USA wächst mit Staatsschulden, Europa stagniert mit Sparkurs

USA-Luftpumpe bläst Ballon mit "Dollarpfeil nach oben" auf; EU-Ballon mit Pfeil nach unten

USA und Europa verfolgen unterschiedliche Ansätze: Washington erhöht Staatsausgaben, Brüssel setzt auf Schuldenbremse. Die Zahlen zeigen klar, wer vorn liegt.

Es ist wirklich paradox: In den USA, in denen man erfolgreich seit Jahrzehnten voll auf den Staat setzt, um die Wirtschaft am Laufen zu halten, rufen die milliardenschweren Berater von Donald Trump nun nach einer radikalen Verkleinerung des Staatseinflusses.

Die Libertären wie Elon Musk und Peter Thiel glauben nämlich, wie ihr argentinisches Vorbild Javier Milei, fest daran, dass nur mit einem Rückzug des Staates im Rahmen einer radikalen Entziehungskur die Marktwirtschaft wiederbelebt und dynamisiert werden kann.

Ob Trump diese Radikalkur wirklich kauft, ist eine vollkommen offene Frage. Vermutlich ahnt er angesichts der Erfahrung seiner ersten vier Jahren, wie stark die USA von staatlichen Impulsen via staatliche Schulden abhängig sind.

In Europa, wo man weder begriffen hat, welche Rolle der Staat in den USA gespielt hat und welche Rolle er in Europa spielen müsste, werden die Neoliberalen à la Merz und Lindner jedoch die Initiativen der Radikalreformer zum Anlass nehmen, um noch heftiger in ihr libertäres Horn zu stoßen.

Europa ist in den vergangenen beiden Jahrzehnten weit hinter den USA zurückgeblieben (wie in meinem neuen Buch, aus dem das Bild stammt, im Detail gezeigt), weil der Staat dort eine Rolle gespielt hat, die von den europäischen Normen glatt verboten worden wäre. Betrachtet man die Wachstumsraten seit 2010, ist das europäische Versagen offenkundig:

Infografik Wirtschaftsentwicklung USA und EU

Die USA erzielten im Durchschnitt einen Zuwachs des gesamtwirtschaftlichen Einkommens von 2,2 Prozent pro Jahr zwischen 2010 und 2023, die Europäische Währungsunion schaffte gerade einmal 1,2 Prozent. In den USA stieg zur gleichen Zeit, wie die zweite Abbildung zeigt, die Staatsverschuldung von 85 auf 120 Prozent des BIP, in der EWU stagnierte sie bei etwa 90 Prozent.

Es kann überhaupt kein Zweifel daran bestehen, dass die zunehmende Staatsverschuldung in den USA einerseits unumgänglich und andererseits ursächlich für den amerikanischen Erfolg war.

Infografik Staatsschulden und -defizit der USA

Unter den derzeit gegebenen Bedingungen beim Sparen und Verschulden der einzelnen Sektoren der amerikanischen Volkswirtschaft (u. a. hier und hier erklärt), gibt es in den USA logischerweise keine andere Möglichkeit, für eine befriedigende Nachfrageentwicklung zu sorgen als durch steigende Staatsschulden.

Sollten sich die libertären Milliardäre durchsetzen und sollte die zweite Regierung Trump versuchen, die Finanzpolitik umzudrehen, wäre das das Ende der amerikanischen Dynamik und der amerikanischen Überlegenheit. In dem Fall kann man allerdings davon ausgehen, dass Trump die Libertären schnell vom Hof jagt und wieder Schulden macht, so wie er das in seiner ersten Amtszeit schon praktiziert hat.

Warum sind Europa und Deutschland so uneinsichtig?

Europa fällt umso mehr zurück, je stärker sich bei den kommenden Wahlen in Deutschland die konservativen Kräfte um Merz und Söder durchsetzen. Sollte gar Lindner wieder Bundesfinanzminister werden, wäre das der GAU für eine rationale Finanzpolitik.

Für Europa ist in diesen Tagen wirtschaftliche Inkompetenz noch gefährlicher als für die USA, weil die USA immerhin noch das Ventil des Außenhandels haben. Gelänge es der zweiten Trump-Administration tatsächlich, durch Zölle oder eine Schwächung des Dollars die Leistungsbilanzdefizite erheblich zu reduzieren, brächte das für den Staat eine gewisse Entlastung.

Europa kann dabei nur verlieren. Deutschland mit seinem immer noch exorbitanten Leistungsbilanzüberschuss würde dabei endgültig in die Knie gehen.

Aber nicht nur die Konservativen, auch die deutschen Sozialdemokraten fahren auf der falschen Spur. In dem vom Parteivorstand vor einigen Wochen beschlossenen Papier heißt es gleich zu Beginn:

Nach zwei Jahren ohne wirtschaftliches Wachstum geht es für unser Land um sehr grundsätzliche Fragen. Die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und Europas muss sich in vielen Bereichen verbessern. Auf europäischer Ebene bieten die Berichte von Mario Draghi und Enrico Letta dafür wichtige Anknüpfungspunkte.

Auch in dem Papier ist die Idee, die internationale Wettbewerbsfähigkeit noch weiter zu erhöhen, absolut dominant. Dagegen kommt das Wort "Nachfrage" nicht einmal vor.

Das ganze parteiübergreifende Gerede in Deutschland und Europa von der "Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit" ist nicht mehr als eine hohle Phrase, weil es keine Möglichkeit gibt, einen Handelskrieg gegen die USA zu gewinnen und der Versuch, gegenüber China die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern, ohnehin zum Scheitern verurteilt ist (wie hier gezeigt).

Aber auch wenn man nicht den deutschen Irrweg der Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit geht, ist man noch nicht am Ziel. In Europa gibt es noch ganz andere Vorstellungen davon, wie man Wachstum generieren kann, ohne staatliche Schulden zu machen.

Ich war Mitte September in Italien zu einer Konferenz eingeladen, wo ich die makroökonomischen Zusammenhänge zu erläutern versuchte, aber es war vergeblich. Unmittelbar vor mir sprach der frühere sozialdemokratische Ministerpräsident Enrico Letta und unmittelbar nach mir der konservative italienische Außenminister Tajani.

Beide beharrten auf der Idee, man könne z. B. mit einer intelligenten Politik für die kleinen und mittleren Unternehmen, die zudem fast nichts kostet, das Wachstum anregen und danach die Staatsverschuldung reduzieren.

Auch da steht die Welt auf dem Kopf. Es gibt keine Möglichkeit, die Wirtschaft anzuregen, wenn man das grundlegende Nachfrageproblem der heutigen Volkswirtschaften nicht löst. Auch in Italien ist der gesamte Privatsektor per Saldo in hohem Maße Sparer. Folglich lebt das Land unter einem permanenten Rezessionsdruck, den nur der Staat durch neue Schulden aufheben kann.

In der FAZ hat kürzlich der neue französische Finanzminister Armand gesagt, die Reduzierung der öffentlichen Schulden habe höchste Priorität für die Regierung Barnier. Aber er hat mit keinem Wort zu erkennen gegeben, dass er jemals etwas von den relevanten gesamtwirtschaftlichen Zusammenhängen gehört hat.

Im Gegenteil, wenn er sagt, die Kürzung von Staatsausgaben sei schwierig, weil sie negative Folgen für die Menschen haben, zeigt er, dass er auf dem Niveau der schwäbischen Hausfrau verharrt.

Er hätte gerade den FAZ-Journalisten, die seit Jahren mit unglaublicher Sturheit gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge leugnen, sagen müssen, dass die Kürzung von Staatsausgaben exakt zum Gegenteil des Beabsichtigten führt.

Sie verschlechtert über die Verringerung der Nachfrage die Lage der Unternehmen und folglich die gesamtwirtschaftliche Situation. Das aber verschlechtert die Haushaltssituation des Staates und verbessert sie nicht. Die Kürzung von Staatsausgaben aller Art ist nicht "schwierig", sie ist unter den gegebenen Umständen unsinnig.

Nachfrage heißt das Problem, nicht Wettbewerbsfähigkeit

Große, weitgehend geschlossene wirtschaftliche Räume wie die USA und die Europäische Union müssen in der Lage sein, die Nachfrage selbst zu generieren, die sie benötigen, um Vollbeschäftigung herzustellen.

Wie ein einzelner Unternehmer darauf zu setzen, man könne andere – via Verbesserung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit – von den Märkten der Welt verdrängen, wenn man selbst ein gewaltiger Teil dieses Marktes ist, ist einfältig. Folglich war schon der von der Europäischen Kommission gewählte Ansatz, Mario Draghi und Enrico Letta damit zu beauftragen, Vorschläge zur Verbesserung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit zu machen, von vorneherein verfehlt und Ausdruck der Konfusion in der Spitze der Europäischen Kommission.

Der Report von Draghi und Letta adressiert nicht die zentrale Frage der Schaffung endogener Nachfrage, obwohl er sich in seinen Schlussfolgerungen für mehr Staatsausgaben und für mehr europäische Verschuldung ausspricht.

Alle, die darauf beharren, man müsse auf der Angebotsseite ansetzen, um die wirtschaftlichen Probleme zu lösen, bleiben auf der Ebene des Betriebswirts, des Managers oder eben der schwäbischen Hausfrau. Sie unterstellen, zumeist ohne es wirklich besser zu wissen, es gebe kein Nachfrageproblem, weil "die Märkte" für eine effiziente Umwandlung von Ersparnissen in Investitionen sorgen. Das ist das entscheidende Missverständnis und der gravierende Fehler der herrschenden Ökonomik.

Diese Umwandlung setzt zwingend voraus, dass sich der Unternehmenssektor wie in den 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts per Saldo verschuldet und investiert. Wer nicht zur Kenntnis nimmt, dass sich hier seit Beginn des Jahrhunderts eine einschneidende Veränderung ergeben hat, weil die Unternehmen per Saldo sparen, kann überhaupt keine kompetente Aussage machen.

Es ist geradezu grotesk, wie weit die empirischen Befunde zum Zustand der deutschen Wirtschaft von den in der Politik diskutierten Befunden abweichen. Anfang dieser Woche meldete das ifo-Institut, dass der Nachfragemangel in der deutschen Wirtschaft derzeit fast so groß ist wie zu Zeiten der globalen Finanzkrise 2008/2009.

Infografik Kapazitätsauslatung der Gesamtwirtschaft

Über 40 Prozent aller Unternehmen leiden darunter. Und die Kapazitätsauslastung in der Gesamtwirtschaft (siehe Graphik aus der Gemeinschaftsdiagnose vom Herbst 2024), die ebenfalls vom ifo-Institut berechnet wird, nähert sich den Werten, die in den großen Rezessionen der Vergangenheit erreicht wurden. Aber Ideologie und politische Feigheit lassen sich bekanntlich nicht von Fakten beeindrucken.