. Autonomie heißt nämlich nicht etwa, dass Patienten einen Anspruch darauf haben, dass ein Arzt jeden ihrer Wünsche erfüllt. Vielmehr können Ärzte auch die Erfüllung von Patientenwünschen ablehnen, gerade wenn es für diese keine medizinische Grundlage (Indikation) gibt. Dazu der Hannoveraner Medizinethiker Gerald Neitzke (2008):
Heute dürfen weder diagnostische noch therapeutische Maßnahmen begonnen werden, ohne dass zuvor eine Indikation gestellt wurde. Nicht indizierte oder gar kontraindizierte ärztliche Maßnahmen scheiden von vornherein aus dem Bereich rationaler, verantwortungsvoller Medizin aus.
Von Seiten des Patienten bedeutet der Punkt "Autonomie" vor allem aber auch ein Abwehrrecht: Der Arzt darf eine Behandlung - wie immer medizinisch sinnvoll - nicht durchführen, wenn der Patient damit nicht einverstanden ist.
Was heißt dies alles für die Beschneidung? Die Punkte im Einzelnen
Autonomie: Bei Minderjährigen, zumal Säuglingen, ist eine Einwilligung des Betreffenden nicht möglich. Auch Eltern können diese Zustimmung nicht ohne weiteres erteilen. Dazu die Medizinrechtler Kern und Richter (2009):
Grundsätzlich müssen die Betroffenen in Heileingriffe selbst einwilligen. Bei nichteinwilligungsfähigen Minderjährigen, aber auch Volljährigen darf und muss das ihr gesetzlicher Vertreter tun, allerdings nur, wenn es notwendig ist. Notwendig ist die Fremdbestimmung indessen lediglich bei indizierten Eingriffen. Das bedeutet für nichteinwilligungsfähige Minderjährige zweierlei: Die gesetzlichen Vertreter müssen einwilligen, wenn der Eingriff indiziert ist und sie dürfen es nicht, wenn es an der Indikation fehlt.
Kern/Richter 2009
Nicht-Schaden: Eine Beschneidung kann zu Komplikationen führen. Der Betreffende erfährt Schmerzen, die traumatisch sein können. In jedem Fall bedeutet sie einen irreversiblen Verlust von gesundem Körpergewebe. Der Gesetzgeber stellt klar, dass es sich deshalb um eine Körperverletzung handelt. Von daher wäre eine Beschneidung Minderjähriger (ohne entsprechende medizinische Indikation) nicht mit dem Prinzip des Nicht-Schaden-Dürfens vereinbar.
Wohltun: Sofern keine medizinische Notwendigkeit besteht (wie z.B. bei einer Vorhautverengung - aber um solche Fälle geht es hier ja nicht!) liegt zumindest aus medizinischer Sicht kein eindeutiger Nutzen vor (siehe dazu noch einmal der Faktencheck "Beschneidung: Vorteile bedeutsamer als Risiken?")
Gerechtigkeit: ist irrelevant.
(Zwischen)fazit: Vor dem skizzierten Hintergrund ist die Beschneidung von minderjährigen Jungen allein aus religiösen Gründen nicht zulässig!
6. Oktober, später Vielleicht ist es doch zu kurz gegriffen, bei Abwägung von Nutzen und Schaden ausschließlich medizinische Aspekte zu berücksichtigen. Der außermedizinische Einsatz von medizinischen Maßnahmen kann ja durchaus sinnvoll sein, zum Beispiel in der Reise- oder Reproduktionsmedizin - wo Eltern mit Kinderwunsch sozusagen medizinisch nachgeholfen wird. Ist nicht auch die Beschneidung minderjähriger Jungen, zumal im religiösen Kontext, ein sinnvoller außermedizinischer Einsatz einer medizinischen Maßnahme? Und, Autonomie hin oder her: Gehört zur elterlichen Erziehung insbesondere gegenüber dem nicht einwilligungsfähigen Nachwuchs im Baby- und Kindesalter nicht auch das Recht, religiöse Inhalte und die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft zu vermitteln? Wie weit könnte diese Befugnis gehen?
Ein Argument, welches sich zu Gunsten des außermedizinischen Einsatzes einer Beschneidung anführen ließe, wäre, dass man bei einer Praxis, die man nicht abschaffen und auch nicht verhindern kann, wenigstens die schwerwiegenden Folgen vermeiden möchte, die bei der unsachgemäßen Durchführung durch Nicht-Fachleute leicht eintreten können. Pauschal lässt sich mit dem Argument "Wenn wir’s nicht machen, macht's ein anderer" zwar alles und nichts rechtfertigen. Aber im konkreten Fall, in dem gerade die jüdischen Gemeinden mit großer Aufregung und verletzten Gefühlen reagieren, wäre es trotz nicht vorhandener medizinischer Rechtfertigung denkbar, im Sinne der Ermöglichung eine friedlichen Zusammenlebens, diese ja doch durchaus risikoreiche Praxis damit zu kontrollieren und unnötigen Schaden vermeiden. (Aber das gilt natürlich vor allem dann, wenn auf politischer Ebene die Entscheidung, die Beschneidung grundsätzlich nicht zu verbieten, bereits gefallen ist.)
Was jegliche außer-medizinische Legitimation der Beschneidung betrifft, ist jedoch zu beachten: (wiederum medizinethischer Common Sense): Für nicht-medizinisch motivierte Eingriffe gelten verschärfte Anforderungen wie etwa die besonders umfassende Aufklärung und nachdrückliche über mögliche Risiken und Nebenwirkungen sowie die uneingeschränkte informierte Einwilligung des volljährigen Patienten! Insbesondere letzteres kann im Fall der Beschneidung Minderjähriger nicht realisiert werden.
Außermedizinischen Nutzen berücksichtigen?
8. Oktober Auch wenn das "Wohltun" nach Stand der Diskussion um medizinische Ethik strikt medizinisch definiert zu sein scheint - vielleicht sollte man doch auch einmal der Frage nachgehen, worin ein außermedizinscher Nutzen jener Form der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft bestehen könnte, wie er durch die (religiös motivierte) Beschneidung ermöglicht wird?
Aber: Dass Ärzte kulturelle und religiöse Rahmenbedingungen in ihrer Entscheidung wichtiger nehmen als medizinische Belange - kann man sich das in einer liberalen und säkularen Gesellschaft ernsthaft wünschen? Dazu ein Gedankenspiel:
Stellen wir uns irgendeine soziale Gruppierung vor, die es zu einem ihrer fundamentalen Initiationsriten gemacht hat, allen Neulingen die kleinen Zehen (oder welches Körperteil auch immer, dessen Entfernung zu keiner wesentlichen Einschränkung später führt) zu entfernen.
Stellen wir uns vor, diese Tradition bestünde schon seit Tausenden von Jahren und wäre seitdem bei Hunderten, ja Millionen von Menschen praktiziert worden. Sollte ein Arzt aufgrund dieser Geschichte und einer schöngeredeten Harmlosigkeit der Amputation ("Wer braucht schon wirklich seine kleinen Zehen? Vor allem wenn sie schon vom achten Lebenstag an fehlen und man es nicht anders kennt, der Körper längst damit leben kann etc.") die Grundsätze seiner Profession über Bord werfen? (Von den Grund-, ja Menschenrechten nicht zu reden.)
Noch einmal: Mit dem Nutzen, der in eine ärztliche Risiko/Nutzen-Abwägung einzubeziehen ist, ist ein medizinischer Nutzen gemeint, und nicht eine außermedizinische Dimension (ein außermedizinischer "Vorteil") wie etwa kulturell-religiöse Zugehörigkeit (gegebenenfalls durch Verstümmelungen oder symbolische Narben).
Offenbar haben wir es in der ganzen Diskussion mit einer grundlegenderen Frage zu tun: Ist Medizin eine soziale Praxis mit eigenen, inhärenten Werten, die ihr Tun bestimmen - und begrenzen? Soll Medizin wie andere Dienstleistungen, Handwerke oder Technologien am Ende auch zu beliebigen Zwecken eingesetzt werden dürfen, welche die Menschen oder die Gesellschaft verwirklichen will und zu deren Erreichen die Medizin die geeigneten Mittel hat? Das ist sehr umstritten! (Stichworte in diesem Streit sind: Verlust der moralischen Integrität der Ärzteschaft, Kommerzialisierung einer zentralen moralisch-sozialen Praxis u.a.).
9. Oktober Jetzt aber, um trotz allem auch mal die andere Seite zu beleuchten: Wie wächst das nicht-beschnittene Kind in der Gemeinschaft auf? Ist es Hänseleien ausgesetzt? Dem Gespött anderer Kinder? Könnte es eine Zumutung sein, Kinder jüdischer Familien von der religiösen Gemeinschaft bis zur Volljährigkeit auszuschließen, indem man ihnen ein Ritual vorenthält, das der Taufe von der Bedeutung her vergleichbar ist? Soll man all dies ganz außen vor lassen?
10. Oktober Das kann doch nicht Sache des Arztes sein! Wenn solche Probleme an der Beschneidung allein hängen, ist das ein deutliches Zeichen für ein Problem der Religion. Es gibt ja auch Stimmen in der Debatte, die behaupten, dass die Unabdingbarkeit der frühen Beschneidung für die Zugehörigkeit zum Judentum nur eine behauptete. So zum Beispiel Lorenz Beckhardt (der im Übrigen ein Kritiker des Kölner Urteils ist):
Natürlich ist ein Judentum ohne Beschneidung denkbar. Diskutieren, streiten, Regeln aufstellen, um sie wieder zu verändern, das ist jüdischer Alltag. […] selbst aus einer orthodoxen Gemeinde wird schon heute niemand verwiesen, der unbeschnitten daherkommt.
Aus dem Kölner Stadt-Anzeiger
Was heißt eigentlich "Indikation"?
10. Oktober, später So, wie sich die Sachlage bislang darstellt, kann es allenfalls eine gesellschaftliche Frage sein, ob ärztliches Handeln auch nicht-medizinischen Zwecken dienen kann. Aber ist das wirklich so? In der medizinethischen Diskussion finden sich auch ganze andere Stimmen.
Eine Sonderstellung nimmt die Indikation innerhalb der ärztlichen Tätigkeiten dadurch ein, dass sie nicht ausschließlich naturwissenschaftlich zu begründen und durchzuführen ist. (…) Die Indikationsstellung ist (…) der einzige Ort, wo in den fast zwanghaften naturwissenschaftlich logischen Gedankengang von Anamnese, Befund, Diagnose und Therapie ethische Gedankengänge eingebracht werden können.
Neitzke 200 mit Verweis auf Anschütz 1982: 178
Die Regeln der Indikationsstellung lassen sich niemals und nirgendwo ohne vielfältige Rekurse auf Werte und Normen etablieren.
Neitzke 2008 mit Verweis auf Raspe 1995: 22
Einige Wissenschaftler schlagen deshalb vor, zwischen einer "medizinischen" und einer "ärztlichen" Indikation zu trennen.
Die medizinische Indikation wird sich (…) als überwiegend technischer und allgemeiner Natur erweisen. Die ärztliche Indikation umfasst hingegen die Abwägungen und Überlegungen, die eine individuelle Indikation im vorliegenden Einzelfall rechtfertigen. Die ärztliche Indikation ist das Tor, durch das die Ethik Eingang findet in den überindividuell-rationalen Prozess ärztlicher Entscheidungsprozesse. Erst durch den ärztlichen Teil der Entscheidung wird diese zu einer ‚persönlichen Entscheidung des Arztes (…).
Neitzke 2008 mit Verweis auf Anschütz 1982
(Zwischen)fazit: Bislang war der Stand der Diskussion ja der, dass Ärzte Maßnahmen, die nicht "indiziert" sind, ohne Einwilligung des Patienten gar nicht durchführen dürfen. Nun scheint es so, als ob es gute Argumente dafür gibt, auch außermedizinische Gründe als Basis für die Entscheidung anzuerkennen, weil sich der Begriff der Indikation auch weiter fassen lässt. Und dass der einzelne Arzt - und nicht der politisch-juristische Diskurs - die richtige Adresse sein könnte, was die Beurteilung solcher außermedizinischen Gründe betrifft! ….
12. Oktober Zurück auf Los! Ist die zitierte Prinzipienethik am Ende doch nicht so eindeutig, wie es zunächst den Anschein hatte? Ein näherer Blick zeigt: der klassische Ansatz von Beauchamp und Childress (1977) ist in der jüngeren Vergangenheit vielfach als "zu eng" kritisiert worden - und selbst Beauchamp räumt ein, dass die Kritiker in einigen Punkten Recht haben! (vgl. der Sammelband von Rauprich und Steger, 2005:57.)
Darüber hinaus: Die vier Prinzipien sind keine Regeln, die ohne weiteres auf jeden konkreten Fall angewendet werden können und die unbedingt zu allererst ("primum") zu beachten wären - sondern, so die geläufige Interpretation, lediglich erste Anhaltspunkte, die Gültigkeit haben, sofern keine anderen Aspekte zu beachten sind:
Die Prinzipien bilden … allgemeine ethische Orientierungen, die … bei der Anwendung einen beträchtlichen Beurteilungsspielraum zulassen. Dies ist Stärke und Schwäche des Ansatzes zugleich. Auf der einen Seite bleibt er offen für verschiedene moralische Grundüberzeugungen und die Besonderheiten des Einzelfalls.
Marckmann 2000
13. Oktober Auch daran, dass die Beschneidung Minderjähriger gegen das Gebot der Achtung von Autonomie verstößt, lässt sich unter Umständen rütteln. Die Frage läuft letztlich darauf hinaus, wie weit das elterliche Recht auf religiöse Erziehung reicht, das hier in Konkurrenz zum Recht auf körperliche Unversehrtheit steht. Einige Autoren weisen darauf hin, dass es Gesellschaften gibt, in denen die Einbeziehung von Familie und Eltern in medizinische Entscheidungen allgemein akzeptiert ist und wo auch erwachsene Menschen noch weitgehend den Rat der Eltern befolgen. Daraus wird gefolgert:
Die Position des Arztes ist also nicht nur abhängig von seinem eigenen Selbstverständnis, sondern auch von den Anforderungen, die von der jeweiligen Gesellschaft an ihn gestellt werden. (…) Der Verdacht, der Einbezug von Familienmitgliedern müsse notwendigerweise zur Entmündigung des Einzelnen führen, erweist sich so pauschal als unbegründet.
F. Braune, C. Wiesemann und N. Biller-Andorno 2008: 151
In der Diskussion um den Arzt im interkulturellen Spannungsfeld wird deshalb von Ärzten eine wie auch immer geartete Form von "interkultureller Kompetenz" gefordert:
Immer wieder können religiöse Haltungen und Überzeugungen begegnen, die irrational und befremdlich erscheinen. Religiöse Einstellungen verdienen jedoch nicht deshalb Respekt, weil sie objektiv richtig oder vernünftig sind, sondern weil es um die innersten und tiefsten Identifikationen eines Menschen geht, der Respekt verdient. Man kann einen Menschen in seiner Würde nicht respektieren, ohne seine Glaubensüberzeugungen zu respektieren.
Schaupp, 2011
Dem entsprechend ist die Güterabwägung in der Literatur auch schon zugunsten der Beschneidung ausgefallen:
Unter Einbeziehung des gegenwärtigen wissenschaftlich-empirischen Erkenntnisstandes sowie des rechtswissenschaftlichen Diskurses erscheint die Vornahme einer rituellen Beschneidung von Knaben vom Kindeswohl als der entscheidenden Determinante abgedeckt.
Schinkele 2011
15. Oktober (Zwischen)fazit: Kein Konsens. Aber zumindest ist deutlich geworden, welche Positionen zur Auswahl stehen - allesamt in der Forschungsliteratur vertreten, allesamt verbunden mit mehr oder weniger problematischen Implikationen, die man eingeht, wenn man sich auf eine davon festlegt.
- "Strikt medizinisch": "Wir als Ärzte wollen damit nichts zu tun haben, weil wir uns nicht instrumentalisieren lassen und somit unseren Berufsstand schädigen wollen. Das sollen andere machen!"
- "Offen für (fast) alles": "Das muss jeder Arzt selbst von Fall zu Fall entscheiden."
- "Traditionsfreund": Die Beschneidung ist ethisch legitim, weil sie dem Wohl des Kindes dient. (Sie dient dem Kindeswohl deshalb, weil jene Form der Aufnahme in eine Religionsgemeinschaft, wie sie - unter elterlicher Obhut - mit der Beschneidung einhergeht und auch nur durch die Beschneidung erfolgen kann, ein hohes Gut darstellt.)
- "Reformer": Die Beschneidung ist ethisch nicht legitim, weil sie einer für das religiöse Leben (welches ja durchaus ein hohes Gut darstellt) unnötigen Praxis Vorschub leistet, deren Unterbindung langfristig dem Kindeswohl dienen würde." (Diese Position vertritt zum Beispiel der jüdische Arzt Gil Yaron in der F.A.Z.)
Die Positionen lassen sich auch in einem Entscheidungsbaum zueinander in Bezug setzen:
Der Entscheidungsbaum macht deutlich: Nur ein einziger Weg führt zur Beurteilung der Beschneidung minderjähriger Jungen ohne medizinische Indikation als ethisch legitim. Wer diesen Weg einschlägt, muss erhebliche argumentative Folgelasten tragen: Er muss zeigen, dass die Beschneidung nicht insgesamt einer problematischen Instrumentalisierbarkeit der Medizin Vorschub leistet. Er muss darlegen, dass sie mit dem Autonomiegebot vereinbar ist und die elterliche Freiheit das Maß nicht überschreitet.
Außerdem muss er plausibel machen, dass die Beschneidung im individuellen Fall alternativlos ist oder zumindest das beste Mittel darstellt, was die Aufnahme von Säuglingen und kleinen Kindern in eine muslimische oder jüdische Religionsgemeinschaft betrifft - und dass das Leben in einer solche Gemeinschaft mittelbar oder unmittelbar einen deutlichen positiven Wert für den Betreffenden hat. Nicht zu vergessen auch: Er muss die Notwendigkeit des Eingriffs gegenüber möglichen Risiken verteidigen, die damit verbunden sind.
Die argumentativen Folgelasten für die andere Seite sind deutlich geringer: Wer die Beschneidung als unvereinbar mit ärztlichem Ethos betrachtet, kann es immer noch gutheißen, wenn andere Fachleute als Ärzte die Beschneidung durchführen - wobei dann lediglich die Frage im Raum steht, ob so noch die nötige Betäubung gewährleistet werden kann oder ob die Beschneidung nicht doch unter Vollnarkose durchgeführt werden sollte, was wiederum ausschließlich durch Ärzte erfolgen kann.
17. Oktober Nachtrag: Der Diskussion im Forum folgend, haben wir in den vergangenen die Argumentkarte um verschiedene Punkte ergänzt. Der Wortlaut der Kommentare ist in den "Notizzetteln" eingefügt worden. Hier auch noch einmal eine aktualisierte PDF-Version der Karte zum Ausdruck im Posterformat.
Außerdem hat sich herausgesellt, dass wir im Fazit oben eine Position vergessen haben: Möglicherweise ist die Durchführung der Beschneidung minderjähriger Jungen ohne medizinische Indikationen zwar aus Gründen der ärztlichen Berufsethik nicht legitim. Dennoch könnte die Ärzteschaft argumentieren:
Die Politik hat mit dem neuen Gesetzesentwurf entschieden, dass die Beschneidung im Ermessensrahmen der elterlichen Sorge liegt. Wir als Ärzte sind jedoch anderen Beurteilungsprinzipien verpflichtet als die Politik. Wenn wir nun - zum Beispiel um eine ausreichende Schmerzbehandlung zu gewährleisten - durch das neue Gesetz (sofern dieses denn tatsächlich beschlossen wird) zum Vollstrecker der Beschneidung gemacht werden, dann brauchen wir dazu ein Mandat. Ein solches Mandat können wir uns nicht selbst erteilen. Dazu bedürfte es eines gesellschaftlichen Konsens, welcher uns von unserer Berufsethik, der wir auch nach außen hin verpflichtet sind, entbindet.
Auf diesem Weg könnte die Durchführung der Beschneidung durch Ärzte legitimiert werden, auch wenn es dafür keine medizinethische Grundlage gibt. Von den ärztlichen Verbänden hat übrigens allein der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte BVKJ deutlich Stellung bezogen. So erklärt deren Vorsitzender Wolfram Hartmann:
Nach unserer Auffassung ist es mit unseren ethischen Grundsätzen und auch mit dem Hippokratischen Eid nicht vereinbar, dass Ärzte solche Eingriffe an nicht einwilligungsfähigen Jungen durchführen.
So oder so: Die Diskussion hat gezeigt, dass es, entgegen (auch in den Kommentaren) weit verbreiteter Ansicht keineswegs eine quasi private Angelegenheit des behandelnden Arztes sein sollte, über die Legitimität einer Beschneidung zu urteilen. Einerseits liegen nämlich die Beurteilungskriterien keineswegs im individuellen Ermessen des Einzelnen. Darüber hinaus gibt es gute Argumente dafür, dass der Berufsstand als solcher von der Entscheidung für oder gegen die Beschneidung betroffen ist (Stichwort: Instrumentalisierbarkeit).
Von daher verwundert es, dass die Bundesärztekammer auch auf nochmalige Anfrage durch den Faktencheck es ablehnt, zur medizinethischen Legitimität der Beschneidung minderjähriger Jungen ohne Indikation Stellung zu beziehen. Hier gäbe es eindeutig Handlungsbedarf.
(Fortsetzung folgt)
Dr. Tobias Eichinger forscht und lehrt am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Freiburg. Er hat zur Frage der Wunscherfüllung in der Medizin promoviert und beschäftigt sich mit ethischen und anthropologischen Fragen im Kontext der Synthetischen Biologie
Dr. Irene Meichsner ist Freie Journalistin und Wissenschaftsredakteurin beim Kölner Stadt-Anzeiger. Sie schreibt u.a. für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, GEO, Kölner Stadt-Anzeiger, Tagesspiegel, taz und ZEIT. 2005 erhielt sie den Georg von Holtzbrinck Preis für Wissenschaftsjournalismus, 2007 den Expopharm Medienpreis, 2010 den Journalistenpreis für Luft- und Raumfahrt (Sonderpreis).
Das Projekt Faktencheck wird gefördert durch die Robert Bosch Stiftung. Kostenfreie Wiederveröffentlichung diese Textes ist auf Anfrage möglich: faktencheck@debattenprofis.de