Blindflug des Geistes

Was heißt (technische) Medientheorie?

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Das Gespräch von Geert Lovink mit dem Hartmut Winkler hat bereits heftige Diskussionen im Internet aufgerührt. Es geht dabei auch um den Ansatz einer kritischen Medientheorie in Deutschland. Wo aber soll sie ansetzen? Bei den Inhalten, wie man dies früher gemacht hat, oder bei den technischen Gegebenheiten der Medien, die jeden Inhalt überformen? Gibt es so etwas wie eine deutsche Medientheorie? Rudolf Maresch nimmt Stellung zur Diskussion.

Gespräch von Geert Lovink mit Hartmut Winkler über Medientheorie und den Computer als Medium oder als Rechner

Rudolf Maresch

Ein Kommentar mit Klarstellungen

"Medien bestimmen unsere Lage."

Mit dieser lapidar formulierten, seine Forschungsergebnisse focusartig verdichtenden Aussage begann vor zehn Jahren das zunächst von der Zunft wenig beachtete Buch Grammophon Film Typewriter (Brinkmann & Bose Verlag, Berlin) des Berliner Literaturwissenschaftlers Friedrich Kittler. Sie präzisierte das vom ihm zuvor nur plakativ betriebene Programm der Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften von 1980.

Was unter dem Eindruck der strukturalistischen Invasion zunächst als nochmalige Verschiebung der Beobachterebene, weg von den Innenperspektiven triefender Seelen und heroisch handelnder Helden und Heldinnen literarischer Erzählungen, Geschichten und Dramen hin zu einem Denken des Außen(Michel Foucault) erschien, wurde exakt benannt. Das Medium als Boten und Botschaften teilende und sich dadurch zugleich mitteilende Instanz wird Gegenstand und Leitthema einer neuen, künftigen Epistemologie. Daß dadurch auch die Schnittstelle der von der Moderne exekutierten Trennung in Natur und Kultur (B. Latour), von Geist und Technik neu markiert und daß der längst fällige Paradigmenwechsel in den Humanwissenschaften, von den Achtundsechzigern in gemeinschaftlicher Aktion mit ihren Kollegen von der geisteswissenschaftlichen Fraktion lange Zeit erfolgreich verhindert, eingeläutet wurde: diese Einsichten beginnen sich erst jetzt, nachdem der Einbruch des Digitalen das gesellschaftliche Feld neu strukturiert, allmählich durchzusetzen.

Mußte Lacan noch von der mobilen Materialität des Signifikanten sprechen, in dessen Zwischenräumen sich das Subjekt als sinn- und bedeutungssetzendes Wesen konstituiert, und Foucault sich mit asketischem Eifer in die staubigen Archive der Bibliotheken vertiefen, um danach nur noch ein leeres Feld des Sprechens übrigzulassen, so rückt der Medientheoretiker heute diese antihumanistischen ProGrammatiken in den universellen Kontext von Nachrichtentechniken.

Die bevorstehende Vereinfachung und Vereinheitlichung des Mediensystems durch digitale Übertragungsnetze verlangt, Text und Sinnhorizonte durch ein Netzwerk aus Medientechniken und Institutionen zu ersetzen und an die Stelle von Schriftzeichen, Diskursregeln und Bibliotheksordnungen einen verallgemeinerten Begriff der Post treten zu lassen. Medientechnologien, die Muster der Wahrnehmung und Erfahrung vorgeben, nicht Reflexion und Selbstbewußtsein, legen nämlich die Normen und Standards fest, die einer existierenden Kultur die Auswahl, Speicherung und Übertragung relevanter Daten erlauben. Erst sie verwandeln Menschen in Subjekte. Nach diesen materiellen, technischen und historischen Ermöglichungsbedingungen gesellschaftlicher Kommunikationen zu fragen, bedeutet, jene medientechnischen Blindheiten zu entziffern, die Wissen und Macht jahrtausendelang kennzeichnete, den Blindflug des Geistes ermöglichte und die Humanwissenschaften seit den Tagen ihrer Erfindung um 1750 sprechen machen.

Nun kann der Medientheoretiker aber nicht mehr wie weiland Moses vor dem heiligen Felsen der Gutenberg-Galaxis stehenbleiben. Die medientechnischen Eskalationen zwingen ihn, ihren Horizont in Richtung Optik (Icons) und Akustik (Sound) zu überschreiten. Da fortan nicht mehr bloß überlieferte Sprachen und Schrift(en) das kollektive Gedächtnis aufzeichnen und formen, sondern es zunehmend von bild- und tonverarbeitenden Datenträgern magnetisiert, gestaltet und aufbereitet wird, hat es der Forscher künftig ebenso mit Geräuschen und Farben, Ziffern und Frequenzen, Halbleitern und Blaupausen zu tun wie vormals mit Steinen, Hieroglyphen und Papyrus.

Freilich lädt sich die Medientheorie mit ihrer Entscheidung, die Beobachtung tiefer anzusetzen und den unmarkierten Raum von Wissen und Erinnerung auszuleuchten, einen dicken Brocken auf ihre Schultern. Sie muß nämlich mit jenem Paradox fertigwerden, das Heidegger zum Wesen der Technik erklärt hat. Unlesbare Zahlenreihen, die zwischen vernetzten Computern zirkulieren, Schaltpläne, die hinter tiefgestaffelten Benutzeroberflächen verborgen bleiben, und Informationsströme, die dem unerlaubten Zugriff durch den untrusted user entzogen werden, operieren nämlich weit unter- bzw. oberhalb menschlicher Sinneswahrnehmung. Die Beschreibung und Zurechnung eines solchen Datentransfers fällt dem (menschlichen) Beobachter nicht nur schwer - er kann auch nur von immer leistungsfähigeren Rechenmaschinen wahrgenommen, verarbeitet und gespeichert werden.

Daß dabei nur noch Erzählungen übrigbleiben, Rückblicke darauf, wie es möglicherweise gewesen sein könnte, die andererseits aber durch das genaue Recherchieren der Faktizitäten der Wissenschaftsgeschichte als Kriegsgeschichte kompensiert werden, scheint vor allem linke Kritiker zu empören. Die Einsicht, auf der Oberfläche der Screens nur mehr Narratives, Semantiken also, vorzufinden, verführt so manchen Enkel Adornos dazu, der Medientheorie glatt mythische Züge zu unterstellen. Dies ist so weit nicht ganz falsch, als Medien tatsächlich wie Mythen funktionieren. Für Medien, erst recht unter fortgeschrittenen Medienbedingungen, gilt, was Marx als vertracktes Ding mit theologischen Mucken am Ende eines langen Bücherstudiums an der Ware entdeckt und mit guten Gründen als Warenfetisch bezeichnet hat. Die Akteure agieren als ob. Sie glauben, mit naturwüchsigen Dingen zu handeln, tatsächlich realisieren und reproduzieren sie durch die Form des Warentausches aber gesellschaftliche Beziehungen. Sie wissen das nicht, aber sie tun es, wie es im Kapital süffisant heißt. Gerade die Unbeobachtbarkeit des Mediums, die Weise, wie es schaltet und umformt, was es teilt und entbirgt (Heidegger), ist es aber, was seine Souveränität ausmacht.

Gerade die Unbeobachtbarkeit des Mediums, die Weise, wie es schaltet und umformt, was es teilt und entbirgt (Heidegger), ist der Grund seiner Souveränität. Insofern wissen wir natürlich heute schon, was Medien sind (H. Winkler) und wie sie funktionieren. Der powerful user spielt dabei aber keine Rolle.

Und noch eines scheint die kritischen Kritiker in helle Aufregung zu versetzen: Motiv und Methode der Medientheorie, Kommunikationstechnologien distanz- und mitleidlos als reinen Sachverhalt zu beschreiben, sie jenseits des Phantoms eines subjektiv-gesellschaftlichen Willens zu situieren. Schnell machen erneut die bösen Worte von Affirmation, Verantwortungslosigkeit und Mangel an richtiger Gesinnung die Runde. Wieder einmal wird der Bote dämonisiert, der Kurier für die Überbringung schlechter Botschaften geschlagen.

Was aber das Kriterium der Kritik, das Pathos der Distanz ist, bleibt eher diffus. Wäre es bekannt, so könnte zumindest darüber diskutiert werden, ob es überhaupt eine distanzhafte Haltung zur, ein kritisches Denken der Technik geben könne. Ein besserer Mensch zu sein, genügt dafür nicht, auch nicht das modische Hantieren mit moralischen Gewißheiten. Das Moralisieren von Diesem und Jenem, so sehr es das Abhandenkommen jeder gesellschaftspolitischen Perspektive übertüncht (die Vorkommnisse in den Redaktionsräumen der Zeitschrift Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte im April dieses Jahres, von den Printmedien breit ausgetreten, verdeutlichen das), ist aber ein Medieneffekt. Nach der Erfindung des Begriffs der sexuellen Belästigung sollte man endlich auch den Tatbestand der moralischen Belästigung einführen.

Was nun das von Geert Lovink mit dem Frankfurter Medientheortetiker Hartmut Winkler geführte Gespraech angeht, so stören daran nicht die Einschätzungen, Deutungen und Urteile der Sprecher. Sie sind bisweilen interessant, regen zur Diskussion an und sorgen vielleicht dafür, daß sich die Leute in die Netze wagen. Zu beanstanden sind aber die ins Netz transportierten Fehlinformationen über diese Theorie.

Die technische Medientheorie hat, wie oben hoffentlich deutlich wurde, nichts mit Yuppietum, 89er Fake oder sogar Postmoderne zu tun. Alle ihre grundlegenden Sätze und Aussagen sind vor dieser Zeit entstanden. Ein kurzer Blick in einschlägige Sammelbände (im Fink Verlag/München oder im Westdeutschen Verlag/Opladen erschienen) oder markante Aufsätze in den Zeitschriften Spuren oder Fragmente wird darueber schnell aufklaeren.

Auch laboriert die Theorie nicht an politischen Enttäuschungen oder versteht Technik gar als Fluchttraum vor den Zumutungen des Sozialen. Vielmehr geht es ihren Protagonisten um die Reflexion des genuinen Zusammenhangs von Medientechnik und Gesellschaftsform, Kommunikationsform und Imperium, Technologie und Macht, vom Kanadier Harold A. Innis zum ersten Mal im Jahre 1950 in seinem leider noch unübersetzten Buch Communications & Empire genauer problematisiert.

Durch die Analyse der medial-technischen Dispositive, der Chiparchitekturen, von den Gesellschaftstheoretikern von M. Weber bis N. Luhmann verdrängt, soll das Soziale - was immer das auch sei - gerade aufgeschlossen werden, ein Umstand, der, seitdem die Menschen immer mehr mit unmenschlichen Systemen kommunizieren, sie von den technischen Parametern der Kommunikation geformt und geeicht werden, auf der Hand liegen sollte.

Genauso wird die Globalisierung (der Märkte) nicht ausgespart. Sie ist implizit in der Theorie enthalten. Wird nämlich das maschinelle Signalprocessing zur allein bestimmenden Übertragungsform, beschränkt sich Kommunikation nicht mehr bloß auf die Aufgabe der Nachrichtenuebermittlung, sondern kann auch auf die Gebiete des Verkehrs von Personen und Gütern ausgedehnt werden. Unter den Bedingungen einer auf Elektronik basierten Technologie, den sogenannten CPU's, geraten Nachrichten zu Befehlen, Personen zu Adressen und Güter zu Daten. Inklusion und Exklusion, Online und Offline, Knoten und Peripherien-Bildungen - die neuen Beschreibungsmerkmale der globalen Gesellschaft - sind Effekte des immerwährenden Kampfes um Technologien, Informationsvorsprung und Kommunikationshoheit. Sie sind nur mit der Kategorie Macht reformulierbar. Welcher Machtbegriff dazu am geeignetsten ist, ob der Foucaultschen oder der C. Schmittsche, ist die theoretisch interessante Frage, die künftig zu beantworten sein wird.

Zuguterletzt gibt es weder ein Zentrum noch eine lokal operierende Gruppe. Kassel ist nur ein Ort auf dem Globus. Freiburg und Dubrovnik, Siegen und Baltimore, Bochum und Berlin, Leipzig und Stanford, die Heimatuniversität von Silicon Valley ergeben mit Kassel ein aus vielen Knoten gewebtes Netzwerk. Darum verfehlt die Beifügung "deutsch" zur Kennzeichnung dieser technisch argumentierenden Medientheorie ihren Gegenstand, zumal in gut unterrichteten Kreisen bekannt ist, daß die"geistige" Verwandtschaft zwischen F. Kittler und P. Virilio minus christlicher Erlösungsvorstellungen, zwischen Berlin und Paris sehr eng ist. So what the fuck is German?