Böse Filme zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz

Seite 2: Das Bates-Syndrom

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Wenn man einen Film sieht, den man spontan für befremdlich, abstoßend oder sogar jugendgefährdend hält, hat man mehrere Möglichkeiten. Man kann es sich leicht machen und sagen, dass etwas abstoßend ist, weil es abstoßend ist. Ich würde das als das "Bates-Syndrom" bezeichnen. In Psycho sagt "Mrs. Bates", dass sie von ekligen Dingen angeekelt ist, weil sie eklig sind. In den IE gibt es Versatzstücke wie "Die Jugendgefährdung ist offensichtlich" - vermutlich, weil sie offensichtlich ist. Hitchcock, der ein genialer Mensch war, führt uns am Ende in den Keller von Mrs. Bates’ Haus und zeigt uns, was bei einer solchen Haltung herauskommt: eine vertrocknete Mumie. Damit sind nicht die Zensoren gemeint. Die Mumie, die da auf ihrem Stuhl sitzt und nichts mehr sehen kann, weil sie keine Augen mehr im Kopf hat, ist die Gesellschaft, die sich solche Zensoren leistet.

Psycho

Aber Psycho ist auch wieder nur so ein Horrorfilm. Was hat der mit uns zu tun? Natürlich nichts. Bestimmt war die BPjM aufrichtig darum bemüht, den antragsgemäß zu indizierenden Filmen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und herauszufinden, ob vielleicht doch mehr hinter diesen ekligen Machwerken stecken könnte, als es zunächst den Anschein hat. Das 3er-Gremium ist sogar viel progressiver, als ich gedacht hätte. Früher war es üblich, diejenigen, die für die "schöpferische Gestaltung" zuständig waren, danach zu fragen, was sie sich dabei gedacht haben. Diesen Bildungsbürgerkram wollen wir jetzt nicht mehr haben. Nur das Werk zählt und sonst nichts.

Ich stelle erschreckt fest, dass ich viel altmodischer bin als das 3er-Gremium. Viel naiver bin ich auch. Obwohl man uns seit Jahren mit brutalsten Horrorfilmen überschwemmt, halte ich es weiterhin für möglich, dass ein Film im Einzelfall nicht nur deshalb entstanden sein könnte, weil ein skrupelloser Geschäftemacher reich werden wollte, indem er den Sehnerv eines desensibilisierten Publikums mit immer schlimmeren Gewaltorgien kitzelte. Deshalb habe ich mir angehört, was die Regisseure dieser Machwerke in Interviews zu sagen haben.

Interessanterweise betonen alle, wie wichtig es ihnen war, einen Genrefilm zu drehen, der als solcher gesehen werden und nach den Regeln des Genres beurteilt werden sollte. Damit sind sie mit dem Bundesverfassungsgericht auf einer Linie, aber natürlich ist das nur eine Schutzbehauptung. Das 3er-Gremium wusste das schon vorher, weshalb es sich mit diesen Aussagen gar nicht erst beschäftigen musste. Das ist begrüßenswert, weil auf diese Weise ein vorurteilsfreies Abwägen zwischen Kunstfreiheit und Jugendschutz sichergestellt wurde ("Die Konflikte sind vielmehr durch eine Abwägung der beiden Verfassungsgüter im Einzelfall zu lösen."). Ich hingegen, der bekennende Naivling, ließ mich einlullen und hörte zu.

Kasperltheater für Erwachsene

Für Filme wie Haute tension oder Frontière(s) fallen mir gleich zwei amerikanische Vorbilder ein: Psycho und The Texas Chain Saw Massacre (nicht das durch Werbeästhetik aufgemotzte Remake, sondern das Original von 1974, das bei uns nur als Torso für Erwachsene freigegeben ist). Trotzdem sagen die Regisseure, dass sie einen spezifisch französischen bzw. europäischen Horrorfilm drehen wollten. Das ist kein Widerspruch. Hitchcock war ästhetisch stark von Fritz Lang (Das Testament des Dr. Mabuse) und F.W. Murnau (Nosferatu) beeinflusst, und die Geschichte des Horrorfilms kann man nicht erzählen, ohne das Grand Guignol zu erwähnen. Alexandre Aja und Kollegen führen nicht den amerikanischen Slasher-Film fort, sondern sie berufen sich auf eine Genre-Tradition, die in Frankreich ihren Anfang nahm.

Am 30. Mai 1887 eröffnete André Antoine, der Angestellte einer Gasfirma, am Montmartre das Théâtre Libre. Antoine war ein begeisterter Anhänger von Emile Zola und des Naturalismus. Eine Spezialität des Théâtre Libre waren die comédies rosses: Dramen, die sich vorzugsweise dem Alltag der Pariser Unterschicht und deren Sprache widmeten. Die meisten dieser Stücke waren sehr kurz. Ein Theaterabend bestand aus fünf oder sechs Einaktern, die sich keineswegs darauf beschränkten, das Dasein von Arbeitern, Wäscherinnen, Huren und Zuhältern auf naturalistische Weise zu durchleuchten. Denn Antoine war ein Freund der Abwechslung. Also gab es auch Tragödien in Versform, leichte Komödien, Dramatisierungen klassischer Literatur.

Zu Dokumentarstücken über die moderne Großstadt kam das antiklerikale, von Baudelaires Poe-Übertragungen inspirierte Kriminal- und Horrordrama. Besonders umstritten und doch typisch für das bei Antoine Gebotene war Eine Weihnachtsgeschichte (1890): Am Weihnachtsabend sucht ein hochschwangeres Bauernmädchen vergeblich einen Platz, wo sie ihr Kind zur Welt bringen kann. Immer nur abgewiesen, tötet sie schließlich in der Verzweiflung ihr Neugeborenes und wirft es den Schweinen zum Fraß vor, während die Bauern zur Christmette unterwegs sind und Weihnachtslieder singen. Reich wurde Antoine damit nicht. Ihm ging es um Aufklärung und Gesellschaftskritik, nicht um Geld. Er finanzierte sein Theater aus eigener Tasche. 1893 war er pleite.

Oscar Méténier, Antoines wichtigster Autor, suchte ein neues Haus, in dem er seine Einakter aufführen konnte. In der Rue Chaptal, einer gepflasterten Sackgasse am Montmartre, fand er die ideale Spielstätte. Das Gebäude im gotisierenden Barockstil war 1786 als Kapelle errichtet worden und der letzte Überrest eines während der Schreckensherrschaft ausgeplünderten Jansenisten-Klosters. Méténier nannte sein Etablissement "Théâtre du Grand Guignol". Einigen Quellen zufolge entschied er sich für diesen Namen, weil es eine satirische, bourgeoisiekritische Zeitschrift gleichen Titels gab. Wahrscheinlicher ist, dass sich der Name direkt auf die Puppe Guignol bezieht, die in Frankreich zum Synonym für Puppenaufführungen geworden ist wie der Kasperl in Deutschland. Grand Guignol hieße demnach nichts anderes als "Großes Puppentheater" - groß, weil Méténier einem erwachsenen Publikum eine vergrößerte (= verschärfte), von lebenden Darstellern aufgeführte Version dessen bieten wollte, woran sich die Kleinen im Kasperltheater erfreuen.

Duschmord

Im Laufe der Jahre wurden ständig neue Horrordramen gezeigt und die im Grunde sehr einfachen (aber aufwendigen) Bühnentricks perfektioniert. Wahnsinnige zerkauten ein Stück Seife, damit sie ihre Gewalttaten mit Schaum vor dem Mund begehen konnten. Wunden wurden durch vorher verborgene Gummiteile oder im richtigen Moment auf dem Körper verschmiertes Bühnenblut vorgetäuscht. Der Requisiteur verfügte über eine Sammlung von künstlichen Gliedmaßen und soll bei Metzgern und Präparatoren echte Tieraugen gekauft haben, weil diese sehr elastisch waren und effektvoll auf dem Bühnenboden aufschlugen (Augenausstechen gehörte zum festen Repertoire). Dolche mit einfahrbarer Klinge hatten Griffe, mit denen die Darsteller Blut verspritzen konnten. Das Blut (eine Mischung aus rotem Farbstoff, Glyzerin und geheimen Zutaten) war eine besondere Spezialität des Grand Guignol. Allabendlich frisch zubereitet und erhitzt, gab es dünnes, schnell fließendes Blut für neue und dickes, zähflüssiges Blut für ältere Wunden.

Making of "A l’intèrieur"

Das Publikum erlebte im Grand Guignol ein wohliges Gruseln, weil es genau wusste, dass auf der Bühne nicht wirklich getötet und verstümmelt wurde. Wie bei Zaubertricks fragte man sich nach der Gewalttat, wie es gemacht worden war. Dasselbe gilt für die Spezialeffekte im Horrorfilm. Früher gab es die Fanzines, und inzwischen sind es die Internetforen, wo darüber diskutiert wird, wie diese oder jene Illusion erzeugt wurde. Kein Making of kann auf den Mann für die Spezialeffekte verzichten, der uns in seine Trickkiste schauen lässt und erläutert, wie er jemanden verwunden oder töten ließ. Der Mann ist kein Mörder, sondern ein Maskenbildner (die Franzosen sind stolz darauf, dass sie wie das Grand Guignol ohne CGI auskommen). Schauspieler müssen im Horrorfilm oft körperliche Qualen aushalten - aber nicht, weil jemand mit der Axt oder dem Messer hinter ihnen her ist, sondern weil sie vorher stundenlang in der Maske sitzen müssen. Meistens sind diese aufwendigen Vorbereitungen ein fester Bestandteil der Werbung, die man bei uns in den Mülleimer werfen kann, wenn ein Film indiziert ist.

Jeder darf der Meinung sein, dass es krank und irgendwie gefährlich ist, wenn Leute stundenlang an einem (scheinbar) explodierenden Kopf arbeiten und andere diesen Effekt dann sehen wollen. Man kann auch zu dem Schluss kommen, dass so etwas für Jugendliche schädlich ist und dass Kinder letztlich doch die Illusion für die Wirklichkeit halten oder umgekehrt. Aber wenn man über die Wirkung von Medien spekuliert (was nicht bewiesen ist, bleibt spekulativ), muss man berücksichtigen, mit welcher Erwartungshaltung jemand ins Kino geht oder eine DVD einlegt. Mir wäre wohler, wenn irgendetwas davon in diesen Begründungen stehen würde. Das tut es nicht. Wenn man sie liest, hat man den Eindruck, dass es sich bei den indizierten Filmen um Snuff Movies handelt, in denen wirklich getötet wird.

In Météniers Grand Guignol waren die Gewaltdarstellungen nicht "selbstzweckhaft". Die einzelnen Teile eines Theaterabends waren subtil aufeinander abgestimmt. Méténier wollte gesellschaftliche Missstände anprangern und das Publikum dabei aufrütteln, indem er schockierte und die Emotionen ansprach. Deshalb war es ihm wichtig, dass es nicht nur Horror- und Kriminalstücke gab, sondern dass unterschiedliche Genres einander ablösten und sich gegenseitig intensivierten wie heiße und kalte Duschen. Jeder Einakter wirkte nicht für sich allein, sondern war Teil eines größeren, genau aufeinander abgestimmten Ganzen. Méténier stand damit in einer sehr alten Theatertradition. Sein Konzept der heißen und der kalten Duschen lässt sich auf die Harlekinade zurückführen.

Zu indizierende Filme sind zu indizieren

Die BPjM gibt zu, dass sie bei ihren Entscheidungen die künstlerische Qualität eines Films berücksichtigen muss (das Abwägen) und dass bei der Beurteilung dieser Qualität die genretypischen Merkmale eine Rolle spielen müssen, weil man Äpfel nicht mit Birnen vergleichen kann. Also muss man wenigstens ansatzweise etwas darüber wissen, in welcher Tradition so ein Genre steht, worum es gehen und was ein Regisseur oder Drehbuchautor bezwecken könnte. So verlangt es das Bundesverfassungsgericht, so verlangt es der Respekt gegenüber unseren Grundrechten und auch gegenüber den gefährdeten Betrachtern, die das gern sehen würden, was die BPjM für schädlich hält. Das schließt nicht aus, dass ein Film indiziert wird. Aber bitte am Ende eines fairen Verfahrens, das den Vorgaben des höchsten deutschen Gerichts folgt und dessen Resultat begründet wird.

Das, was bisher über das Horrorgenre gesagt wurde, war von mir. Jetzt sehen wir uns an, was der BPjM dazu einfällt. Ich beziehe mich auf die IE zu Haute tension, Frontière(s), A l’intèrieur und Eden Lake. Ohne die Deckblätter sind das 37 Seiten Text, die ich zweimal aufmerksam gelesen habe. Zum Horrorgenre allgemein habe ich in diesen 37 Seiten einen einzigen Satz gefunden (mit BPjM-typischer Wortwiederholung): "Der Horrorfilm ist eine Filmgattung des kommerziellen Unterhaltungsfilms, in der der Fortgang der äußeren Handlung von zumeist spektakulär inszenierten Verletzungs- und Gewaltszenen vorangetrieben bzw. illustriert wird." Das ist alles.

Warum muss man dann so viele Seiten füllen? Die BPjM hat sicher gut zu tun. Für zukünftige Indizierungsmaßnahmen schlage ich ein vereinfachtes Verfahren ohne rhetorische Ausschmückungen vor, das sich an folgendem argumentativen Grundgerüst orientiert:

  1. Der zu indizierende Film ist ein Horrorfilm.
  2. Horrorfilme sind Filme mit viel Gewalt.
  3. Im zu indizierenden Film gibt es noch mehr Gewalt als im Horrorfilm sonst üblich.
  4. Eine nennenswerte künstlerische Qualität konnte nicht festgestellt werden, weil es in dem Film so viel Gewalt gibt.
  5. Nach sorgfältiger Abwägung zwischen den Verfassungsgütern "Kunstfreiheit" und Jugendschutz war der zu indizierende Film zu indizieren.

Leider kann ich dem Bundesfamilienministerium, bei dem die BPjM angesiedelt ist, diesen Vorschlag nicht in Rechnung stellen, weil die Behörde bereits das Urheberrecht besitzt. Ich habe nur das schmückende Beiwerk und die Rhetorik aus den mir vorliegenden IE entfernt.

Problematisch ist allenfalls Punkt 3. Das Bundesverfassungsgericht (das sind die mit diesem auch formalen Kunstbegriff) könnte einwenden, dass da allzu subjektiv geurteilt wird. Ich möchte daher anregen, einen kühnen Befreiungsschlag zu wagen, mit dem man das ganze Verfahren auf eine objektive Grundlage stellt. Also: Man sucht ein Dutzend Horrorfilme aus (wenn man bedenkt, dass die zwei Beisitzer in so einem 3er-Gremium schon ausreichen, um den "momentanen gesellschaftlichen Wertekonsens" zu erfassen, ist das mehr als großzügig), zählt die Gewalttaten durch, stoppt ab, wie lange sie dauern und errechnet unter Berücksichtigung der Gesamtlänge des Films einen Durchschnittswert. Das wäre auch wirtschaftsfreundlich. Die Anbieter solcher Filme hätten dann Planungssicherheit. Sie wüssten vorab, wie viel Gewalt pro Film es geben darf. Das 3er-Gremium müsste nur noch überprüfen, ob die zulässige Höchstmenge überschritten wurde.

Filmanalyse per Arithmetik

Eigentlich könnte das auch gleich die Polizeiinspektion Würzburg-Ost erledigen, auf deren Hinweis ein anonymer Antragsberechtigter die Indizierung von Frontière(s) angeregt hat. Die Polizisten haben zwar, ohne ihnen zu nahe treten zu wollen, möglicherweise von Kunst keine Ahnung, aber die Anschaffung eines Taschenrechners reicht völlig aus. Der Kunstgehalt eines Werks ist nämlich umgekehrt proportional zur in diesem Werk dargestellten Gewalt. So ließen sich auch die Abwägungsfetischisten vom Bundesverfassungsgericht zufriedenstellen. Viel Gewalt = wenig Kunst = wenig Gefahr für die Kunstfreiheit durch den Jugendschutz.

In der IE zu A l’intèrieur (Seite 9) wird eine Szene erwähnt, in der etwas "in menschenunwürdiger Art und Weise sekundenlang genüsslich demonstriert" werde. Wer immer noch denkt, dass jetzt begründet wird, warum das "genüsslich" ist, hat nichts verstanden. "Genüsslich" ergibt sich aus "sekundenlang": je länger, desto genüsslicher. Aber sekundenlang war scheinbar nicht lang genug für "menschenunwürdig". Denn: "Das Gremium votierte hier dahingehend, […] dass ein lang anhaltendes, besonders drastisches und voyeuristischen Bedürfnissen dienendes Abbilden der Gewaltfolgen ebenfalls tatbestandsmäßig ist." Dies, so das Gremium, "muss insbesondere gelten", wenn der "Kampf mit dem Tode zur Schau gestellt wird".

Nicht mit dem Tod, sondern gleich "mit dem Tode". Damit ist endlich das Schlüsselwort gefallen. In Horrorfilmen geht es um Leben und Tod, und der Tod, der gefälligst in einem sterilen Krankenhauszimmer oder in einem Pflegeheim stattzufinden hat, aber jedenfalls so, dass wir damit nicht belästigt werden, ist in unserer Gesellschaft stark tabuisiert. Der Kriegsfilm hat es da leichter. Da wird zwar viel mehr getötet und gestorben, aber das zentrale Thema ist nicht der Tod, sondern der Kampf für Volk und Vaterland oder dergleichen. Dagegen hat kein Zensor etwas einzuwenden. Wenn dann noch eine Figur sagt, wie schlimm der Krieg ist, wird ein "Antikriegsfilm" daraus. Schon ist alles gut.

"Das Gremium votierte" klingt wieder toll, ist aber auch nur eine Phrase. Besonders schlimm ist für die BPjM, wenn etwas "zur Schau gestellt" wird. Da kommen die alten Ressentiments gegen die visuellen Medien generell zum Vorschein. Jede Einstellung wird nur gedreht, damit sie anschließend vom Publikum gesehen werden kann. Das ist das Wesen des Films. Ohne die Zurschaustellung gäbe es ihn nicht. Ich hätte ein besseres Gefühl bei diesen Indizierungen, wenn irgendwo in den 37 Seiten ein Hinweis darauf zu finden wäre, dass sich das Gremium dieser simplen Tatsache bewusst ist. Das wäre die Grundvoraussetzung, um Filme (und deren Wirkung) beurteilen zu können.

Echo der Wissenschaft

Noch eine Möglichkeit, sich eine Meinung über einen Film und dessen künstlerischen Wert zu bilden: Man informiert sich, was andere zu sagen haben. Zitat aus der IE zu A l’intèrieur (Seite 11):

Für die Frage, ob der künstlerische Stellenwert eines Werkes als gering einzustufen ist, hat u.a. "indizielle Bedeutung", welche Beachtung das Werk in der Fachpresse gefunden hat, das Ansehen, das er [sic] beim Publikum genießt, Echo und Wertschätzung in Kritik und Wissenschaft.

(s.a. BVerfG v. 27.11.1990, 1 BvR 402/87, BVerfGE 83, 130, 148; BVerwG v. 18.02.1998, NJW 1999, 76, 79)

Schon wieder so eine Vorgabe des Bundesverfassungsgerichts (das Bundesverwaltungsgericht ist diesmal auch dabei). Eine deutsche Behörde wie die BPjM, denkt man, wird sich wohl daran halten. Was macht sie also nun daraus?

Die Wissenschaft lässt sich gerne Zeit. Über aktuelle, zur Indizierung anstehende Filme findet man da vermutlich nichts. Da es sich aber, wie von der Behörde gleich erkannt, um Horrorfilme handelt und die Genrezugehörigkeit wichtig ist (das ist nicht mein privater Spleen, das sagen die Verfassungsrichter), könnte man nachlesen, was über dieses Genre in den letzten Jahren geschrieben wurde. Wenn man wirklich etwas finden will, entdeckt man da gleich eine ganze Menge - z.B. durch Eingabe einiger offensichtlicher Suchworte im Internet. Ich will hier exemplarisch nur ein Buch nennen, das ich ausgewählt habe, weil es von einer angesehenen Filmwissenschaftlerin stammt und nicht bei einem Schmuddelverlag erschienen ist, sondern bei zwei der besten Adressen für Filmbücher überhaupt, bei der Princeton University Press und beim British Film Institute: Carol J. Clovers Men, Women, and Chain Saws: Gender in the Modern Horror Film (1992). Ich habe es auch deshalb ausgewählt, weil es schon etwas älter und sehr leicht zu entdecken ist. Jeder, der sich zumindest oberflächlich mit der Materie beschäftigt, wird schnell auf entsprechende Hinweise stoßen. Und wer das Buch liest, versteht gleich viel besser, was die Franzosen da so treiben.

Ich will der BPjM nicht unterstellen, dass sie gar nicht erst nach wissenschaftlichen Publikationen gesucht hat. Gefunden hat sie jedenfalls nichts; oder wenn doch, steht davon nichts in den IE. Vielleicht liegt das daran, dass von den "Prüfern" keiner englische Texte lesen und verstehen kann. Das wäre unbedingt erforderlich (Grundkenntnisse in Französisch wären auch nicht schlecht, wenn man französische Filme auf ihren Kunstgehalt untersucht). Wie bereits erwähnt, verstößt man hierzulande rasch gegen den Jugendschutz, wenn man über Filme schreibt, die diese Behörde für jugendgefährdend hält. Viele tun es deshalb gar nicht erst. Das gilt auch für die Journalisten. Wenn die Behörde dann nach anderen Meinungen sucht, von fundierten Auseinandersetzungen ganz zu schweigen, kann sie nichts finden. Joseph Heller nennt das Catch-22. So stopft die Provinz die Schlupflöcher im Gartenzaun.