Biologin zu Genderstreit bei Olympia: "Beim Sport geht es um den Körper und nicht um Identifikation"

Olympische Ringe mit Genderzeichen und Imane Khelif

Bild Imane Khelif: ProPhoto1234 / Shutterstock.com / Grafik: TP

Marie-Luise Vollbrecht bleibt bei Kritik an IOC-Linie bei Frauenboxen. Sie fordert eindeutige Regeln. Warum das Thema so kontrovers ist. Ein Telepolis-Podcast.

Mann oder Frau, trans- oder intersexuell – was für die meisten Menschen eine sehr private Angelegenheit ist, gilt nicht für Imane Khelif aus Algerien. Er oder sie hat bei Olympia in Paris eine Goldmedaille gewonnen, und zwar im Frauenboxen. Die Berliner Biologin Marie-Luise Vollbrecht findet das unfair, und sie glaubt außerdem, dass der Fall von – wie sie sagt – woke-queeren Ideologen politisch instrumentalisiert werde.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier ein externer Podcast (Podigee GmbH) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Podigee GmbH) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Zu ihrem Telepolis-Artikel vom 19. und 20. August gab es rund 300 Kommentare. Manche mit Daumen hoch, aber auch viele sehr kritische. Deshalb hat Dietmar Ringel im Telepolis-Podcast bei der Autorin nachgefragt.

▶ Für Sie ist die Sache klar. Sie sagen, Imane Khelif sei ein Mann. Sie berufen sich dabei auf Tests durch die internationale Boxvereinigung IBA, bei denen angeblich XY-Chromosomen gefunden wurden. Aber die Frage ist, woher wissen Sie das so genau? Die Ergebnisse dieser Tests sind bislang nicht veröffentlicht worden?

Marie-Luise Vollbrecht: Nein, und ich würde mich jetzt auch nicht hinstellen und sagen, ich weiß das mit hundertprozentiger Sicherheit. Aber ich kann durch ein gewisses Ausschlussverfahren die vorhandenen Beweise oder Hinweise sortieren und mich fragen: Was spricht dafür, dass er eine Frau ist? Und was spricht dafür, dass er ein Mann ist? Wie wahrscheinlich ist das? Und da kann ich schon zu einem Urteil kommen und sagen, es ist sehr, sehr wahrscheinlich, dass dieser Mensch männlich ist.

Ich habe auch geschrieben, ob er jetzt als Mann oder als Frau lebt, spielt erst mal keine Rolle. Es geht mir nur um die Biologie, und die ist eindeutig männlich. Da braucht man jetzt kein großes Wissen über Entwicklungsbiologie und diese sehr speziellen Störungen der Geschlechtsentwicklung, sondern das sieht man einfach. Und das ist schon mal der erste sehr, sehr starke Hinweis.

▶ Aber da möchte ich gleich noch mal einhaken. Sie sagen, man bräuchte nur Sekundenbruchteile, und schon könne jeder unbewusst das Geschlecht seines Gegenübers erkennen – an Bewegung, Körperbau, Proportionen, Gesicht und so weiter. Aber gerade dagegen regt sich im Forum heftiger Widerstand. Und meine Frage ist: Ist es denn wirklich immer so einfach? Sind Sie noch nie männlich wirkenden Frauen und weiblich wirkenden Männern begegnet?

Marie-Luise Vollbrecht: Jetzt müssen wir ein bisschen sortieren. Natürlich bin ich schon maskulinen Frauen begegnet und femininen Männern, aber ich habe noch nie bewusst darüber nachgedacht, ob mein Gegenüber jetzt ein Mann oder eine Frau ist. Und ich glaube, wenn die meisten Menschen in sich gehen, dann werden sie sehen, dass es ihnen ähnlich geht, dass sie sich nicht bei jedem Menschen fragen, was für ein Geschlecht er hat, sondern dass das einfach etwas ist, das wir intuitiv wissen.

Der Stand der Forschung darüber ist ein ziemlich weites Feld, weil es um Neurobiologie und Wahrnehmungspsychologie geht. Und es wird da sehr heftig debattiert, was quasi inhärent genetisch angeboren ist und was erworben wird im Laufe der Zeit.

Aber wir wissen, dass die Erkennung oder Kategorisierung, Mann oder Frau, dass das schon bei Babys geschieht, die sechs oder auch erst drei Monate alt sind. Die können diese Kategorisierung schon vollziehen. Sie sehen ein Gesicht, können es als männlich oder weiblich einordnen und darauf entsprechend reagieren. Das ist eine sehr starke, frühe Fähigkeit.

Jetzt habe ich vom Normalfall gesprochen. Die starke Aggressivität in der Debatte darüber erkläre ich mir damit, dass es auch Störungen oder besser gesagt Abweichungen davon gibt. Zum Beispiel bei Menschen, die im Autismus-Spektrum sind oder die psychische Erkrankungen haben.

Bei ihnen ist die Gesichtswahrnehmung gestört. Das kann die damit verbundenen Emotionen betreffen oder die Hinweise, die Menschen normalerweise unbewusst nutzen, um Gesichter zu kategorisieren. In entsprechenden Tests schneiden Männer übrigens schlechter ab als Frauen.

Und es gibt auch Gesichtsblindheit, die viel häufiger bei Männern auftritt als bei Frauen. Damit erkläre ich mir die oft aggressiven Reaktionen, wenn ich sage, man erkennt das Geschlecht allein schon am Gesicht. Vermutlich sind es Männer, die die Erfahrung machen, dass sie das Geschlecht ihres Gegenübers nicht so einfach einschätzen können. Ich habe selten eine Frau erlebt, die so vehement dagegen argumentiert.

▶ Aber genügt das, was Sie eben beschrieben haben, um festlegen zu können, dieser Athlet oder jene Athletin tritt zurecht im Männer- oder im Frauenwettbewerb an? Da geht es ja um ganz konkrete Entscheidungen, die getroffen werden müssen, und nicht um Interpretationen.

Marie-Luise Vollbrecht: Es ging ja jetzt nur darum, wie ich dazu komme. Und es ist einfach ein sehr starker Hinweis, erst mal nur den Menschen zu sehen und zu sagen, oh, dieser Mensch sieht männlich aus. Ich bin jetzt auch kein Fan davon, Fotos zu nehmen und darauf Linien zu zeichnen oder zu versuchen, in den Falten einer Hose irgendwas nachweisen zu können.

Aber wenn ich einen Boxkampf ansehe, dann habe ich ja nicht nur ein Gesicht oder eine Bewegung, sondern ich habe alles. Und ich sehe tatsächlich diesen Menschen neben Frauen und neben Männern. Also ich habe auch noch die kontextuelle Einordnung.

Und das führt einfach unbewusst zu einer Dissonanz zwischen dem, was man mir sagt, nämlich es sei eine Frau, und dem, was ich wahrnehme. Ich kann das natürlich ignorieren. Aber es gab diese Kontroverse ja bereits vorher. Und dann schauen die Leute besonders hin. Ich glaube, wie zuvor erwähnt, dass es sehr einfach zu sehen ist.

▶ Noch mal zurück zu meiner Eingangsfrage, in der es um die XY-Chromosomen ging. Das ist ja ganz zentral bei der Bewertung, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelt. Das beschrieben Sie auch in Ihrem Artikel und sagen, am Ende gibt es hier keine Debatte.

Das Problem ist nur, dass es dabei um personenbezogene Daten geht, die im konkreten Fall nicht veröffentlicht wurden. Also muss an dem Punkt weiter spekuliert werden. Und Sie erwähnen auch ein seltenes Syndrom, bei dem sich die Grenzen zu verwischen scheinen. Es geht dabei um Menschen mit XY-Chromosomen, die dennoch verweiblicht werden können. Gibt es also doch eine Art Grauzone?

Marie-Luise Vollbrecht: Nein. Ich halte es für sehr schwierig, das zu erklären, versuche es aber trotzdem. Wir sind männlich oder weiblich durch X und Y bzw. XX Chromosomen. Aber es ist jetzt nicht so, dass wir deswegen männlich oder weiblich sind, weil wir die haben, sondern weil die eine gewisse Funktion besitzen. Nehmen wir einen wenige Tage alten Embryo, der vom Moment der Erzeugung vielleicht männlich ist.

Dann kann es passieren, dass die Mechanismen, die dazu führen, dass sich aus diesem Embryo ein Junge bildet, so stark gestört werden, dass sich der Embryo entwickelt, als hätte er nur ein X-Chromosom. Und Menschen, die nur ein X-Chromosom haben, sind weiblich. Wir nennen sie Turner-Frauen. Das ist der Grenzfall, wo man wirklich sagt, dass ein Mensch ein XY-Chromosom hat, aber die Funktion des Y-Chromosoms nicht zum Tragen kommt.

Es ist egal, ob man das im Karyogramm nachweisen kann, weil das, was damit assoziiert ist, nicht funktioniert. Und deswegen nimmt der Embryo den weiblichen Entwicklungsweg. Das hat Auswirkungen auf die Physiologie, auf den Körper. Es ist aber sehr, sehr unwahrscheinlich, dass es sich im Fall Khelif um dieses Syndrom handelt.

▶ Das ist jetzt eine sehr wissenschaftliche Debatte, der Nichtfachleute vermutlich schwer folgen können. Aber es gibt ja noch ein paar ganz praktische Fragen, auf die ich zu sprechen kommen möchte. Heftig diskutiert wurde im Forum nämlich auch über Fairness im Sport.

Sie sind der Meinung, im Fall Khelif sei es unfair zugegangen, die Gegnerinnen hätten keine echte Chance gehabt. Nun kommt aber das Argument, Fairness sei ja überhaupt so eine Sache. Jeder Mensch habe unterschiedliche körperliche Voraussetzungen und damit Chancen auf den Erfolg. Wie gerecht sind also Sportwettkämpfe überhaupt, wo es doch diese gravierenden Unterschiede gibt?

Marie-Luise Vollbrecht: Fairness ist doch, dass wir keinen 40-jährigen Mann gegen einen Achtjährigen antreten lassen. Das wäre auf jeden Fall unfair. Und wir schauen schon, dass es beim Boxen Gewichtsklassen gibt. Wir gehen davon aus, dass Männer, die ungefähr dieselbe Größe, dasselbe Alter oder Gewicht haben, auch in ihren Eigenschaften ungefähr gleich sind.

Es kann immer sein, dass jemand einen leichten Vorteil hat. Zum Beispiel, wenn bei einem Schwimmer die Hände etwas länger sind, dann hat er einen genetischen Vorteil. Ist das dann fair? Ja, weil es in der Variation der männlichen Physis liegt. Aber so wie wir sagen, wir lassen keinen 8-Jährigen gegen einen 40-Jährigen antreten oder keinen 30-Kilogramm-Mann gegen einen 100-Kilogramm-Mann, so lassen wir auch keine Männer und Frauen gegeneinander antreten.

Denn die unterscheiden sich ja nicht nur irgendwie in einem Faktum, wo der Mann der Frau etwas überlegen ist. Sondern es sind sehr viele verschiedene Faktoren, die dazu führen, dass dieser Kampf von vornherein unausgeglichen und unfair wäre. Man hat nicht dieselben Voraussetzungen.

▶ Es gibt im Forum den Vorschlag, man solle doch bei Wettkämpfen neben Männern und Frauen eine dritte Kategorie für trans- oder intersexuelle Menschen einführen. Was halten Sie davon?

Marie-Luise Vollbrecht: Ja, damit hätte ich gar kein Problem. Ich würde da aber noch mal unterscheiden zwischen transsexuellen und intersexuellen Menschen. Aber warum nicht?

▶ Warum der Unterschied zwischen Trans- und Intersexuellen?

Marie-Luise Vollbrecht: Weil die Regeln ja inzwischen so sind, dass Transsexuelle vielleicht eher in den männlichen Performance-Bereich fallen. Wäre es fair, einen Mann mit einer Intersex-Diagnose und fehlender Vermännlichung antreten zu lassen gegen einen Mann mit Testosteron-Überschuss, der sich vielleicht erst vor kurzem als trans geoutet hat? Da müsste man noch mal überlegen, wie man Fairness herstellen kann. Aber warum keine dritte Kategorie?

▶ Nun geht es ja im Fall Khelif nicht nur um Fairness beim Sport, sondern auch um selbstbestimmtes Leben, um respektvollen Umgang mit der eigenen Sexualität. Khelif sieht sich selbst als Frau, will als solche anerkannt werden. Sie sprechen in ihrem Telepolis-Beitrag dagegen konsequent von IHM statt von IHR. Das kann als Diskriminierung aufgefasst und auch bestraft werden. Wie stehen Sie dazu?

Marie-Luise Vollbrecht: Für mich war es wichtig, das so zu schreiben, um nicht aus Nettigkeit die Wahrheit ein wenig zu verbiegen. Ich hätte kein Problem damit, wenn er vor mir stünde, ihn so anzusprechen, wie er das gerne möchte. Aber in einer Sportdebatte, wo es um Körper und um Fairness geht, verwischen wir von Anfang an die Grenzen, wenn wir von der Boxerin reden, der Frau und Cis-Frau. Denn dann ist für einen Laien, der dieses Thema nicht überblickt, überhaupt nicht klar, wo jetzt das Problem ist an dieser Frau im Vergleich zu den anderen Frauen.

Mir ging es um die körperlichen Gegebenheiten, die Unfairness und deswegen habe ich einfach konsequent von ihm als Mann gesprochen. Und ich glaube, dadurch wirkt der Text auch einfach anders.

▶ Aber gerade da gibt es viel Widerspruch. Viele schreiben im Forum, das sei gegen die Menschenwürde. Es gab übrigens kürzlich ein Gerichtsurteil, in dem es um das Nachrichtenportal Nius ging. Dort wurde eine transidente Frau als ER bezeichnet, und da hat das Landgericht Frankfurt am Main entschieden, das sei ein Angriff auf die Menschenwürde.

Wenn man die biologischen Dinge beschreibt, kann ich Ihre Haltung nachvollziehen. Aber Sie haben das "Er" kompromisslos im gesamten Artikel durchgezogen. Ist es wirklich gut, nicht wenigstens anzudeuten, dass man bei der Frage der Persönlichkeitsrechte auf die betreffende Person eingeht?

Marie-Luise Vollbrecht: Wenn es darum geht, über Frauen zu reden, dann habe ich ein sehr starkes Problem damit, einen männlichen Menschen als eine Frau zu bezeichnen. Und dann müssten wir überhaupt die Frage klären, was eine Frau ist und was es bedeutet, als Frau zu leben.

Ich tue mich damit wirklich schwer. Es hat nichts damit zu tun, wie ich privat mit dieser Frage umgehe, aber ich bin nicht dafür, zu lügen. Und ich glaube auch nicht, dass es eine Beleidigung ist, einen Mann auch einen Mann zu nennen. Ich meine, das weiß er selbst. Und ich halte auch das Urteil für falsch.

▶ Sie argumentieren im Fall Khelif auch damit, dass die Rechte der Gegnerinnen verletzt worden seien, deren Gesundheit auf dem Spiel gestanden habe. Und sie bezeichnen sich selbst als Feministin, treten für Frauenrechte ein. Andererseits geht es aber um die Frage der sexuellen Selbstbestimmung, um das Recht anders zu sein und anders zu leben. Kann man das aus ihrer Sicht vernünftig zusammenbringen oder sind das Gegensätze?

Marie-Luise Vollbrecht: Ich glaube nicht, dass das Gegensätze sind. Aber die Frage ist, wie man das aushandelt und was für Kompromisse es gibt. Wir reden hier über den Sport, wo es um den Körper geht und nicht um Identifikation oder darum, was jemand denkt, was er gerne sei. Und dieser Mensch ist bewusst in einem Frauenkampf angetreten, mit einer Geschichte, wo er Frauen verletzt hat im Ring, wo er selbst weiß, dass er männlich ist und einen Vorteil hat.

Und die Frage ist, warum kann ich nur in diese Diskussion gehen, wenn ich Mitleid habe und die Gefühle dieses Menschen über die Gesundheit und die Gefahr und auch die Scham und die Schande stelle, die die Gegnerinnen erleben? Warum muss ich das immer gleich werten? Also warum kann ich nicht sagen, ich für meinen Teil konzentriere mich jetzt einfach erst mal darauf, was das eigentlich für die Frauen bedeutet.

Ob ich hier trotzdem Mitleid habe mit dem Menschen und wie ich ihn privat anreden würde, ist für mich eine andere Sache. Ich finde, dass es nur darum geht, wie sich Khelif fühlt, aber nicht darum, was die Auswirkungen auf andere sind. Und das finde ich dann tatsächlich wieder sexistisch.

▶ Frau Vollbrecht, Sie sind Doktorandin an der Berliner Humboldt-Universität, und Sie mischen sich schon seit geraumer Zeit in die ziemlich aufgeheizte Gender-Debatte ein. Es gab sogar schon einen Rechtsstreit mit der Universitätsleitung. Sie haben diesen Rechtsstreit gewonnen. Trotzdem, meine Frage: Können Sie frei und ungehindert Ihre Ansichten als Wissenschaftlerin vertreten?

Marie-Luise Vollbrecht: Oh – ich glaube, das wäre ein Thema für ein ganz anderes Gespräch.

▶ Nun haben Sie ja gerade ganz freimütig Ihre Meinung dargelegt. Das ist also möglich. Und Sie sind weiterhin an der Humboldt-Uni beschäftigt. Vielleicht beschreiben Sie einfach mal: Ist es schwierig für Sie im Umgang mit den Studierenden, mit Kollegen? Wie erleben Sie das? Gibt es eine offene Atmosphäre, wo man sich dieser Debatte freimütig stellen kann?

Marie-Luise Vollbrecht: Vielleicht können sich die Menschen, die die Vorgänge an der Humboldt-Universität ein bisschen verfolgen, selbst vorstellen, wie es so ist, dort zu interagieren. Mehr möchte ich dazu nicht sagen.

Dietmar Ringel sprach mit der Biologin Marie-Luise Vollbrecht von der Berliner Humboldt-Universität.