Bildung eines antiwestlichen Blocks

Seite 2: Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen

Die Wahrnehmung dieses Epochenbruchs und dessen Konsequenzen für Europa und Deutschland scheint bei den westlichen Eliten in Politik und Medien noch nicht in notwendiger Qualität anzukommen. In der Wirtschaft hingegen spürt man bereits die Konsequenzen, traut sich aber derweil nicht, die herrschende Politik in den gegenwärtigen weltpolitischen Stürmen zu kritisieren.

Leider, denn es wäre wichtig, dass gerade die Wirtschaft, der es zunehmend ebenso wie den Mittel- und prekären Schichten finanziell an den Kragen geht, den Daumen gegen diese Politik senkt.

In der deutschen Öffentlichkeit gibt es überhaupt erst seit jüngstem eine, aber noch sehr zaghafte Debatte über die Veränderung der Weltpolitik.

So debattierte der Philosoph Richard David Precht am 26. März im ZDF und damit vor einer breiten Öffentlichkeit mit dem indisch-stämmigen Schriftsteller Pankaj Mishra unter dem Titel "Die multipolare Welt – Neue Rollen, neue Konflikte".

Mishra ist nicht nur ein ausgewiesener Kenner der Geopolitik, sondern betrachtet eben die weltpolitischen Veränderungen auch aus der Perspektive des Globalen Südens. Diese rund 45-minütige Sendung ist hochinteressant und sehr kurzweilig. Es ist zu hoffen, dass deutsche Politikentscheider sich das Gespräch anschauen und den Inhalt ohne ideologische Scheuklappen verstehen.

Ein wenig überraschend publizierte auch der ThinkTank European Council on Foreign Affairs ("ECFR") im Februar 2023 einen von der europäischen Öffentlichkeit unbeachteten Policy Brief, der es in sich hat. Es handelt sich um eine Umfragestudie mit dem vielsagenden Titel: "United West, divided from the Rest (…)".

Die Kernaussagen der Studie lauten: Der Westen sei angesichts des russisch-ukrainischen Krieges zwar enger zusammengerückt, jedoch verwandle sich die Welt in eine post-westliche, genauer in eine multipolare Welt. Das Selbstbewusstsein der nicht-westlichen Staaten wachse. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine erweise sich als Wendepunkt in der Weltgeschichte. Dieser Krieg katalysiert den seit über einem Jahrzehnt zu beobachtenden Prozess des Epochenbruchs in der Weltpolitik.

Und ob der gewachsene Zusammenhalt des Westens von Dauer sein wird, daran hat wiederum der von Richard David Precht eingeladene geopolitische Experte Pankaj Mishra erhebliche Zweifel.

Festzustellen bleibt, dass die doch sehr langsam aufkommende und noch auf harten Widerstand stoßende Debatte um das Ende der westlichen Globalhegemonie und der sich in rasender Geschwindigkeit etablierenden multipolaren Welt(un)ordnung in der deutschen Politik noch nicht in einer Qualität angekommen ist, als dass diese die Grundlage notwendiger politischer Kurskorrekturen hin zu einer multivektoralen Außen- und Außenwirtschaftspolitik zum Nutzen der Menschen und der Wirtschaft Europas und Deutschlands darstellen könnte.

Noch viel weniger ist sie bei den politisierenden, die Politik treibenden Journalisten angekommen, die sich in dem verantwortungslosen Gesinnungsrausch baden. Wir beobachten mithin eine erstaunliche und gefährliche Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, der von Wirklichkeit und Wirklichkeitswahrnehmung in Politik und Medien.

Die in Berlin neu gegründete Eurasien-Gesellschaft wiederum setzt sich zum Ziel, genau solche Debatten zu ermöglichen, zu befördern und künftig eigene wissenschaftliche Expertisen bereitzustellen, um einen bescheidenen Beitrag zum Verständnis der neuen Weltordnung zu leisten.

Dr. Alexander S. Neu, Jahrgang 1969, ist promovierter Politikwissenschaftler. Praktische politische Erfahrungen sammelte er als Mitarbeiter der OSZE im ehemaligen Jugoslawien. Von 2013 bis 2021 Mitglied der Bundestagsfraktion der Linken und deren Obmann im Verteidigungsausschuss sowie stellvertretendes Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. Zuvor war er acht Jahre Referent für Sicherheitspolitik der Fraktion.