Bevor der Blitz zuschlägt
Das bisher Unbewiesene ist zur Gewissheit geworden: Blitze erzeugen Röntgen- und Gammastrahlen
Immer noch ein prickelndes Gefühl für die Kinder, wenn ringsherum lange Feuerzungen zuschlagen, dem Innenraum aber, allein durch Stäbe abgeteilt, nichts anhaben. Dass der Faraday-Käfig bloß ein Körnchen Wahrheit ist, wissen viele Piloten und umfliegen Gewitter lieber, anstatt den kurzen Weg mitten durch zu wählen. Diese Entscheidung erhält durch den Bericht von J.R.Dwyer und seiner Arbeitsgruppe in Science neuen Druck.
"Die Vermutung von C.T.R. Wilson aus dem Jahr 1925, wonach Gewitter natürlicherweise Röntgenstrahlen entstehen lassen, ist messbare Wahrheit. Wir haben nur etwas nachgeholfen," so Joseph R. Dwyer.
Die Untersuchungen konnten nur in Florida gelingen. Hier gibt es viele Gewitter, und es braucht die Gewitterstimmung, um einen durch Raketen künstlich induzierten Blitzschlag zu analysieren. So erzeugten die Physiker an drei gewitterschwangeren Tagen die für die Ergebnisse beweisenden Ereignisse. Ihre Überlegungen folgen der Erkenntnis, dass der Ablauf eines Blitzes zweiphasig ist: zunächst entstehen ionisierte Kanäle zwischen der Wolke und dem Boden. Die zweite Phase, die den Schlag erzeugt, ist gegenläufig und entlädt die Spannung über die zuvor gebildeten Kanäle. Die hochenergetische Strahlung erreicht zumeist über 1 MeV, mitunter sogar mehr als 10 MeV und tritt in der rasch verlaufenden ersten Phase auf, bevor der Blitz überhaupt mit dem menschlichen Auge wahrgenommen wird.
Die Analysen der Messkurven lassen die Forscher vermuten, dass ein Zusammenbruch von Luftmassen notwendig ist, um Blitze oder andere atmosphärische Entladungen auszulösen. Röntgen- und ebenso Gammastrahlen entstehen durch das mächtige elektrische Feld in der ersten Phase des Blitzgeschehens. Noch ungeklärt ist, ob für den Effekt allein die Bremsstrahlung verantwortlich ist, oder das Herausschlagen eines Elektrons wie bei der K-Schalen-Emission.
Der Arbeitsturm am Boden ist nur eine von mehreren notwendigen Messstationen. Die Erkenntnis, dass Gewitter, die wir auf der Erde erleben, nicht in den Wolken enden, ist noch nicht alt. 1989 wurden zufällig die später als "red sprites" bezeichneten Phänomene beobachtet, nämlich schwache, aber leuchtende blitzende Spots, die häufig in Gruppen auftreten und mit Ausläufern versehen sind. Wie die Space-Shuttle-Mission (Mesoscale Lightning Experiment) und weitere systematische Untersuchungen zeigen, erglühen diese Lichter für weniger als 10 Millisekunden. Sie beginnen oberhalb der Gewitterwolke und reichen bis in eine Höhe von 90 km, wobei die kräftigste, meist rote Tönung in 65-75 km Höhe liegt. Nicht nur am Boden, wie jetzt bewiesen, sondern hoch bis zur Thermosphäre werden über den Gewittern Gammastrahlen gemessen. Die bisherigen Theorie begründet diesen Effekt über die Beschleunigung von Elektronen, die vom elektrischen Feld des Gewitters angezogen werden und bei der Kollision mit atmosphärischen Partikeln über die Bremsstrahlung hochenergetische Wellen erzeugen.
Das erfolgreiche Experiment aus Florida bringt deshalb Einsichten in Vorgänge, die auf der Erde bisher unter dem unscharfen Begriff Atmosphäre laufen. Astronomen werden hellhörig werden, weil die Bewertung der Gammastrahlen im Weltall noch von manchen mythischen Spekulationen unterhalten wird. Vom Gewitter zum Mars? "Phänomene, die wir unter irdischen Bedingungen analysieren und nachstellen können, verlassen den Dunstkreis des Ungewissen," erklärt P. Krider vom Institute of Atmospheric Physics in Tuscon Arizona, der den Beitrag von J.R.Dwyer und Kollegen in Science besonders würdigt.