Beständigkeit liegt nur im Wandel

Turnover-Rate des kulturellen Wandels liegt einer interdisziplinären Studie zufolge bei 5,6%

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

"Beständigkeit liegt nur im Wandel" - diesen alten Schopenhauer-Aphorismus bestätigten jetzt Kulturwissenschaftler, Psychologen und Biologen in einer gemeinsamen Studie. Die vier Forscher untersuchten die Beliebtheit von Namen, Musik und Hunderassen und fanden heraus, dass es in allen Bereichen eine ähnliche Turnover-Rate gibt.1

Die Studie, die in der Zeitschrift Evolution and Human Behaviour erscheinen wird, zeigt, dass ein System aus Nachahmung und gelegentlicher "Innovation" dazu führt, dass sich die Geschmäcker stetig und mit einer vorhersagbaren Rate ändern. Den Begriff der "Innovation" haben die Wissenschaftler dabei außerordentlich weit gefasst. Wo zum Beispiel die Neuerungsleistung bei Musik in den Charts liegen soll ist – zumindest für manche Zeitabschnitte - durchaus fraglich.

Durchgeführt wurde die Untersuchung vom Kulturwissenschaftler Alex Bentley von der Durham University und vom AHRC Centre for the Evolution of Cultural Diversity, seinem Kollegen Carl Lipo von der California State University in Long Beach, einem Spezialisten in Sachen kulturelle Evolution (Vgl. Von Gebärmaschinen, Gotteskriegern und Ganoven), dem Psychologen Hal Herzog von der Western Carolina University und dem Biologen Matthew Hahn von der Indiana University.

Kinder, Hunde, Hitparade

Das Team sah sich unter anderem die Geschichte der Billboard Top 200 von den 1950ern bis in die 1980er an und fand dabei heraus, dass die Anzahl der Zu- und Abgänge zwar von Tag zu Tag und von Monat zu Monat variierte, aber der durchschnittliche Turnover bei 5.6% lag. Die Turnover-Raten für Babynamen und Hunderassen waren bemerkenswert ähnlich. Die Daten aus den drei Bereichen wurden durch Computersimulationen ergänzt, die ebenfalls ähnliche Werte ergaben.

Wie schnell sich etwas ändert, das hängt vom Umfang ab: eine Top-100-Liste ändert sich proportional schneller als eine Top-40-Liste. Was – für die Forscher überraschend – keine Auswirkungen zu haben schien, war die Größe der Bevölkerung. Die Turnover-Raten blieben auch bei steigender Bevölkerungszahl konstant. Der Großteil der "Innovationen", so ein weiteres Ergebnis der Studie, wird ignoriert, nur eine kleine Zahl kopiert. Im Bereich des viralen Marketing war dieser Effekt bereits bekannt und wird genutzt – dort versuchen Werbeleute eine Minderheit von "Innovatoren", etwa Blogger, zu identifizieren und gezielt, auch mit Hilfe von Geschenken, auf Produkte anzusetzen.

Laut Bentley war beispielsweise David Beckham mit seiner Frisur zu Anfang des Jahrzehnts so ein "Innovator" – aber der Bedarf bestand weniger nach der "Innovation" als nach dem Wandel an sich – der Inhalt (also die Frisur) war laut Bentley mehr oder weniger egal. Deshalb, so Bentley, sei Madonna auch zwei Jahrzehnte lang populär geblieben - weil sie ihr Image stetig wandelte. Wirtschaftlich anwendbar sind die Ergebnisse, den vier Wissenschaftlern zufolge, um Turnover-Raten von Bestsellerlisten vorherzusagen und Produktionszyklen darauf auszurichten.

Schopenhauer: Nicht nur in Frisurfragen ein Innovator

Weil das, was kopiert wird, der Studie zufolge ziemlich zufällig ist, kann nicht vorhergesagt werden, welche neuen Moden die alten ersetzen. Die Untersuchung widerspricht mit diesem Ergebnis sowohl Vorstellungen von Individualität und "rational choice" als auch dem Glauben, dass "Kopieren" ein vermeidbarer und damit potentiell bezahlwürdiger Vorgang wäre.

"Out" in der Wissenschaft, "In" in der Politik

Interessant sind die Ergebnisse der Studie deshalb auch in Hinsicht auf die Argumente, mit denen immer restriktivere Gesetze zum "Geistigen Eigentum" gestützt werden. Schon seit längerem ist bekannt, dass die von Politik und Medien stets zitierte Anreiztheorie nur auf einem begrenzten Gebiet funktioniert: Bereits in den 1970er Jahren fasste Kenneth McGraw von der University of Mississippi die Ergebnisse der bis zu diesem Zeitpunkt durchgeführten Motivationsstudien zusammen und kam zu dem überraschenden Ergebnis, dass finanzielle "Anreize" zur Leistungsminderung führen können – vor allem wenn die Leistung komplex ist und/oder schöpferischen Aufwand erfordert.

So kamen beispielsweise Testpersonen, die einen elektrischen Schaltkreis herstellen sollten, den sie nur mittels eines Schraubenziehers herstellen konnten, weil die ihnen zur Verfügung gestellten Drähte zu kurz waren, deutlich schneller zum Ziel, wenn ihnen vorher keine Belohnung versprochen wurde.2 Finanzielle Anreize verringerten die Risikobereitschaft und damit auch ungewöhnliche, neue Ansätze. "Extrinsische" Motivation verschlechterte die Ergebnisse bei "heuristischen" – also kreativen – Aufgaben und steigerte die Ergebnisse lediglich bei "algorithmischen" Aufgaben, für die es bereits bekannte Lösungswege gab.3

Es gibt, wie die Harvard-Psychologin Teresa Amabile später herausfand, allerdings noch eine Ausnahme von der Ausnahme: Wenn die finanzielle Belohnung die Durchführung der kreativen Aufgabe erst möglich macht, fördert sie ein besseres Gesamtergebnis. Darüber hinausgehende Belohnungsanreize verschlechtern das Ergebnis jedoch wieder.4 Eine adäquate politische Umsetzung dieser Ergebnisse wäre also beispielsweise eine Künstlergrundsicherung, nicht aber ein System, das sehr wenigen Menschen sehr hohe "Belohnungen" bietet, der großen Masse aber zu wenig für ein Grundauskommen.