Bin Laden war bei seiner Ermordung vermutlich schon lange machtlos
Das Pentagon hat einige Dokumente, die in Osamas Haus gefunden wurden und einen gewissen Einblick in seine Kommunikation ermöglichen, veröffentlicht
Die Tötung von Bin Laden durch eine US-Spezialeinheit, mit der US-Präsident auch noch nach einem Jahr im Wahlkampf punkten will, war eigentlich nur ein symbolischer Akt. Bin Laden hatte für al-Qaida, deren Zentren sich von Afghanistan und Pakistan schon lange nach Jemen, Somalia und in den Maghreb verschoben haben, praktische keine Bedeutung mehr. Das Video, das den alten Terrorfürsten zeigt, wie er einsam mit primitiver Ausstattung einen Film über sich und die 9/11-Angriffe anschaut, sind ein anschauliches Zeugnis für seine isolierte Situation und seine Träume.
Das zeigen auch 17 Dokumente aus den Jahren 2006 bis 2011, die in seinem Haus in Abbottabad gefunden wurden und jetzt vom Pentagon veröffentlicht wurden. Die Sondereinheiten, die auf Terroristen Jagd machen, seien alle geschult in F3EA (Find, Fix, Finish, Exploit and Analyze), wie das Harmony Program vom Combating Terrorism Center at West Point in der Kommentierung der Dokumente schreibt. Bislang wurde nur ein kleiner Teil der Dokumente veröffentlicht, sie umfassen knapp 200 Seiten. Es handelt sich um Briefe und Emails. Weitere Veröffentlichungen sollen folgen, aber aufgrund der Ausschnitthaftigkeit lassen sich aus den bislang bekannten nur Vermutungen aus der Kommunikation ziehen, die Bin Laden mit anderen al-Qaida-Führern geführt hat, wobei bislang nur geraten werden kann, wer die Briefe geschrieben hat, weil der Absender und andere Hinweise fehlen, beispielsweise auch das Datum.
Schleierhaft ist schon, ob Bin Laden noch im engen Kontakt mit dem al-Sawahiri stand, der vermutlich weiter einen gewissen Einfluss auf das al-Qaida-Netzwerk ausübt. Zumindest könnte es unterschiedliche Strategien geben. Beispielsweise wendete sich Bin Laden gegen die Aufnahme der somalischen al-Shabab in das Netzwerk, was aber al-Sawahiri gemacht hat. Bin Laden fordert auch die Mitglieder des losen Terrornetzwerks sowie anderer islamistischer Gruppen wie die Taliban auf, die Angriffe gegen US-amerikanische Ziele zu richten und mit Anschlägen aufzuhören, bei denen muslimische Zivilisten ums Leben kommen, wie es vor allem im Irak, in Afghanistan und in Pakistan der Fall war und ist. In einem langen Brief aus dem Jahr 2011, der Adam Gadahn, dem zum Islam konvertierten kalifornischen Christen, zugeschrieben wird, wird überlegt, ob nicht Bin Laden zum Jahrestag mit einem technisch perfekten Video auftreten soll und ob Gruppen, die fahrlässig islamische Zivilisten bei Anschlägen töten, nicht ausgeschlossen werden sollten.
Im letzten Dokument, einem Brief von Bin Laden vom 26. April, also kurz vor seiner Ermordung, freut er sich über das "wichtigste Ereignis in unserer modernen Geschichte", nämlich den Aufstand der islamischen Völker gegen ihre Tyrannen. Diese Revolution würde die "Würde der Religion und ihre Herrlichkeit wieder beleben" und auch dazu führen, dass die islamische Welt der Macht der USA und der "Besetzung" durch den Westen entkommt. Bin Laden träumt weiter von der Vereinigung aller Muslime. Man müsse darauf achten, dass die Aufstände keine halbe Sache machen, mahnt er, und setzt dabei auf die Salafisten. Die Hauptaufgabe sei es, die noch Passiven zum Aufstand zu bewegen und sie in die richtige Richtung zu lenken. Alle Anstrengungen müssten darauf gerichtet sein, die Jugend mit Texten, Gedichten, visuellen und auditiven Botschaften zu erreichen. Ansonsten gibt er hier zahlreiche Ratschläge an Gruppen Personen beispielsweise in Somalia oder Jemen.
In einem Brief, Datum unbekannt, vermutlich von Bin Laden, erinnert der Autor daran, dass Amerika der große Feind sei. Im Augenblick setzte der Feind alles daran, die Bildung eines fundamentalistischen islamischen Staats, eines Kalifats, in den Ländern des arabischen Frühlings zu verhindern. Er vergleicht die Feinde mit einem Baum: der Stamm sind die USA, die Äste sind die Nato-Staaten und die arabischen Regime. Man müsse den Stamm fällen, um die Äste zu beseitigen. Die Mudschaheddin sollten daher nur amerikanische Soldaten angreifen, wenn sie sich nicht gegen Soldaten von anderen Staaten verteidigen müssen. Man müsse vor allem darauf achten, die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen, weswegen Anschläge auf Zivilisten abzulehnen seien und man sich jeweils lokal der Bevölkerung anpassen müsse.
Er geht auch auf die gefährliche Lage im Grenzgebiet Afghanistan/Pakistan, die er den "Spionagekreis" nennt, also die Region, in der die USA den offensichtlich erfolgreichen Drohnenkrieg führen. Wie sein Adressat schreibt, wollen die verbliebenen al-Qaida-Mitglieder lieber sterben, als gefangengenommen zu werden. Deswegen würde sie auch nicht fliehen, weil sie dann ergriffen werden. Bin Laden meint, dass man weiter ungefährdet bleiben könne, wenn auf die Sicherheit achtet: "Es ist bewiesen", schreibt er, "dass die amerikanische Technik und die modernen Systeme keinen Mudschaheddin fangen können, wenn er nicht einen Sicherheitsfehler macht."
Den hat Bin Laden dann auch gemacht, als die Amerikaner seinen Rückzugsort in Pakistan nach vielen Jahren doch aufspürten. Offenbar hat sich Bin Laden sicher geglaubt und auch vorgeschlagen, dass man für diejenigen, die disizpliniert sind und daher aus der Drohnenzone fliehen können, Häuser an den Rändern einer Stadt - Abbottabad? - suchen soll, wo sie sich verstecken können. Zur Deckung sollten Teile der Gruppen oder Familien arbeiten, am wichtigsten sei die Kontrolle der Kinder, die möglichst nicht aus dem Haus gelassen werden dürfen und so gewissermaßen zu Gefangenen werden. Selbst in den Hof solle man sie nur in Begleitung eines Erwachsenen lassen, so dass sie nicht zu laut werden. Osama bin Laden spricht von "Wir", die sich daran gehalten und es neun Jahre lang so geschafft hätten, nicht entdeckt zu werden. Keiner der "Brüder" sei nach den Ereignissen aufgeflogen. Leben also womöglich in Abbottabad weitere untergetauchte al-Qaida-Mitglieder?
Die Dokumente zeigen, dass Bin Laden mit der Strategie der al-Qaida-Gruppen nicht einverstanden ist. Er versucht einzuwirken, die Kampf- und Medienstrategie zu beeinflussen und die schlecht geplanten Aktivitäten sowie den blinden Aktionismus zu beenden, argumentiert auch historisch, indem er sich auf gescheiterte islamistische Aufstände in Ägypten oder Syrien bezieht, deren Fehler nicht wiederholt werden sollten. Den durch eine US-Drohne im Jemen getöteten Imam Al-Awlaki mochte er ebenso wenig die von diesem gestartete Zeitschrift "Inspire", die zu wildem Aktionismus mit einem "Open Source Jihad" aufruft. Auswirkungen hatte das wohl nicht. Bin Laden steht in seinem Exil bereits auf der Seite, er sieht zu, versucht an Fäden im Netzwerk zu ziehen, seine Vorstellung einer Ummah und den Weg dahin zu propagieren. Das wirkt eher verzweifelt. Bin Laden wollte eine zentrale al-Qaida-Führung etablieren, die die Aktivitäten der regionalen Gruppen steuert. Das interessierte diese aber nicht, wie es scheint.
Bin Laden wollte mit einem Anschlag auf US-Präsident Obama oder den damaligen Oberbefehlshaber Petraeus in Afghanistan die US-Politik beeinflussen. Würde Obama getötet, so sinnierte er, käme Vizepräsident Biden an die Macht - und der sei völlig inkompetent. Das würde die USA in eine Krise stürzen. Die Ermordung von Petraeus würde dem Krieg in Afghanistan eine Wende geben. Aber das blieb Theorie …