Bidens Kehrwende: Rückkehr des "ideellen Gesamtkapitalisten"?

Seite 2: Merkel unter Druck, Deutschland als pandemiepolitischer "Schurkenstaat"

Katherine Tai, verantwortlich für Handelsfragen in der Biden-Regierung, erklärte am vergangenen Mittwoch, dass ihre Administration zwar weiter "von einem starken Schutz geistigen Eigentums" überzeugt sei, doch befinde sich die Welt aufgrund der Pandemie in "außergewöhnlichen Umständen", sodass eine Aussetzung der Patente notwendig sei, um die Pandemie rasch zu beenden.

Die zeitweilige Aufhebung des Patentschutzes für Covid-19-Impfstoffe würde Unternehmen weltweit in die Lage versetzen, die Impfstoffe ohne Lizenzgebühren herzustellen, was zu einer Auslastung der globalen Produktionskapazitäten und einer massiven Ausweitung der Impfstoffherstellung, sowie letztendlich zu einer radikalen Beschleunigung der Impfkampagne führen würde.

Indes ist die Entscheidung der Biden-Regierung, den Patentschutz für Corona-Vakzine auszusetzen (und die pandemiebedingten Extraprofite der US-Pharmabranche zu gefährden), nicht durch Moral oder Vernunft, sondern durch objektive Interessen motiviert. Mit dieser überraschenden Entscheidung untermauere Washington seinen Anspruch auf eine globale Führungsrolle und eine hegemoniale Stellung innerhalb des westlichen Bündnissystems, erläuterten US-Medien kurz nach deren Bekanntgabe, womit das Weiße Haus mit dem Nationalismus und Isolationismus der Trump-Administration brechen würde.

Es sei eine "Entscheidung über Amerikas globale Führung" gewesen, erklärte etwa USA-Today. Bei Spiegel-Online, dem größten deutschen Nachrichtenportal. hieß es gar, die USA meldeten sich "als Führungsmacht im Kampf für das Gute in der Welt zurück".

Mit dieser Weichenstellung gewinnen die Vereinigten Staaten somit einerseits Sympathien in der Peripherie des Weltsystems, während zugleich westliche Konkurrenten im Hegemonialkampf - insbesondere Deutschland - unter Druck gesetzt werden. In Berlin, wo diese Kehrtwende Washingtons auf Widerstand stößt, sah sich die Bundesregierung zu einer öffentlichen Stellungnahme genötigt, in der die von Washington intendierte Aufhebung des Patentschutzes kritisiert wurde, da sie zu "schweren Komplikationen" führte.

Damit rückt Berlin in die Rolle des pandemiepolitischen "Schurkenstaates", der aus schnöden Profitinteresse die Pandemiebekämpfung sabotiert, während die Vereinigten Staaten sich am globalen Gemeinwohl zu orientieren scheinen. Der Unterschied könnte kaum größer Ausfallen: Während Biden sich mit seiner Pharmabranche anlegt, telefoniert Angela Merkel zuerst mit Pharmabossen, um das weitere Vorgehen angesichts des US-Vorstoßes zu koordinieren.

Das Staatsinteresse hinter Bidens Manöver

Doch ist die pandemiepolitische Kehrtwende Washingtons auf mehr als einen bloßen Public-Relations-Coup zurückzuführen, der die abermaligen globalen Führungsambitionen der USA untermauern soll. Es geht dem Weißen Haus auch um das Staatsinteresse, wie es von Karl Marx und Friedrich Engels mit dem Begriff des "ideellen Gesamtkapitalisten" klar definiert wurde.

Der Staat ist demnach nicht einfach nur ausführendes Organ partieller Profitinteressen von Wirtschaftsverbänden oder Großkonzernen, sondern agiert als ein eigenständiger Machtfaktor, der die Stabilität des gesamten kapitalistischen Systems gewährleisten soll, das aufgrund seiner widersprüchlichen Verwertungsdynamik tendenziell instabil ist.

Dies betrifft nicht nur seine Repressionsfunktion gegenüber echten oppositionellen Bewegungen. Der Staat agiert auch "strategisch" als eine notwendige Regulationstitution gegenüber dem kapitalistischen Markt, dessen Subjekte kein anderes Interesse kennen als das der größtmöglichen Kapitalverwertung.

Hierbei kann der Staat auch ausdrücklich gegen die Interessen einzelner Kapitalgruppen oder Wirtschaftslobbys vorgehen, sobald diese das Fortbestehen des Gesamtsystems gefährden - der muss als "ideeller Gesamtkapitalist" das Gesamtinteresse des Systems im Auge haben, da selbst die mächtigsten Kapitalisten hierzu nicht in der Lage sind.

Diese Konstellation ist gerade im Fall der Impfstoff-Patente gegeben, da die unkontrollierte Weiterverbreitung und Mutanten aufgrund der horrenden, in die Billionen gehenden Kosten der Lockdowns von den politischen Funktionseliten um jeden Preis verhindert werden muss - selbst wenn es die Extraprofite der Pharmabranche sind, die ohnehin wahrscheinlich partielle Ausgleichszahlungen rausschlagen wird.

Die Pandemie ist auch in den Zentren des Weltsystems nicht überwunden, solange sie nicht überall überwunden wird, da Mutanten aus der Peripherie, die eventuell Resistenzen ausbilden, auch die "Wirtschaft", sprich den mühsam wieder in Gang gesetzten Verwertungsprozess in den Zentren abermals gefährden. Das Vorgehen der Biden-Regierung hat somit nichts mit "Moral" und wenig mit "Public Relations" zu tun. Es ist hauptsächlich von dem Versuch getragen, ein krisengebeuteltes und zunehmend instabiles spätkapitalistischen Weltsystem durch eine staatliche Intervention zu stabilisieren.

Der frisch ins Weiße Haus eingezogene "ideelle Gesamtkapitalist" formuliert ein kapitalistisches Gesamtinteresse, dass er gegen Partikularinteressen der Pharmabranche durchsetzt - selbst wenn ein Bill Gates, von Deutschlands "Querdenkern" und rechten Verschwörungsideologen als Kopf einer "Impverschwörung" halluziniert, sich gegen die Patentaussetzung ausspricht.

Wohin das blinde Ausführen von Weisungen der Wirtschaft durch Politikeliten führt, wird übrigens am Beispiel der deutschen Autoindustrie evident, die Berlin jahrelang dazu brachte, aufgrund kurzfristiger Profitinteressen die europaweite Anhebung von CO2-Grenzwerten zu torpedieren - fossile Verbrennungsmotoren "Made in Germany" sind extrem profitabel. Da Merkel in dieser Frage als politischer Arme der Autoindustrie agierte, fehlte den deutschen Autokonzernen der notwendige Innovationsdruck, sodass sie bei alternativen Antriebsarten ins Hintertreffen gerieten.

Die Rolle des Staates als "ideeller Gesamtkapitalist" ist in den vergangenen neoliberalen Dekaden tatsächlich in Vergessenheit geraten, da er krisenbedingt im zunehmenden Ausmaß bloß als Beute mächtiger Lobbys und Kapitalfraktionen diente und eben diese "Stabilisierungsfunktion" kaum in ausreichenden Maß wahrnehmen konnte.

Biden versucht gewissermaßen, zur kapitalistischen "Normalität" zurückzukehren, wie sie vor der Stagflationsperiode der 1970er und dem Durchmarsch des Neoliberalismus in den 1980ern herrschte - ein Unterfangen, dass angesichts der extremen Verschuldung und Gelddruckerei Washingtons selber auf einem äußerst instabilen Fundament fußt.