"Bettler und Obdachlose wurden wieder zu einem gewohnten Bild in den städtischen Zentren"

Seite 3: Schikanen der Job-Center

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Warum?

Werner Seppmann: Die Opfer werden nicht selten wie Bittsteller behandelt. Immer wieder berichten die Betroffenen davon, wie sie von der Sozialverwaltung schikaniert werden. Jährlich werden mittlerweile in mehr als einer Millionen Fällen aus geringstem Anlass die Unterstützungszahlungen gekürzt. Die Demütigung hat System und kulminiert in dem Zwang, sich auf der Suche nach Beschäftigung begeben zu müssen, die es in nicht wenigen Segmenten der Arbeitswelt überhaupt nicht mehr gibt.

Die Arbeitsagenturen, die zwar bei der Vermittlung von auskömmlicher Beschäftigung meist wenig zu bieten haben, laufen zur Hochform auf, wenn es darum geht, Arbeitslosengeldempfänger in ruinös bezahlte Arbeitskontrakte zu pressen: Die Sozialbürokratie wird zur Organisationsinstanz des Wechselspiels von Integration und Ausgrenzung, Selektion und Repression.

Die erzwungene Bereitschaft Zugeständnisse hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und der Entlohnung zu machen, lässt die Betroffenen in eine Abwärtsspirale geraten, die darin besteht, dass sie von Stufe zu Stufe schlechter bezahlt werden, zunehmend ungünstigere Arbeitsbedingungen und immer kürzere Beschäftigungsphasen in Kauf nehmen müssen. Denn selten sind die Beschäftigungsverhältnisse in den prekären Bereichen von Dauer. Folglich werden die Arbeitslosen immer wieder auf die Bahn geschickt - mit dem Ergebnis, dass sie von Runde zu Runde weiter zurückfallen und ihre Situation immer aussichtsloser wird.

"Es sind zivilisatorische Verfallsprozesse billigend in Kauf genommen worden"

Was sind die Folgen für die Menschen?

Werner Seppmann: Wer in den Armutszonen lebt, braucht in Deutschland (noch) nicht Hunger leiden. Jedenfalls nicht in den ersten beiden Dritteln des Monat, also so lange, wie die Hilfe zum Lebensunterhalt einigermaßen reicht. Man lebt wie es in einem geflügelten Wort der englischen Arbeiterklasse aus der Mitte des 19. Jahrhunderts heißt, "halbsatt von Kartoffeln schlechtester Sorte für dreißig Wochen im Jahr".

Aber gravierender als die materielle Enge ist, dass die Bedürftigkeit einen demütigenden Charakter und psychisch destabilisierende Folgen hat. Die Mensch fühlen sich sozial ausgeschlossen und gesellschaftlich nutzlos. Zufall ist es nicht, dass, wie aktuelle Untersuchungen zeigen, ein Drittel der Hartz-IV-Empfänger unter psychischen Krankheiten leiden.

Bei den ausbeutungszentrierten Umgestaltungen, die mit neoliberalistischen Elan voran getrieben wurden sind auch zivilisatorische Rückbildungs- und Verfallsprozesse billigend in Kauf genommen worden. Denn Armut und Bedürftigkeit - um nur einen Aspekt zu nennen - sind nicht selten mit Formen geistiger und emotionaler Verarmung verbunden.

Vor allem für die wachsende Zahl von Kindern, die - wie man es nennt - in "sozial schwachen Familien" aufwachsen, hinterlässt die alltäglich erfahrene Resignation tiefe Spuren.

"Absterbende Neugier auf die Welt jenseits ihres unmittelbaren Lebensraumes"

Wie wirkt sich denn Armut und Bedürftigkeit auf junge Menschen konkret aus?

Werner Seppmann: Man kann es mit einem Wort sagen: Desaströs. Sie bleiben in ihrer geistigen, emotionalen und körperlichen Entwicklung zurück. Fein- und Grobmotorik, Sprachfähigkeit und alltägliches Orientierungswissen weisen beträchtliche Defizite auf.

Durch die Lethargie ihres sozialen Umfelds negativ beeinflusst, ist der Wahrnehmungsraum der in bescheidenen Verhältnissen aufwachsenden Kinder und Jugendlicher auf die wenigen Straßen und Häuser der unmittelbaren Nachbarschaft beschränkt: Der Rückzug arbeitsloser Erwachsene auf ihre Wohnung als letzten Schutzraum, findet bei den in Armut aufwachsenden jungen Menschen seine Entsprechung in geografischer Immobilität und einer absterbenden Neugier auf die Welt jenseits ihres unmittelbaren Lebensraumes.

Wer in seiner Kindheit Phasen der Armut erlebt hat, ist auch in seinen späteren Lebensjahren öfter und intensiver krank als Menschen, die in gesicherten Verhältnissen aufgewachsen sind. Ebenso fallen von familiärer Armut geprägte Kinder in der Schule durch Konzentrationsschwierigkeiten und Lernschwächen auf.

Die Konsequenzen der Kinderarmut sind nicht die einzigen Beispiele dafür, dass mit den sozialpolitischen Umgestaltungen auch zivilisatorische Verfallsprozesse billigend in kauf genommen werden. Prinzipiell haben die neoliberalistischen Aktivitäten den Charakter eines Kulturkampfes angenommen: Die Stadtteilbibliotheken und wohngebietsnahen Schwimmbäder werden geschlossen, die Schulen für die breite Masse verfallen und für Migrantenkinder stehen keine qualifizierten Sprachlehrer zur Verfügung.

Selbst durch die Hilfssätze für die Kinder in den sozialen Notstandszonen wird dokumentiert, das für sie eine höhere Bildung und kulturelle Partizipation nicht vorgesehen ist: Ihnen wird deutlich zu verstehen gegeben, dass sie zu denen gehören, die auch später keine Chance haben werden. Die Daten über die sozialen Selektionswirkungen des bundesdeutschen Bildungssystem belegen das in einer unmissverständlichen Weise.

In Teil 2 des Interviews äußert sich Werner Seppmann zu den Auswirkungen von Hartz IV auf den Arbeitsmarkt, die ökonomischen Folgen die EU und die Steuererleichterungen für Unternehmen, Reiche und Banken

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