Bildung und Krise: Eine Schule für das Leben

Seite 2: Jugendliche interessieren sich für schwierige Fragen

Es verwundert nicht, dass Schulfächer wie Psychologie oder Philosophie in einem solchen Weltbild eine sehr marginale Existenzberechtigung haben. Problematisch ist es trotzdem. Und weil er diesen Missstand als so absurd empfand, gründete der Bestseller-Autor und Philosoph Alain de Botton 2008 kurzerhand sein eigenes Bildungsprogramm für Erwachsene.

Es heißt passenderweise "School of Life" und bietet neben einführenden Erklärvideos auf Youtube auch Seminare, Bücher und Fortbildungen. De Botton nennt das Konzept dahinter "emotionale Bildung" – eine fahrlässige Lücke unseres Bildungsystems.

Dass diese Lücke tatsächlich besteht, beweist der Erfolg des Unternehmens: Der Youtube-Kanal von "School of Life" zählt aktuell über 6.5 Millionen Abonnenten.

Als angehender Lehrer für Deutsch und Geschichte finde ich es schade, dass die Vermittlung von philosophischem und psychologischem Grundwissen privaten Initiativen überlassen wird. Was spricht dagegen, dass bereits der Schulunterricht uns mit diesen Kompetenzen ausstattet?

Und weil es realistischerweise auch ein ökonomisches Argument braucht, um ein Anliegen politisch attraktiv zu machen: Wie viel Geld würden der Staat und die Arbeitgeber einsparen, wenn die Menschen bewusster und konstruktiver mit ihren Gefühlslagen und Lebenskrisen umgehen könnten? Wie viele Burnouts, Zusammenbrüche und kostspielige Psychiatrie-Aufenthalte ließen sich dadurch vermeiden? Nur ein großer Player würde verlieren: Pharma.

Nun denken Sie vielleicht, Jugendliche haben für solche Dinge doch gar keinen Kopf. Das sind unangenehme Themen, was interessieren die einen 17-jährigen Pubertierenden? Woher diese Vorstellung von Jugend kommt, weiß ich nicht, aber ich kann gestehen, dass ich genau denselben Zweifel hatte, als ich im Jahr 2016 als 22-jähriger Vertretungslehrer fürs Fach Philosophie drei Unterrichtsstunden zum Thema "Depression" vorbereitete.

Es war erst ein halbes Jahrzehnt her, dass ich selbst ein Gymnasiast war, unglücklich verliebt, metaphysisch obdachlos und am Sinn des eigenen Daseins verzweifelnd. In diesem Alter hatte ich nach philosophischen Erklärungsversuchen, alternativen Lebensmodellen und düsteren Ich-Romanen regelrecht gehungert.

Und doch konnte ich mir jetzt kaum vorstellen, dass diese zwanzig Jugendlichen, die mich zum Stundenbeginn gelangweilt bis erwartungsvoll anstarrten, sich für so unheitere Themen wie Depression begeistern würden. Trotzdem, dieser Exkurs war wichtig, auch wenn er nicht im Lehrplan stand.

Obwohl es nicht zu hoffen war, konnte das Thema für den einen oder andern ja noch relevant werden. Wir befassten uns mit einem Film über den US-amerikanischen Schriftsteller David Foster Wallace, der sich 2008 das Leben nahm. Anschließend ging es um mögliche Ursachen für Depression, verzerrte Wahrnehmungen, unsere Macht über eigene Einstellungen, traumatische Kindheitserfahrungen, psychoanalytische Grundlagen.

Ich habe während meiner acht Monate als Philosophie-Lehrer selten eine ungeteilte Aufmerksamkeit und ein Engagement erlebt, wie in diesen drei Stunden. Am Ende der letzten Stunde kommen mehrere Schüler zum Pult, um weitere Fragen zu stellen. Einer meint, er hätte soeben die interessantesten und wichtigsten Stunden seiner Schulkarriere erlebt. Andere fragen, ob wir nicht ein paar weitere Stunden demselben Thema widmen können.

Zur Sicherheit werfe ich einen Blick in den Lehrplan und stelle fest, dass bis zum Jahresende noch viel Pflichtstoff ansteht – von Luther zu den deutschen Idealisten – und als gewissenhafte Lehrperson muss ich antworten: "Das geht leider nicht mehr, nächste Woche ist Hegel dran."

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