Bibliothek der Zukunft
Zum Vortrag von Kevin Kelly
4000 Generationen zählt die Kulturgeschichte der Menschheit. Doch kein Projekt ist bekannt, das auch nur 100 Generationen verbunden hätte. Dabei plagt die Sehnsucht nach Dauer die Menschen durchaus. Jede Stunde wird, statistisch gesehen, in den USA eine Zeitkapsel vergraben. Die Herstellung der Hülsen allein ist eine Millionenindustrie. Doch 95 Prozent all der Zeugnisse, die in der Zukunft unsere Gegenwart dokumentieren sollen, gehen bereits innerhalb der ersten Dekade dem Bewußtsein der Zeigenossen verloren.
Die Beispiele gelungener Jahrhundert- oder gar Jahrtausendprojekte lassen sich an den Fingern abzählen. An europäischen Kathedralen arbeiteten die Bewohner einiger Städte über ein paar Jahrhunderte hinweg, an gewissen asiatischen Bewässerungsanlagen bauten Dorfgemeinden fast 1000 Jahre.
Wie aber könnten heute Projekte aussehen, fragt Kevin Kelly, die sich über Generationen hinweg erstrecken und damit in der Sphäre der Kultur einen "biologischen Zeithorizont" eröffnen?
Er nennt Beispiele passiver Anstrengungen, mit der Zukunft zu kommunizieren. Da ist zum Beispiel die Mutter aller Zeitkapseln: Jener Raum unter einer US-Universität, angefüllt mit Gegenständen des täglichen Gebrauchs, der 1948 versiegelt wurde, um in 8000 Jahren wieder eröffnet zu werden. Damit das Wissen über ihn nicht verlorengeht, wurden Bücher gedruckt und an alle Bibliotheken der Welt verteilt, von Oxford bis Kathmandu. Die Bände geben die Lage des Zukunftsschreins in Längen und Breitengraden an; dazu eine Gebrauchsanweisung, wie man Längen- und Breitengrade errechnet; plus einen Schnellkurs in Englisch. Denn welche Sprache, die vor 8000 Jahren gesprochen wurde, ist noch heute lebendig?
Wozu aber soll das gut sein? fragt das Publikum.
Als Korrektiv zur Kurzatmigkeit unserer Zeit, im Grunde aller menschlichen Zeit, meint Kelly: "Wir brauchen einen Mythos, ein verantwortliches Projekt, der uns kurzlebige Wesen mit den Generationen nach uns verbindet."
Kelly hat deshalb mit Stewart Brand und Brian Eno die Longnow-Foundation begründet. Er nennt Langzeit-Aufgaben, die sich aktiver der Zukunft zuwenden: ein Archiv, das das Internet Tag für Tag bewahrt, ein Verzeichnis aller lebenden Spezies, ein Stammbaum der gesamten Menschheit. Und das Projekt, das man zuerst in Angriff nehmen will: eine Zehntausendjahresuhr, die einmal im Jahr tickt und alle 100 Jahre schlägt, und dazu eine Bibliothek für diese "tiefe Zukunft".
Das Publikum ist alles andere als überzeugt. Man sehe wenig Sinn darin, der Zukunft Signale zu senden, meint Alt-Extropianer Keith Henson. Schließlich habe man vor, höchstpersönlich dort aufzutauchen - etwa bei der Far Edge Party der Infomorphe am äußersten Ende des Universums. "Ich gedenke dort in rund einer Milliarde Kopien zu erscheinen", sagt Henson. Kevin Kelly lächelt und nickt, wie er auch seiner vorschulpflichtigen Tochter, die ihn begleitet, zulächelt und nickt.
"Es gibt zuviel Pessimismus in der Welt", sagt er später, als wir uns für ein paar Minuten aus dem Hotelbunker ins Freie, in die kalifornische Sonne, flüchten. "Die radikalen extropianischen Ideen weisen uns den Weg zu den äußersten Grenzen des menschlichen Optimismus. Wenn ich auch nicht mit allem übereinstimme, was hier erzählt wird - hätten wir die Extropianer nicht, wir müßten sie erfinden. In unser aller Interesse."
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