Bombe aus der Drogerie oder vom Balkan?
Die neuesten Theorien von Scotland Yard über die verwendeten Explosivstoffe sind höchst widersprüchlich
Das Treffen der EU-Innenminister am vergangenen Donnerstag endete mit einem Eklat. Der französische Vertreter Nicolas Sarkozy stellte sich hinterher vor die Presse und sagte über die mutmaßlichen Attentäter, "ein Teil dieses Teams" sei "schon einmal festgenommen worden". Die Sprengmaterialien seien "vom Balkan oder Osteuropa« gekommen.
Sarkozys britischer Amtskollege Charles Clarke war empört. "Herr Sarkozy war ungenau, um es höflich zu sagen ... Das ist absolut unbegründet ... Er hielt es nicht für notwendig, bis zum Ende der Diskussion zu bleiben. Vielleicht ist das sein Stil", bellte Clarke. Zum Schluss verspottete er Sarkozy: "Er ist ein großer Führer Frankreichs und ich wünsche ihm alles Gute."
Mittlerweile wird aber zumindest der erste Teil von Sarkozys Darstellung in der britischen Presse bestätigt. Demnach stießen die britischen Geheimdienste MI5 und MI6 im letzten Jahr im Rahmen der Operation Crevice auf den Namen von Mohammed Sidique Khan, verhafteten ihn aber nicht. Am 7. Juli rief die Mutter von Hasib Hussain kurz nach Bekanntwerden der Anschläge bei Scotland Yard an und meldete ihren Sohn als vermisst. Später gab sie den Beamten die Namen der Freunde, mit denen sich Hasib an jenem Tag hatte treffen wollen – und hier tauchte wieder der in der Crevice-Datei gespeicherte Khan auf. Es war diese Verbindung zwischen Hussain und Khan und Khan und Crevice, die Scotland Yard auf die Spur der vier Verdächtigen führte. Bei Crevice hatte es tatsächlich Festnahmen gegeben, worauf Sarkozy vermutlich angespielt hatte.
Auffällig war, dass kurz nach dem Streit der beiden Innenminister auch jeder Hinweis auf die Balkanspur in den Mainstreammedien verschwand. Dabei war von der bis dahin häufig zu hören gewesen. So hatte die Londoner Times mit Verweis auf Ermittler zu Anfang letzter Woche berichtet, dass der Bombenstoff "vom Balkan gekommen sein könnte". Nach Gesprächen mit britischen Kollegen hatte auch Christophe Chaboud, Leiter einer französischen Koordinationsstelle zur Terrorbekämpfung, einen entsprechenden Hinweis auf "Schmuggel, zum Beispiel vom Balkan", gestreut. Für Yossef Bodansky, den Terrorbeauftragte des US-Senats, war der Sprengstoff noch am vergangenen Mittwoch "wahrscheinlich aus Bosnien-Herzegowina" gekommen.
Seit letzten Freitag verbreitet Scotland Yard eine ganz neue Theorie, nämlich dass die Bomben auf der Basis von Azetonperoxid (APEX) oder Triacetontriperoxid (TATP) hergestellt worden ("Evil Ideology") . Die Bestandteile der Mischung könnten in jeder örtlichen Drogerie gekauft werden, etwa Abflussreiniger, Mittel zum Haarebleichen oder Nagellackentferner. Diese Art von Sprengstoff soll, obgleich Bauanleitungen im Internet kursieren, ein Hinweis aus al-Qaida sein. Damit war die Balkanspur beerdigt, das Medieninteresse gilt seither Einzelhändlern in Leeds und Hintermännern im exotischen Pakistan.
Doch einiges bleibt klärungsbedürftig. So sind APEX- bzw. TATP-Mischungen so instabil und so gefährlich, dass die Polizei beim Abtransport von Resten aus einer angeblichen konspirativen Wohnung der Viererbande das ganze Viertel absperren und sogar ein Überflugverbot verhängen mussten. Packt man so ein Zeug in den Rucksack und reist zwei Stunden durch halb London? Ja, sagt Scotland Yard, denn ein Fachmann habe das Ganze professionell zusammengebaut, und zwar der Chemiker Magdi el-Nashar. Der reiste vor den Anschlägen in sein Heimatland Ägypten und wurde inzwischen dort verhaftet und verhört. Doch eine Verbindung zu den vier Verdächtigen konnte ihm bisher nicht nachgewiesen werden, die ägyptischen Behörden – ansonsten nicht zimperlich bei der Terrorjagd - halten ihn für harmlos.
Noch am 13. Juli hatte die Londoner Times berichtet:
Spuren von Plastiksprengstoff ... sind angeblich in den Trümmern der zerstörten U-Bahn-Wagen und dem Bus gefunden worden ... Der Sprengstoff wird vor allem in den USA hergestellt, aber es gibt Beweise, dass militärischer Sprengstoff von Terroristengruppen auch aus Quellen in Kroatien und anderswo auf dem Balkan besorgt worden ist.
Der Vorteil von Plastiksprengstoff , so die Times: "Schwer zu entdecken, leicht zu verstecken, stabil", auch bei Grenzkontrollen kaum zu erschnüffeln. Demnach ist C4-Plastiksprengstoff nicht nur bei den Anschlägen 2002 auf Bali und gegen die USS Cole im Jahr 2000 verwendet worden, sondern auch vom sogenannten Schuhbomber Richard Reid, der damit am 22. Dezember 2001 eine von Paris fliegende Maschine sprengen wollte. Seltsam: Nach dem Auftritt von Sarkozy wurde auch diese Geschichte umgeschrieben: Reid hatte "diesen Stoff in seinem Schuh", meldete die FAZ am 16. Juli in Nachschrift eines Artikels der Times - und meinte damit nicht C4, sondern das APEX-Gemisch. Bei weiterer Recherche findet man dann heraus, dass Reid beide Substanzen verwendet hatte - PETN (Pentaerythrittetranitrat), den sichtigsten Bestandteil von Semtex, und einen TATP-Zünder -, aber in der aktuellen Berichterstattung wird das offensichtlich jeweils so verwendet, wie man's grade braucht.
Unabhängig vom verwendeten Sprengmaterial stellt sich noch die Frage des Zünders – für eine exakte Explosion wohl das wichtigste Teil der Bombe. Hierzu stellte die Times am 13. Juli mit Verweis auf die forensischen Untersuchungen fest: "Der Zünder war 'fast identisch' mit denen, die man in den Rucksackbomben gefunden hat, die man letztes Jahr bei den Madrider Bombenanschlägen verwendet hat." Damals kamen die Zünder aus Bosnien-Herzegowina.
Update: Offenbar handelt es sich bei dem Sprengstoff nun doch nicht um TATP, es scheint auch nicht klar zu sein, dass die Bomben selbst hergestellt wurden. Die Polizei zweifle daran und analysiere die Spuren, um welchen Sprengstoff es sich handeln könne. Das aber würde noch einige Zeit dauern. Bislang wurden auch keine Zeitzünder gefunden. So ist immer noch unklar, ob es sich um Selbstmordanschläge gehandelt hat oder nicht.
Dazu siehe auch: Die Balkan-Connection des 9/11. Von Jürgen Elsässer ist im Frühjahr das Buch "Wie der Dschihad nach Europa kam. Gotteskrieger und Geheimdienste auf dem Balkan" erschienen