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Blindflug und ein fragwürdiges Narrativ

Andreas von Westphalen

Der Ton wird generell schärfer und aggressiver in Deutschland. Während die Schuld an der Krise oftmals eindeutig den Ungeimpften zugeschoben wird, gehen wichtige Fragen und Aspekte der aktuellen Krise unter. (Teil 2)

In seinem ersten Interview als Bundeskanzler erklärt Olaf Scholz [1] kategorisch: "Wir haben eine hohe Impfquote. Wir haben nur nicht eine ausreichend hohe Quote, um zu verhindern, dass von den Ungeimpften jetzt die Infektionen über uns alle wieder kommen."

Es erstaunt ein wenig, dass der Bundeskanzler ein so eindeutiges Urteil fällt, die Ungeimpften seien der Ursprung der derzeitigen Explosion der Ansteckungen. Mit anderen Worten, die Infektionen der Geimpften seien also die Folge der Ansteckung durch Ungeimpfte. Wie man in einer laufenden Pandemie überhaupt von einem Ursprung sprechen kann – abgesehen vom berühmten Patienten Null – erschließt sich nicht ganz.

Einmal mehr gibt es in dieser scheinbar eindeutigen Aussage, wer der Pandemietreiber sei, aber eine wichtige Unbekannte. Vergleicht man nämlich die Wahrscheinlichkeiten beider Gruppen, vergleicht man in Wirklichkeit zwei objektiv ungleiche Gruppen, ohne dies jedoch ausdrücklich zu betonen.

Da sich Geimpfte nicht testen lassen müssen und Ungeimpfte dies oftmals sogar täglich tun (müssen), ist zum einen schlicht aufgrund der unterschiedlichen Testhäufigkeit eine deutliche höhere Infektionsrate bei Ungeimpften zu erwarten.

Zum anderen werden aber auch asymptomatisch infizierte Geimpfte – im Gegensatz – zu Ungeimpften nicht gemeldet. Auf Nachfrage von Telepolis konnte das RKI keine Zahl der asymptomatisch infizierten Geimpften in Deutschland nennen.

Blindflug

Betrachtet man die derzeitige Explosion der Infektionszahlen scheint sie rein logisch nur teilweise durch die Infektion von Ungeimpften begründet zu sein. Die Ausführungen von Prof. Alexander Kekulé vom Anfang September [2] sind in dieser Hinsicht geradezu prophetisch und lohnen ein längeres Zitat:

Hinzukommt, dass sich Geimpfte und Genesene im Vertrauen auf ihren vermeintlich sicheren Impfschutz eher unvorsichtig verhalten. Wenn sie sich dann anstecken, vermuten sie häufig keine Corona-Infektion, isolieren sich nicht und lassen sich auch nicht testen. Während die häufig proklamierte "Welle der Ungeimpften" anhand der Tests und Krankenhauseinweisungen sichtbar und berechenbar ist, rauscht die Welle der Geimpften wie ein Tarnkappen-Bomber durch die Bevölkerung. Die Vorstellung des RKI, dass dies für die Epidemie unbedeutend wäre, ist eine Illusion: Außerhalb der 2G-Gaststätten treffen geimpfte Infizierte natürlich ständig mit Ungeimpften zusammen. Das 2G-Modell schützt deshalb Ungeimpfte nicht, sondern setzt sie, im Gegenteil, durch steigende Inzidenzen einem höheren Infektionsrisiko aus. Wenn sich das Virus dann massiv unter Kindern und Jugendlichen ausbreitet, sind Schulschließungen vorprogrammiert. Für die große Freiheit der Großen zahlen am Ende die Kleinen.

Alexander Kekulé

Monokausales Denken

In der Konsequenz zeigt sich auf jeden Fall, dass die Impfung leider deutlich kürzer vor einer Erkrankung und einer möglichen Weitergabe schützt als erhofft. Ganz in diesem Sinne warnt Günter Kampf (Universität Greifswald) [3] in einem offenen Brief in der renommierten Fachzeitschrift The Lancet, dass die Stigmatisierung der Ungeimpften nicht gerechtfertigt sei.

Interessant auch in diesem Zusammenhang ein Artikel aus dem Deutschen Ärzteblatt, der auf die Parallelen zur Entwicklung in Israel verweist [4] und die Bedeutung der Impfdurchbrüche dort betont:

Israel war im Dezember letzten Jahres eines der ersten Länder, das die Bevölkerung gegen COVID-19 geimpft hat. Die Impfquote war hoch und das Land schien gegen weitere Erkrankungswellen geschützt. Doch im Juli stiegen die Infektionszahlen wieder rasch an. Getragen wurde die 3. Welle vor allem durch zahlreiche Impfdurchbrüche.

Deutsches Ärzteblatt

Es ist zweifellos richtig, dass dank der Impfung deutlich weniger Infizierte nun auf der Intensivstation eines Krankenhauses landen oder an Sars-CoV-2 versterben. Die Wahrscheinlichkeit nach einer Erkrankung einen gravierenden Krankheitsverlauf zu erleiden, ist definitiv gesunken.

Außer Zweifel steht aber auch, dass die aktuelle Explosion der Infektionszahlen kaum nur durch Ungeimpfte, die 27 Prozent der Deutschen darstellen, zu erklären sind.

Woraus unmittelbar einsichtig sein sollte, dass eine einseitige Schuldzuweisung an die Ungeimpften deutlich zu kurz greift, wonach sie der Grund für die aktuelle Krise seien und die Tatsache, dass das Versprechen nicht eingehalten wurde, demzufolge nach einer breit angelegten Impfung die Herdenimmunität erreicht (die mal bei 70 Prozent angesetzt wurde [5]) werden würde und die Gesellschaft wieder zur Normalität zurückkehren könne.

Vorhersehbarkeit der Pandemie

Angesichts der Aggression in der derzeitigen Situation und der weitverbreiteten Überzeugung, wer der Schuldige sei, ist bemerkenswert, dass die explodierenden Infektionszahlen keineswegs überraschend kamen. Ein Blick im Sommer hätte für diese Erkenntnis ausgereicht.

Obwohl seit Ende Juni dieses Jahres aufgrund der Zahlen in Israel bekannt war [6], dass die Wirkung der Impfung stark nachlässt und damit die Gefahr sich von Monat zu Monat erhöht, dass sich Geimpfte infizieren und so auch die Infektion weitergeben konnten, wurde von Politikern und Medien zur gleichen Zeit fast unisono das Narrativ verbreitet, mit der Impfung sei im Prinzip die Gefahr eine Infektion gebannt und Geimpfte nicht mehr Teil des Infektionsgeschehens. Und die Herdenimmunität in Sicht.

Dieses Versprechen der Regierung kritisiert Prof. Alexander Kekulé in einem Interview scharf [7]:

Ich würde (...) von einem falschen Versprechen der Bundesregierung reden. Es wurde suggeriert, dass Geimpfte wieder ein völlig normales Leben führen könnten. (…) Geimpfte glauben, sie seien sicher. Man hat sie falsch informiert.

Die linke Bundestagsabgeordnete Sahra Wagenknecht geht in der Neuen Züricher Zeitung noch einen Schritt weiter:

Es kommt dem Straftatbestand einer unterlassenen Hilfeleistung gleich, dass die Bundesregierung seit Sommer von der abnehmenden Effektivität der Impfstoffe wusste, die Menschen darüber aber bis heute kaum aufklärt, sondern mit 2G in einer Scheinsicherheit wiegt, und von einer "Pandemie der Ungeimpften" schwadroniert, um von ihrem eigenen Versagen abzulenken.

Sarah Wagenknecht

Konsequenzen eines Narratives

Das Narrativ der Regierung, es wäre einfach, Corona durch die Impfung zu besiegen, war in seiner Schlichtheit und Eindimensionalität bereits im Sommer durch die Erfahrungen in Israel bekannt.

Aber anstatt das notwendige Boostern gerade für die Risikogruppen vorzubereiten und transparent auf die Gefahr vor Impfdurchbrüchen hinzuweisen, sodass alle Menschen sich entsprechend verhalten, hat es den beunruhigenden Anschein, dass die einzige Politik in der Aufrechterhaltung des eigentlich widerlegten Narratives bestand und besteht.

Das Narrativ, Impfung sei der einzige Schlüssel, erklärt, warum grundsätzlich Genesene überhaupt keine Rolle im Diskurs spielen und nicht einmal die Anzahl der Genesenen in Deutschland bekannt ist.

In derselben Hinsicht kann man das Desinteresse an einer intelligenten Nutzung des Antikörpertests sehen, wie es Karl Lauterbach und Hendrik Streeck gefordert haben [8].

Und insbesondere die Entscheidung, dass Genesene nur sechs Monate geschützt sein sollen (obwohl die Studienlage von einem deutlich längeren Zeitraum ausgeht [9]), wohingegen Geimpften zwölf Monate Schutz versprochen wurde, was aber bereits im Juli nicht mehr dem Stand der Wissenschaft entsprach.

Das Narrativ liegt vermutlich auch der Entscheidung zugrunde, dass Geimpfte grundsätzlich keinen Test benötigen. Die Entscheidung, 2G einzuführen, obwohl 2G vermutlich unsicherer ist [10] als 3G (nachzulesen auch hier [11] und bei Marcel Salathé von der ETH Lausanne [12]), war ein weiterer Schritt in der Logik dieses Narratives.

Die Einführung des Lockdowns für Ungeimpfte ist folgerichtig, aber ebenso widersinnig. Denn wie kann es epidemiologischen Sinn ergeben, dass Geimpfte sich weiterhin nicht testen lassen müssen, obwohl die Impfdurchbrüche stark zunehmen und durch den Ausschluss der Ungeimpften ein falsches Gefühl von Sicherheit erhalten.

Als Beleg für diese dadurch erzeugte Gefahr sind die erleichterten Aussagen [13] viele Menschen, endlich dank 2G "unter sich" und "entspannt" sein zu können [14].

Die mitschwingende Aussage ist klar: Die Ungeimpften sind schuld, daher dürfen sie nicht rein. Drinnen herrscht jedoch keine Testpflicht, keine Maske, kein Abstand. Draußen herrscht Kälte.

Kurzfristige Lösungen

Es steht außer Zweifel, dass die schwierige Situation in den Krankenhäusern schnelle und kurzfristige Lösungen braucht. Eine Impfpflicht – Frank Ulrich Montgomery befürwortet sogar eine Impfpflicht für Kinder [15], sobald die Ständige Impfkommission eine Impfempfehlung für diese Gruppe ausgesprochen hat – wäre aber keinesfalls eine kurzfristige Lösung, weil erst zwei Wochen nach der zweiten Impfdosis der Impfschutz vollständig einsetzt.

Eine Impfpflicht müsste zudem juristisch vorbereitet werden, sodass sie erst im Frühjahr beginnen könnte und vermutlich erst im Mai, Juni konkrete Ergebnisse zeigen würde.

Daher erstaunt es, wie sehr derzeit Politik und Medien sich auf diese Forderung fokussieren, auch wenn rein logisch die Vorteile dieser Lösung kaum etwas zur Verbesserung der aktuellen Situation in den Krankenhäusern beitragen können.

Zwei kurzfristige Lösungen bieten sich hingegen unmittelbar an, die jedoch deutlich weniger Beachtung finden: Es erscheint sinnvoll, sich besonders auf die Risikogruppen zu konzentrieren und ihren Schutz zu sichern.

Daher sollte das Angebot zur dritten Impfung für Menschen der Risikogruppe schnell ausgeweitet und die Organisation des Impfangebots gerade auch in Alters- und Pflegeheime vor Ort organisiert werden.

Es sieht jedoch leider so aus, dass einmal mehr die Organisation der dritten Impfung arg holpert und stark zu wünschen übrig lässt [16]. Wäre es daher nicht sinnvoller, die Impfung der Risikogruppen und deren Schutz zu priorisieren, anstatt den Druck auf Ungeimpfte möglichst stark zu erhöhen?

Schutz des Gesundheitssystems

Der Schutz des Gesundheitssystems ist offiziell die entscheidende Motivation der Corona-Maßnahmen. Letztendlich werden alle Maßnahmen mit den begrenzten Betten gerade auf den Intensivstationen deutscher Krankenhäuser begründet.

Dieses Ziel ist zweifellos richtig. Zweifellos richtig ist aber auch, dass die Situation deutscher Krankenhäuser auch ohne eine vierte Welle massiv gelitten hat. 6.300 Intensivbetten gingen innerhalb eines Jahres verloren [17].

In den ersten zehn Monaten des Jahres waren es allein deutlich über 4.000 Betten [18] laut dem Präsidenten der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi), Gernot Marx [19].

Der Grund: Fehlendes Pflegepersonal. Jede Pflegerin und jeder Pfleger, die aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen das Handtuch schmeißen, führt zum Verlust von 2,5 Intensivbetten.

Sebastian Köhler kommentierte hierzu [20] auf Telepolis:

Das heißt, ohne die dramatische Lage für jeden Einzelfall damit zu leugnen, dass das Drama gesamtgesellschaftlich ganz wesentlich vom massiven Notstand in der (Intensiv-)Pflege bestimmt sein dürfte.

Sebatsian Köhler

Die Stellungnahme des DIVI "zur Stärkung und Zukunft der Intensivpflege" vom 1. April [21]dieses Jahres – also, vor gut acht Monaten – findet sehr klare Worte:

Die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte müssen sich dringend ändern. (….) Wenn wir jetzt nichts tun, und die Pflegekräfte gehen, dann bekommen wir ein existentielles Problem in der Intensivmedizin! (…) Es gibt kein Intensivbett ohne Pflege! Wir Ärzte stehen nicht den ganzen Tag am Bett der Patienten – das sind die Pflegenden.

Was ist in diesen acht Monaten geschehen? Und: Warum ist das Versäumnis in diesen achten Monaten kein Thema? Weder im Wahlkampf noch heute?

Es brennt

Die fragile Situation in deutschen Krankenhäusern ist also keineswegs über Nacht gekommen. In einem Brandbrief der Intensivpfleger der landeseigenen Vivantes-Krankenhäuser schlagen diese Alarm [22]. Die taz berichtet:

Seit Oktober hätten sie den Brandbrief bereits drei Mal an alle entscheidenden Politiker:innen gesandt, erzählt (die Pflegerin Stella) Merendino. Lediglich Bettina König, SPD-Politikerin und Mitglied des Gesundheitsauschusses, habe überhaupt reagiert – und auch sie habe nur vage zugesagt, sich mit den Forderungen auseinanderzusetzen. "Mein Eindruck ist, dass in der Politik kaum jemand Ahnung besitzt oder auch nur Interesse für die Situation in den Notaufnahmen zeigt", sagt Merendino frustriert. Ihr Eindruck: "Wir werden von Politik und Klinikleitung im Stich gelassen."

Ein Beispiel: "Mehr als 800 Intensivbetten können in der Region Berlin-Brandenburg derzeit nicht genutzt werden [23], weil Fachpersonal fehlt. Manche sind abgewandert, andere in Teilzeit - und viele erkrankt. Die Kliniken warnen: Die Personalnot ist so groß wie nie während der Pandemie."

Das Ärzteblatt erklärt die Hintergründe der komplexen Situation in den Krankenhäusern [24]:

Demnach wies Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen der Technischen Universität (TU) Berlin, auf das Paradox hin, dass Krankenhäuser einerseits so überlastet wie nie seien, auf der anderen Seite aber jedes dritte Bett leer stehe: "Denn nur rund 450 Krankenhäuser verfügen über die notwendige intensivmedizinische Erfahrung zur Behandlung von Covid-19-Patienten."

Die rund 1.000 weiteren, kleineren Akutkrankenhäuser seien überdurchschnittlich leer, würden zugleich aber Personal binden, das in den anderen Kliniken bei der Corona-Versorgung fehle. "Erneute Maßnahmen zur Sicherung von genügend Intensivbehandlungskapazität sollten sich also an dem Ziel orientieren, dass Intensivkapazitäten in den 450 genannten Krankenhäusern auch wirklich zur Verfügung stehen, also mit Personal ausgestattet sind", mahnte Busse als Mitglied des Fachbeirates des Bundesgesundheitsministeriums. (…)

"Zusätzliche Intensivkapazitäten, insbesondere das zusätzliche, qualifizierte Personal, erfordern auf der einen Seite das Aussetzen aller elektiven Eingriffe und sehr hohe Prämien an alle diejenigen, die entweder frustriert aufgegeben oder aber ihre Stellen reduziert haben", unterstrich er. Gleichzeitig müsse denjenigen, die trotz der unfassbaren Belastung geblieben sind, eine Aufstockung ihres Gehaltes in gleicher Form gewährt werden".

Der Internist Matthias Schrappe betonte in diesem Zusammenhang auf Telepolis [25]:

Wir haben schlicht nachgewiesen, dass die Mittel zur Unterstützung der Krankenhäuser gar nicht bei den Ärzten und Pflegenden vor Ort, also im Behandlungszusammenhang, angekommen sind, sondern zur Verschönerung der Bilanzen und Dividendenzahlungen verwendet wurden.

Es wurden Intensivbetten bezuschusst, die nie aufgestellt wurden, und plötzlich kam es zu einem Pflegekräftemangel - ohne dass aus der politischen Führung entschieden gegengesteuert worden wäre.

Es wäre eine gute Option gewesen, statt mit hängenden Schultern die neuen Zahlenanstiege zu verkünden, eine konzertierte Nationale Pflegekampagne ins Leben zu rufen. Wertschätzung!

Matthias Schrappe in Telepolis

Die Politik hat nun Lösungen für dieses Problem. Allerdings erstaunlicherweise insbesondere von Politikern, die nicht mehr in Amt und Würden sind. Am ersten Tag der neuen Regierung forderte Markus Söder eine Gehaltsverdoppelung für Intensivpfleger [26]. Und vor zwei Wochen schlug Jens Spahn einen Bonus für Intensivpfleger von "5000 Euro plus x" vor [27].

Unabhängig davon ist es so, dass eine kurzfristige Lösung möglich ist: die sofortige deutliche Verbesserung der Arbeitsbedingungen in deutschen Krankenhäusern. Den Pflegerinnen und Pfleger, die ihren Arbeitsplatz gekündigt haben, kann heute ein vernünftiges Angebot gemacht werden, damit sie zu ihrer Arbeitsstelle zurückkommen, wo sie jahrelang Menschenleben gerettet haben.

Wer den Schutz des Gesundheitssystems ernst meint, kann diesen zwingenden Schritt nicht verweigern. Wer den Schutz der Gesundheit der Deutschen ernst meint, kann diesen Schritt ebenfalls nicht verweigern. Warum wird aktuell aber nur die Impfpflicht diskutiert, die rechtlich bedenklich ist und die Gesellschaft extrem spaltet [28], wohingegen eine Verbesserung des Gesundheitssystems, auf das sich alle sollten einigen können, kaum auch nur erwähnt wird?

Aktuell ist nun die Impfpflicht für Personal in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen verabschiedet worden [29].

Es bleibt nur zu hoffen, dass diese Impfpflicht nicht zu einer Kündigungswelle und einer noch dramatischeren Verschlechterung der Krankenhaussituation führen wird, wenn Mitarbeiter, die sich nicht impfen lassen möchten, die Kündigung einreichen. Die Erfahrung aus Frankreich ist hier besorgniserregend. Denn nachdem dort eine entsprechende Pflicht eingeführt worden war, wurden 3.000 Pflegekräfte vom Dienst freigestellt [30].

Demokratie und Gemeinschaft

Inwiefern die aktuelle Lage und die angeführten Tatsachen tatsächlich die Schlussfolgerung zulassen, die aktuelle Situation sei glasklar einzuschätzen und die Schuld eindeutig und einzig bei den Ungeimpften zu suchen; diese würden die Mehrheit in "Geiselhaft" nehmen und in der Konsequenz sei daher ein Befreiungsschlag der Geimpften gerechtfertigt, der sich nicht zuletzt auch in Form des Lockdowns gegen Ungeimpfte und einer allgemeinen Impfpflicht seinen Ausdruck findet, mag jeder Leser sich für entscheiden.

Bei dieser Fragestellung sollte auch die Frage nach Demokratie und Pluralismus vielleicht nicht unberücksichtigt bleiben. Sebastian Engelbrecht kommentiert im Deutschlandfunk kritisch [31]:

Es ist das Wesen der Demokratie, andere Meinungen und abweichendes persönliches Verhalten zu schützen. Minderheiten müssen mit derselben Würde, mit denselben Rechten neben der Mehrheit leben dürfen. Dieses Recht gilt auch den Impfverweigerern, die um ihre körperliche Gesundheit besorgt sind.

Aus diesen Gründen des demokratischen Ethos hat bis vor kurzem keine Politikerin, kein Politiker gewagt, die Impfpflicht als Lösung der Corona-Pandemie ins Spiel zu bringen. Die vierte Welle darf nun nicht plötzlich als Rechtfertigung für die Impfpflicht herhalten.

Was Deutschland braucht, ist ein besser ausgestattetes Gesundheitssystem, mehr Krankenhausbetten und bessere Gehälter für das Pflegepersonal. Der Wohlstand dieses Landes macht das möglich, so wie er jeden Tag die lebendige, vielfältige Demokratie möglich macht.

Sebastian Engelbrecht, Deutschlandfunk

Aus diesen Gründen des demokratischen Ethos hat bis vor Kurzem keine Politikerin, kein Politiker gewagt, die Impfpflicht als Lösung der Corona-Pandemie ins Spiel zu bringen. Die vierte Welle darf nun nicht plötzlich als Rechtfertigung für die Impfpflicht herhalten.

Was Deutschland braucht, ist ein besser ausgestattetes Gesundheitssystem, mehr Krankenhausbetten und bessere Gehälter für das Pflegepersonal. Der Wohlstand dieses Landes macht das möglich, so wie er jeden Tag die lebendige, vielfältige Demokratie möglich macht."

Eine bewusste Spaltung der Gesellschaft kann keinesfalls gesund sein. Eine bewusste Spaltung ist gerade dann kontraindiziert, wenn man dem Gesundheitsschutz der Bevölkerung und den Schutz des Gesundheitssystems die oberste Priorität zuspricht: Eigentlich sollte es eine Binsenwahrheit sein, dass eine Gesellschaft nur gemeinsam und miteinander durch eine solche Krise kommen kann. Wer (auf welcher Seite auch immer) zu einem Kampf "Wir gegen Sie" aufruft, sägt an dem Ast, auf dem alle gemeinsam sitzen und übersieht einmal mehr die Wissenschaft: je größer die Polarisierung einer Gesellschaft, desto höher die derzeitige Übersterblichkeit [32].

Im dritten und abschließenden Teil der Artikelserie wird die Impfpflicht konkreter unter die Lupe genommen und die Gedanken über die Spaltung der Gesellschaft fortgesetzt.

Redaktionelle Anmerkung: Der Absatz zur Auskunft des RKI war bei der Bearbeitung missverständlich geändert worden, Anfrage und Auskunft bezogen sich auf asymptomatisch Infizierte und zugleich Geimpfte in Deutschland.


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https://www.heise.de/-6293078

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.youtube.com/watch?v=LeIFKl-8BhI
[2] https://www.focus.de/gesundheit/coronavirus/focus-online-kolumne-von-alexander-kekule-2g-regel-ist-unsinn-weil-sie-auf-vollkommen-falscher-rki-behauptung-beruht_id_20910598.html
[3] https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(21)02243-1/fulltext#articleInformation
[4] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/129426
[5] https://www.morgenpost.de/vermischtes/article232251443/drosten-impfung-corona-urlaub-sommer.html
[6] https://blogs.bmj.com/bmj/2021/08/23/does-the-fda-think-these-data-justify-the-first-full-approval-of-a-covid-19-vaccine/
[7] https://www.welt.de/politik/deutschland/plus235208392/Virologe-Kekule-Geimpfte-glauben-sie-seien-sicher-Man-hat-sie-falsch-informiert.html
[8] https://www.heise.de/tp/features/Dies-ist-eine-politische-Entscheidung-6211168.html
[9] https://www.heise.de/tp/features/Dies-ist-eine-politische-Entscheidung-6211168.html
[10] https://www.heise.de/tp/features/2G-Der-Koenigsweg-6268124.html
[11] https://www.nzz.ch/wirtschaft/corona-2-g-regel-in-betrieben-kann-maskenpflicht-nicht-aushebeln-ld.1659038?reduced=true
[12] https://www.infosperber.ch/gesundheit/public-health/2-g-taeuscht-falsche-sicherheit-vor-3-g-mit-masken-ist-sicherer/
[13] https://www.spiegel.de/gesundheit/corona-berliner-cafe-zeigt-wie-2g-regel-in-der-gastronomie-funktioniert-a-2d012584-f25b-41a0-a871-b142ee00c27c
[14] https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/corona-pandemie-shoppen-mit-2g-ich-finde-es-tatsaechlich-entspannter-a-52d28e71-375d-4d42-9153-eb71d3a7d5ef
[15] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-impfpflicht-montgomery-100.html
[16] https://www.welt.de/wirtschaft/article235251128/Stockende-Impfkampagne-Die-Loesung-waere-so-einfach.html
[17] https://www.berliner-zeitung.de/news/vierte-welle-6300-intensivbetten-weniger-als-vor-einem-jahr-li.195297
[18] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/128476/Intensivmediziner-4-000-Intensivbetten-weniger-seit-Jahresbeginn
[19] https://www.divi.de/
[20] https://www.heise.de/tp/features/Was-wir-im-Corona-Schockraum-und-im-Corona-Newsroom-uebersehen-6273469.html
[21] https://www.divi.de/joomlatools-files/docman-files/pressemeldungen-nach-themen/qualitaetssicherung-in-der-notfallmedizin/210401-pressemeldungen-divi-zukunft-der-pflege.pdf
[22] https://taz.de/Vivantes-Mitarbeiterinnen-am-Limit/!5814014/
[23] https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2021/12/berlin-brandenburg-intensivbetten-divi-personalmangel.html
[24] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/129709/Ausbau-der-Intensivbettenreserve-gestaltet-sich-schwierig
[25] https://www.heise.de/tp/features/Polarisierung-in-der-Pandemie-Neue-Regierung-sollte-Gespraechsfaden-wieder-herstellen-6279537.html?seite=all
[26] https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/bayern-fordert-gehaltsverdopplung-fuer-intensivpfleger-a-b70adb94-446b-43a1-b068-e564c2555f1f
[27] https://www.berliner-zeitung.de/news/5000-euro-plus-x-spahn-will-spuerbaren-bonus-fuer-intensivpfleger-li.195934
[28] https://www.heise.de/tp/features/Bundestagsgutachten-Hohe-Huerden-fuer-Corona-Impfpflicht-6277807.html
[29] https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/corona-impfung-warum-wir-jetzt-eine-allgemeine-impfpflicht-brauchen-gastbeitrag-a-d2cb13b0-f879-4994-920c-905b9bf814d3
[30] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/127369/Frankreich-stellt-3-000-nicht-geimpfte-Pflegekraefte-vom-Dienst-frei
[31] https://www.deutschlandfunk.de/corona-impfpflicht-104.html
[32] https://gupea.ub.gu.se/bitstream/2077/67189/1/gupea_2077_67189_1.pdf