Bildungsministerium will den Euromaidan als neuesten Nationalmythos etablieren

Fussnoten

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Jaroslav Hrycak: Wie soll man nach 1991 die Geschichte der Ukraine unterrichten? S. 18; in: Geschichtsdidaktik in der GUS / History Didactic in the CIS. Internationale Schulbuchforschung, Jhg. 23, Heft 1 (2001). Darüber hinaus gibt es auch noch starke regionale Geschichtstraditionen in der Ukraine.

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Die Autoren präzisieren das Zitat wie folgt: "Wer die Ukraine in der Vergangenheit als integralen Bestandteil des zaristischen Russlands und der Sowjetunion verstand, sieht den zukünftigen Platz des Landes an der Seite Russlands. Wer hingegen die Vereinigung der Ukraine mit dem östlichen Nachbarn als illegitim empfand, plädiert heute eher für eine Annäherung an West- und Mitteleuropa." Rainer Münz, Rainer Ohliger: "Die Ukraine nach der Unabhängigkeit: Nationsbildung zwischen Ost und West", Seite 33 (Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien, Köln, 1999).

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Die neue Staatsführung hat dazu einige Feiertage umgedeutet oder neu eingeführt. Zur weiteren Informationen ist ein Text in den "Ukraine-Analysen" Nr. 149 (S. 17 bis 21) hilfreich: "Die Geschichtspolitik der Ukraine seit dem Machtwechsel im Frühjahr 2014".

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Juschtschenko stellte etwa die noch lebenden Angehörigen der Ukrainischen Aufständische Armee (UPA) mit den Veteranen der Roten Armee gleich, um ihnen bestimmte Sozialleistungen zu ermöglichen. Er ernannte Stepan Bandera und andere OUN-Führer offiziell zu "Helden der Ukraine". Zudem ließ Juschtschenko den Holodomor als Genozid am ukrainischen Volk verurteilen und gründete ein Institut des Nationalen Gedenkens, um dies alles "wissenschaftlich" zu unterfüttern.

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Jaroslav Hrycak: Wie soll man nach 1991 die Geschichte der Ukraine unterrichten? S. 18; in: Geschichtsdidaktik in der GUS / History Didactic in the CIS. Internationale Schulbuchforschung, Jhg. 23, Heft 1 (2001).

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In Deutschland hatten solche Mythen im 19. und frühen 20. Jahrhundert geradezu Hochkonjunktur. Man denke etwa an die nationalistische Instrumentalisierung der "Schlacht im Teutoburger Wald". Im 19. Jahrhundert wurde dieser antike Sieg der Germanen über drei römische Legionen quasi zum Ausgangspunkt der deutschen Geschichte gemacht. Der Cheruskerfürst Arminius wurde so zum ersten historisch fassbaren Deutschen und gerade vor 1871 zum Vorbild für militärische Anführer. Denn er einte die zerstrittenen Germanen und führte sie zum Sieg. Im 20. Jahrhundert waren die "Dolchstoßlegende" oder der Mythos von der sauberen Wehrmacht, die sich nicht am Holocaust beteiligt habe, lange wirksam und wurden politisch benutzt. Selbst heute werden in Geschichtsunterricht oder Medien hierzulande nützliche deutsche Mythen weiterverbreitet - etwa von den "Goldenen 20er Jahren" oder vom "Wirtschaftswunder".

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Der Zweite Weltkrieg ist in Russland total durchmythologisiert, erklärt Robert Maier. Stalins Verbrechen oder sowjetische Kollaborateure kommen im Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg jedoch nicht vor.

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Die OUN spaltete sich 1940 in eine von Stepan Bandera angeführte Fraktion (OUN-B), die als radikal galt, und eine von Andrij Melnik geführte OUN-M, die eher konservativ ausgerichtet war.

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Dass die OUN mit Hilfe der Nazis einen unabhängigen ukrainischen Staat - und zwar einen rassisch reinen Führerstaat - errichten wollte, ist jedoch nicht Teil des Heldenmythos. Genauso wenig wie die Tatsachen, dass die OUN sich bereits 1939 mit "Hilfswilligen" am Polenfeldzug der Wehrmacht beteiligte, dass sie zur deutschen Invasion der UdSSR 1941 zwei ukrainische Wehrmachtsbataillone beisteuerte und sich an der Judenvernichtung mitschuldig machte. Selbst nachdem Bandera von der SS verhaftet und im KZ Sachsenhausen inhaftiert wurde, führte die OUN die Zusammenarbeit mit den Nazis fort, wie die Historikerin Kerstin Jobst schreibt. (Kerstin S. Jobst: Geschichte der Ukraine. Stuttgart, 2010, Seite 198) Mit Unterstützung der OUN-Fraktion von Andrij Melnik rekrutierte die SS 1943 sogar mehr als 80.000 Freiwillige für die SS-Division "Galizien". Gegen die sowjetischen Partisanenverbände entfachte die OUN zudem eine rassistische und antijüdische Propaganda. (Roman Danyluk: Freiheit und Gerechtigkeit. Die Geschichte der Ukraine aus libertärer Sicht. Lich, 2010, Seite 142) In der anti-sowjetischen Exilgemeinde der Ukrainer, die im Kalten Krieg durch die USA unterstützt wurde, wurde die Kollaboration mit den deutschen Nazis im Krieg rundweg geleugnet.

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Dies geschah etwa wenn die Deutschen Lebensmittel requirieren oder Menschen zur Zwangsarbeit verschleppen wollten. Häufig hätten sie sich aber auch für Aktionen gegen sowjetische Partisanen mit den Deutschen abgesprochen und wurden im März 1944 von den Nazis sogar mit Waffen beliefert. (siehe Danyluk: 146).

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Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine. München, 2000. (Seite 222)

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Kerstin Jobst: Geschichte der Ukraine, S. 202; Roman Danyluk: Freiheit und Gerechtigkeit, S. 146; Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine, S. 222 f.

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Rainer Münz und Rainer Ohliger: Die Ukraine nach der Unabhängigkeit: Nationsbildung zwischen Ost und West (S. 26, Tabelle 5 + weitere Tabellen auf den folgenden Seiten) Die Untersuchungsergebnisse basieren auf einer repräsentativen sozialwissenschaftlichen Befragung von 1200 Ukrainern im Jahr 1997 zu ihren politischen Präferenzen, Zukunftswünschen, Regional- bzw. Nationalbewusstsein dem kollektiven historischen Gedächtnis.

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Im April verabschiedete die Rada ein "Gesetz über den rechtlichen Status und die Würdigung des Andenkens an die Kämpfer für die Unabhängigkeit der Ukraine im 20. Jahrhundert". In einem Offenen Brief hatten zahlreiche namhafte Wissenschaftler das Gesetzesvorhaben im Vorfeld kritisiert. Es widerspreche dem Grundrecht der Meinungsfreiheit und wasche mit der OUN eine der extremsten Gruppen in der Westukraine rein, die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs mit den Nazis zusammengearbeitet hat. Trotzdem unterschrieb Präsident Poroschenko das Gesetz im Mai. Für ausländische Wissenschaftler soll aber ein noch zu erarbeitendes Zusatzgesetz gelten, das diesen wohl erlaubt, eine kritischere Sicht auf OUN und UPA zu äußern.

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Im Lehrbuch "Geschichte der Ukraine" von Fedir G. Turtschenko für die 11. Klasse steht so auch der UPA-Kampf gegen die Deutschen im Vordergrund. Zu den sowjetischen Partisanen habe die UPA versucht, Kontakt aufzunehmen, konnte sie zum gemeinsamen Kampf für eine von Moskau unabhängige Ukraine jedoch nicht gewinnen, ist in dem Buch zu lesen. Zeitweise habe die UPA die anti-faschistischen Partisanen erfolgreich aus der Region Podolien "verdrängt". Zu den polnischen Partisanen sei das Verhältnis "tragisch" gewesen, wie in Teil 1 des Artikels bereits zu lesen ist. Zur "politischen Evolution" der OUN ist im Lehrbuch ihr letztlich erfolgloser Versuch beschrieben, sich bei der Bevölkerung der Zentral- und Ostukraine mit liberalen Bodenversprechungen politisch zu etablieren. Zur Kollaboration der OUN und zu ihrer taktischen Abkehr vom Faschismus steht in diesem einzigen für Geschichts-Leistungskurse empfohlenen Lehrwerk nichts.

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Claudia Fischer: Über Geschichte schreiben ohne Heldenpathos? Notizen nach Lektüre von Preisträger-Aufsätzen aus dem Schülerwettbewerb Ukrainische Geschichte. In: Geschichtsdidaktik in der GUS / History Didactic in the CIS. Internationale Schulbuchforschung, Jhg. 23, Heft 1 (2001).

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Ludmila Lutz Auras: Zwischen Stolz und Missbilligung. Der Zweite Weltkrieg in der Erinnerungspolitik der Russländischen Föderation und der Ukraine; S. 218. In: Yves Bizeul (Hg.): Rekonstruktion des Nationalmythos? Frankreich, Deutschland und die Ukraine im Vergleich. (Göttingen 2013) Ein Hinweis auf die Bedeutung von Nationalvorbildern ist nicht zuletzt auch die staatliche Auszeichnung "Held der Ukraine", die seit 1998 an mehr als 400 Ukrainer und Ukrainerinnen verliehen wurde unter ihnen der Nationaldichter Taras Shevchenko, berühmte Sportler wie Sergeij Bubka oder Vitali Klitschko - aber auch Oleksij Poroschenko, Vater des derzeitigen Präsidenten, oder eben UPA-Kommandeur Roman Schuchewytsch und OUN-Führer Stepan Bandera.

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Heutige westukrainische Regionen gehörten damals noch nicht zur Sowjetunion.

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Juschtschenko wollte den Holodomor als Instrument nutzen, um die Gräben innerhalb der ukrainischen Gesellschaft zu überbrücken. Denn die Hungersnot hatte die Regionen im Osten und im Zentrum des heutigen Staatsgebietes betroffen. Ukrainische Nationalisten hatten in diesen Regionen immer einen schwierigen Stand auch waren die Menschen dieser Landesteile mehrheitlich nicht Wähler Juschtschenkos.

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Er wird auch von mehr als 20 Staaten, vor allem in Nord- und Südamerika sowie in Ostmitteleuropa als Völkermord anerkannt.

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Aleida Assmann: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. (München 2006); zitiert nach Robert Kindler: Opfer ohne Täter. Kasachische und ukrainische Erinnerung an den Hunger 1932/33; S. 114.

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In Zahlen: Rund 1,5 Millionen Tote - also jeder Dritte ethnische Kasache. Hier ging es um die Sesshaftmachung der dortigen Nomaden. Wie intensiv die politische Instrumentalisierung der Hungersnot in der Ukraine ist, zeigt sich übrigens beim Vergleich mit dem zurückhaltenden Umgang damit in Kasachstan. Während es in der Ukraine hunderte Denk- und Mahnmäler für den Holodomor gibt, wurde in Kasachstan nicht mal das seit mehr als 20 Jahren angekündigte Denkmal in der früheren Hauptstadt Almaty fertiggestellt.

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Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine. Seite 202; 2. Auflage, München 2000.

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Der Holodomor wird zum Ende der zehnten Klasse im Fach "Geschichte der Ukraine" in einem extra Arbeitsbuch thematisiert, das sich mit der Zeitphase 1921 bis 1938 befasst. Derzeit ist nur ein einziges Lehrbuch dazu bestellbar - genau das von Vitali Wlasow und Stanislaw Kulschizkij, welches Tabatschnyks Bildungsministerium 2011 empfohlen hatte. Dem Holodomor wird darin mit zwölf von 112 Seiten auch nicht sonderlich viel Platz eingeräumt. Missernten und eine Dürre spielten laut dem Buch ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Hungersnot.

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Das ukrainische Bildungsministerium hat eine Telepolis-Anfrage zu geplanten Überarbeitungen und Neuzulassungen von Geschichtslehrbüchern auch nach Monaten unbeantwortet gelassen.

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Diese Konstruktion wurde soweit ausgebaut, dass im nationalukrainischen Verständnis sogar die Grenze zwischen westlicher und östlicher Zivilisation an der Grenze zwischen Ukraine und Russland verlaufe. Auch von Arsenij Jazenjuk oder Petro Poroschenko ist immer wieder zu hören, dass die Ukraine im Donbass die westliche Zivilisation gegen Russland verteidige (Poroschenko: "Es ist ein Kampf der Kulturen, kein interner Konflikt"). Übrigens sah der inzwischen verstorbene US-amerikanische Geostratege Samuel P. Huntington "die kulturelle Bruchlinie zwischen dem Westen und der Orthodoxie" im Zentrum der Ukraine. (Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert. Seite 264, München 2002)

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Unter dem Titel "Forschungs- und Lehrmaterialien zur 'Revolution der Würde und zur Aggression Russlands gegen die Ukraine'" (Науково-методичні матеріали «Революція гідності та агресія Росії проти України») hat das Bildungsministerium dazu zwei Dokumente online gestellt. Das kürzere von beiden (28 Seiten) wird hier besprochen, da es Aufmacher und Charakter eines Lehrbuchkapitels hat. Das zweite Dokument ist inhaltlich sehr ähnlich, wird jedoch vom zuständigen Autorenkollektiv nur als "Diskussionsplattform" bezeichnet.

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Auch hier ziehen die Autoren des Dokuments wieder einer historische Parallele, indem sie den Euromaidan als "Ebenbild der Saporoschjer Sitsch", also dem frühneuzeitlichen Kosakenstaat am Unterlauf des Dnipro, bezeichnen.

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Dabei rissen sie über die Wochen hinweg sämtliche Straßenzäune, Pflastersteine etc. in den besetzten Arealen aus dem Boden. Diese wurden zum Barrikadenbau oder als Wurfgeschosse gegen Sicherheitskräfte benutzt. Im Marinskij Park, der ans Regierungsviertel angrenzt, fackelten die oppositionellen Aktivisten bspw. auch eine strategisch wichtige Fußgängerbrücke ab, über die Polizisten hätten eindringen können. Nach Ende des Maidan waren monatelange Reparatur- und Renovierungsarbeiten nötig, um das Kiewer Stadtzentrum wieder herzustellen.

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Ulrich Heyden: Ein Krieg der Oligarchen. Das Tauziehen um die Ukraine. Köln 2015.

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Dieser BBC-Bericht "The untold story of the Maidan massacre", ein Monitor-Beitrag (ARD) oder die Nachforschungen des Politikwissenschaftlers Ivan Katchanovski verweisen bspw. auf eine erhebliche Verantwortung von Anführern des Maidan und bewaffneten Maidankämpfern.

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Und darin sind die gewalttätigen Angriffe der Maidanbewegung in anderen Städten wie bspw. hier auf die Regionalverwaltung in Winnyzja noch nicht mal eingerechnet.

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Der Beutelsbacher Konsens ist unter Pädagogen und Schulbuchautoren international durchaus bekannt. International anerkannte formale Leitlinien für Schulbücher gibt es jedoch nicht.

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Allerdings lassen in dieser Hinsicht auch vergleichbare Informationen für deutsche Nutzer, etwa an Schulen, einiges zu wünschen übrig, wie dieser Text der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB) zeigt.

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Das gilt auch für den Geschichtsunterricht in Russland. Auch dort sind Geschichtsmythen sehr wichtig und auch dort wird Geschichtsunterricht politisch instrumentalisiert. Unter Jelzin seien sowjetische Mythen schon wieder reaktiviert worden und unter Putin habe sich dies fortgesetzt, erklärt Politikwissenschaftlerin Ludmila Lutz-Auras. (in Bizeul: Rekonstruktion des Nationalmythos: S. 220 f.) In Russland feierten staatliche Publikationen heute nur noch die Vergangenheit und arbeiteten keine Verbrechen auf, ergänzt Frank Golczewski.

Mit dem Anschluss der Krim feiern in der russischen Öffentlichkeit und den Schulen besonders nationale Mythen über die Halbinsel ein Comeback. Dabei geht es etwa um die Verteidigung Sewastopols gegen Belagerer im Krimkrieg und im Zweiten Weltkrieg sowie um die christliche Taufe des Fürsten Wladimir in Chersones. In Russland versuche die Regierung alle liberalen Entwicklungen im Schulwesen wieder rückgängig zu machen, kritisiert Schulbuchforscher Robert Maier. "Sie will einen modernen Geschichtsunterricht verhindern. Geschichtsunterricht soll dort nach Putinscher Anschauung nur zur Abstützung der Großmachtrhetorik funktionieren."

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