Bis in die 1930er Jahre gehörte die Zwangsarbeit zu den wichtigen Wirtschaftsfaktoren
AIDS im kolonialen Afrika - Renditen und Risikogruppen. AIDS als koloniales Überbleibsel - Teil 4
Bis in die 1930er Jahre gehörte die Zwangsarbeit in Afrika zu den Wirtschaftsfaktoren, ohne welche die Großprojekte im Eisenbahn- und Straßenbau undenkbar gewesen wären. Gleichzeitig stammt die erste Beschreibung AIDS-ähnlicher Symptome von Untersuchungen an Zwangsarbeitern.
In den letzten Jahrzehnten konnten Forscher über DNA-Vergleiche nachweisen, dass HI-ähnliche Viren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Zentralafrika von Affen auf Menschen übergewechselt sind (Teil 1). Diese Anpassung setzt Mutationen voraus, um die Übertragbarkeit von Mensch zu Mensch zu optimieren. Die Überwindung einer Artenschranke bedeutet also einen evolutionären Sprung, in welchem das Virus ausgerechnet in der Kolonialzeit günstige Bedingungen vorgefunden hat. Neben umfangreichen Kampagnen zur Seuchenbekämpfung mit kaum sterilisierten Spritzen Teil 2 gehörten auch Wirtschaftsprojekte dazu, bei denen Arbeiter aus entfernten Regionen unter miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen zusammengeführt wurden.
Teil 1: AIDS als koloniales Überbleibsel
Teil 2: Was konnte den HI-Virus zur Seuche werden lassen?
Teil 3: Der alte weiße Mann und die Seuche AIDS
In der Verklärung der Kolonialzeit gilt die Abschaffung der Sklaverei als eines der wertvollsten Geschenke westlicher Zivilisation. Abgesehen davon, dass sich der Sklavenhandel erst durch europäische Nachfrage in seine ungewöhnliche Dimension entwickeln konnte, fällt unter den Tisch, dass die Sklaverei oftmals lediglich durch eine befristete Variante ersetzt wurde. In mehreren Kolonien blieb die Zwangsarbeit selbst nach seiner offiziellen Abschaffung in Gebrauch, wobei man die Konvention 105 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) von 1957 trickreich umging.1
Die Toten der Congo-Ocean-Eisenbahn
Entlang der romantischen Congo-Ocean-Linie (Chemin de fer Congo-Océan, kurz CFCO2) durch die Demokratische Republik Kongo (ehemals Französisch - Äquatorialafrika), welche Brazzaville mit der Hafenstadt Pointe-Noire verbindet, liegt die kleine Bahnstation Les Saras. Angeblich gab es dort mehrfach Entgleisungen, welche man auf einen Fluch von Zwangsarbeitern aus dem tschadischen Stamm der Sara zurückführte, die in großer Zahl beim Bau ihr Leben verloren. Mit der Namensgebung des Stationshäuschens bat man die Toten symbolisch um Vergebung.3
Gebaut wurde die 511 km lange Strecke von 1921 bis 1934. Zuvor benutzte man die parallele Linie durch Belgisch-Kongo. Doch eine eigene Eisenbahn erschien längerfristig lukrativer und war zudem ein profitabler Auftrag für die Société de construction des Batignolles (SCB), da die Kolonialverwaltung die Arbeitskräfte zu Dumpinglöhnen garantierte. Am Projekt waren 127'250 zwangsverpflichtete Einheimische beteiligt, die aus den verschiedensten Regionen rekrutiert wurden. Manche stammten aus Gebieten, wo auch die SIV-infizierte Schimpansenart Pan troglodytes troglodytes anzutreffen war.
Als Massengrab erwies sich der 100 km lange Streckenabschnitt im Bergland von Mayombe. Der menschenfeindliche Dschungel, miserable Arbeitsbedingungen, Unterernährung und mangelnde Hygiene forderten einen Tribut, wobei in der schlimmsten Zeit jährlich die Hälfte der Zwangsarbeiter zugrunde ging. Wurden Männer in die Lazarette eingeliefert, steckten sie sich häufig mit anderen Krankheiten an und starben noch schneller. Die Toten, insgesamt schätzte man ihre Zahl auf 17.000, ersetzte man umgehend durch Neuzugänge.
Erst nachdem der Schriftsteller André Gide zusammen mit dem Journalisten Albert Londres in Frankreich für die Aufdeckung der skandalösen Zustände sorgte, verbesserte der Gouverneur die Lebensbedingungen. Um den Arbeitern im Lager eine gewisse Abwechslung zu bieten, wurde außerdem einer beschränkten Anzahl von Frauen Zutritt gewährt, von denen einige im Männerüberschuss eine neue Einkommensquelle sahen. Die Elendsprostitution begann zu florieren und öffnete der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten neue Wege.
Cachexie de Mayombe
Zu den außergewöhnlichen Persönlichkeiten der französischen Medizin gehörte Léon Pales, der 1931 als Arzt an das Hospital von Brazzaville versetzt wurde. Autopsien von Afrikanern waren dort nicht üblich, doch Pales verfügte sowohl über die Fertigkeiten als auch das Interesse, um den Dingen auf den Grund zu gehen.
Unter den Verstorbenen des Krankenhauses befanden sich ehemals zwangsverpflichtete Eisenbahnarbeiter, die meistens an bakteriellen Erkrankungen wie Tuberkulose oder Shigella dysenteriae, verstärkt durch Berberi (durch Vitamin B1-Mangel) und Depressionen, zugrunde gegangen waren.
Bei 26 Opfern lieferten die Tests auf typische Krankheitserreger jedoch negative Ergebnisse. Dr. Pales fand stattdessen eine derart ungewöhnliche Kombination von Symptomen, dass er sie in einem wissenschaftlichen Artikel als neues Krankheitsbild - Cachexie de Mayombe - beschrieb. Cachexia ist das Fachwort für starken Gewichtsverlust, wie er bei AIDS im Spätstadium typisch ist. Auch andere Merkmale (Hirnatrophie, generalisierte Lymphadenopathie, chronische unblutige Diarrhoe) passen hierzu ins Bild. Zur damaligen Zeit erschienen sie dagegen rätselhaft - besonders die Hirnatrophie (Gehirnschwund), welche bei jüngeren Menschen nicht typisch ist.
Pales Untersuchungen4 sind die frühesten Berichte, welche auf AIDS hinweisen könnten. Der Verdacht - auch hier sind Gewebeproben nicht mehr auffindbar - wird von namhaften Wissenschaftlern geteilt (siehe auch Le Figaro Santé Online5). Hätte sich das HI-Virus schon damals in Brazzaville festgesetzt, so wäre es nur ein Sprung über den Kongo-Fluss nach Léopoldville, wo man später die ältesten HIV-Gewebeproben nachwies.
Zivilisation
Zu den privilegierteren Zonen des Kongo gehörten zweifellos die gegenüberliegenden Hauptstädte Léopoldville und Brazzaville am Kongofluss. Beide wurden erst in der Kolonialzeit gegründet. Durch intensiven Handel und Personenverkehr miteinander verbunden, wuchsen sie rasch. In Léopoldville, dem heutigen Kinshasa, war der Zuzug für Afrikaner nur mit einer Aufenthaltserlaubnis (permis de séjour) möglich, die an eine Arbeitsstelle gekoppelt war.
Ihr Status entsprach nicht Bürgern im eigenen Land, sondern war eher mit heutigen asiatischen Gastarbeitern in den arabischen Ölmonarchien vergleichbar. Die Bezahlung lag über dem Landesdurchschnitt und das Leben war -trotz einer ganzen Reihe rechtlicher Einschränkungen für Afrikaner- vergleichsweise komfortabel, sodass die Stadt sogar zum Ziel von Arbeitsmigranten von entfernteren Gegenden wurde.
Jüngere Männer standen hierbei in deutlicher Überzahl, denn sie waren meist besser qualifiziert als die Frauen. Die Städte wuchsen rasch, behielten jedoch stets einen beträchtlichen Männerüberschuss, den es in vorkolonialen Siedlungen nie gab. (Gegen Ende der 1950er Jahre betrug das Zahlenverhältnis Männer / Frauen bei Alleinstehenden in Léopoldville sogar 5 zu 1.) Durch eine administrative Ansiedlungspolitik nach rein ökonomischen Kriterien, mit rigoroser Bevorzugung männlicher Singles, schufen urbane Zentren unbeabsichtigt eine Nachfrage der Prostitution. Die neue Wirtschaftsform - ob in Zwangsarbeit oder freier Beschäftigung- zerriss bestehende soziale Strukturen und begünstigte die Verbreitung sexuell übertragbarer Risiken.
Neue Werte, neue Normen
Bereits David Graeber6 wies darauf hin, dass sich die Machtausübung kolonialer Systeme nur teilweise über direkten Zwang vollzog. Für die Einbindung der breiten Bevölkerung in den neugeschaffenen Wirtschaftskreislauf bevorzugte man flexiblere Methoden. Das in Umlauf gesetzte Geld sollte einen hohen ideellen Stellenwert erhalten, denn Konsum und Schulden garantieren die Abhängigkeit ohne kostenaufwändige Überwachung. Entgegenstehende traditionelle Normen wurden zwangsläufig außer Kraft gesetzt. Am besten ließen sich diese Prozesse in der Veränderung der Stellung der Frauen beobachten.
Die feudalen Stammesstrukturen sollten keinesfalls idealisiert werden. Oft war den Frauen in der vorkolonialen Gesellschaft eine passive Rolle vorgeschrieben. Man arrangierte ihre Ehen, teilweise in Polygamie. Ohne nennenswerte Ausbildung blieben ihnen nur die Nischenplätze der Gesellschaft.
In einer neuen Welt des Männerüberschusses verhältnismäßig reicher Städte bot die Prostitution nun gleichzeitig Wohlstand und höhere Unabhängigkeit, sofern sie weder als Massenerscheinung noch an Zuhälterei gekoppelt auftrat. (In Léopoldville scheint das tatsächlich lange der Fall gewesen zu sein. Überliefert ist, dass sich viele derartige Frauen, die oft über Scheinehen in die Stadt gelangten, eine stabile Handvoll "Lover" hielten. Dort waren sie gleichzeitig als Teilzeithaushälterin tätig.7)
Das Ausmaß des kolonialen Wertewechsels in der Stellung der Frau lässt sich darin ablesen, dass sogar die Forderungen für Brautgeld stiegen.8 Eltern hielten sich bei der Verheiratung ihrer Töchter zum traditionellen Preis zurück, weil Prostitution weitaus lukrativer erschien. Innerhalb weniger Generationen hatte sich das gesellschaftliche Ansehen von Sexarbeiterinnen vollständig verändert.
In der zweiten Hälfte der 50er Jahre schätzten Angestellte des Gesundheitswesens die Zahl der Vollzeitprostituierten in Léopoldville zwischen 5000 und 6000. Hinzu kommt eine unbestimmte Anzahl von Frauen, die nur gelegentlich dieser Tätigkeit nachgingen. Im Jahre 1955 zählte die Gesamtbevölkerung der Stadt 272.954 Einwohner.
Eine folgenreiche Verwechslung
Den Behörden war nicht verborgen geblieben, dass mit dem Wachstum der Städte auch die Geschlechtskrankheiten anstiegen. Da dort ein Großteil der Weißen lebte und es -trotz strikter Rassentrennung im öffentlichen Leben - noch genügend Kontaktmöglichkeiten zwischen den Bevölkerungsteilen gab, nahmen es die Behörden mit der Gesundheitsprophylaxe in ihrer Hauptstadt besonders ernst. Das Rote Kreuz betrieb von 1929 bis 1955 im Barumba-Distrikt von Léopoldville eine Klinik zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten (Centre de Médicine Sociale) für Afrikaner, wo sich außer den örtlichen Prostituierten und Männern mit einschlägigen Problemen auch alle Neuankömmlinge vorstellen mussten - letztere unabhängig vom Gesundheitszustand. Täglich wurden bis zu 1000 Patienten empfangen, wobei man Fälle von Syphilis und Gonorrhoe mehrwöchig mit intravenösen Injektionen behandelte.
Es war eine Massenabfertigung. Außer den bereits erwähnten unsterilen Spritzen gab es hier noch ein weiteres Problem: die Diagnose. Bei Frauen ist Gonorrhoe im Frühstadium ohne modernen Nachweis nur schwer zu diagnostizieren und kann leicht mit harmloseren Unregelmäßigkeiten verwechselt werden. Bei Syphilis kommt ein Problem hinzu, das in Europa unbekannt ist - die im tropischen Afrika weitverbreitete Frambösie. Das Bakterium ist mit dem Syphiliserreger verwandt, obwohl die Krankheit nicht geschlechtlich übertragen wird. Mit Sicherheit war das Krankenhauspersonal technisch nicht in der Lage, eine schwelende Frambösie genau von einer beginnenden Syphilis zu unterscheiden. Im Zweifelsfall behandelte man die Verdächtigen erst einmal.
1953 wurde die Problematik der unsicheren Diagnosen mitsamt seiner möglichen Nebenwirkungen vom belgischen Arzt Dr. Paul Beheyt kritisiert. Das führte zwei Jahre später zur Übergabe des Hospitals an die Behörden, welche die Zustände verbesserten. Wie viele unnötige Fälle bis dahin behandelt und ob auch HIV auf diesem Wege zusätzlich übertragen wurden, ist im Nachhinein schwer zu bestimmen. Doch es ist unbestritten, dass das Virus unter den Prostituierten von Léopoldville bzw. Brazzaville seinen festen Platz gefunden hat.
Die Startbahn ist angelegt
Eine Reihe westeuropäischer Länder, darunter auch Deutschland und die Schweiz, lebt seit Jahrzehnten mit geringen und relativ stabilen HIV-Zuwachsraten.9 Innerhalb der Gesamtbevölkerung ist etwa 0,1% infiziert. Für Normalbürger, die sich nicht ausgesprochen unvernünftig benehmen, besteht also keine unmittelbare Gefahr, obwohl die Zahl der Infizierten nicht zurückgeht.
Eine der Ursachen dieses Schwebezustands liegt in den Risikogruppen. Sie bilden ein festes Reservoir, welches durch gelegentliche Kontakte für Neuinfektionen sorgt. Außerdem ermöglichen seit einigen Jahren Medikamente den Patienten längere Lebensdauern. Gelingt es, diese Risikogruppen (durch Rückführung in stabile Lebensverhältnisse) zu verringern oder zumindest zu schützen, so lässt sich das Virus schließlich zum Verschwinden bringen.
Funde aus medizinischen Archiven im urbanen Großraum Brazzaville-Léopoldville lassen vermuten, dass sich das Virus auch dort in einer Risikogruppe - den Prostituierten - verankert hat, die in den Jahrzehnten zuvor kräftig angewachsen war. Von einer weiträumigen Epidemie konnte noch keine Rede sein, sonst hätte man mehr Material gefunden. Doch die genetische Vielfalt der wenigen frühen Gewebeproben wies darauf hin, dass bereits zuvor eine verzweigte Evolution stattgefunden haben musste - mit einer größeren Anzahl Infizierter.
Die Städte wurden zu Knotenpunkten eines international ausgebauten Verkehrsnetzes, über Wasserstraßen, Eisenbahnen und Straßen. Das Virus war sicher etabliert und zum nächsten Sprung bereit.
Dr. Raj Spielmann ist Mathematiker und Autor des Buches "Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik. Mathematische Anwendungen in Natur und Gesellschaft", das im Verlag Walter De Gruyter erschienen ist.